Ärztinnen der ersten Generation: Annelise Wittgenstein

Im Jahr 2024 folgen wir den Spuren von zwölf bekannten Ärztinnen „der ersten Generation“. Dazu begeben wir uns an Orte in Berlin, an denen die Frauen gelebt und gewirkt haben. Im Mittelpunkt der Exkursion im November steht Annelise Wittgenstein (1890–1946).

Ärztinnen der ersten Generation

„Bloß keine Schreibtischgelehrte sein“: Annelise Wittgenstein (1890–1946)

„Dr. Annelise Wittgenstein stammt nicht, wie die meisten Dozentinnen ihrer Generation, aus Gelehrtenkreisen, deren Töchter naturgemäß am leichtesten den Weg zu dem damals ungewöhnlichen Studium fanden. Die Privatdozentin Dr. Wittgenstein stammt aus einer alten Gutsbesitzerfamilie. […] In ihrer knapp bemessenen freien Zeit spielt Dr. Wittgenstein eifrig Golf und Tennis. Sie will, um alles in der Welt, keine bloße ‚Schreibtischgelehrte‘ sein …“, so konnte man in der Serie „Weibliche Dozentenköpfe“ in der Beilage der Berliner Zeitung „Tempo“ am 14. Juli 1930 lesen. Im selben Jahr erschien der Fotoband „Unsere Zeit in 77 Frauenbildnissen“, in dem unter den „Wesentlichen Frauen der Gegenwart“ auch ein Porträt von Anneliese Wittgenstein enthalten war. Wir wollen an den Lebensweg dieser heute weitgehend vergessenen Ärztin und Wissenschaftlerin erinnern, deren Karriere 1933 abrupt endete.

Curriculum Vitae

Annelise Wittgenstein wurde am 30. Mai 1890 als Tochter von Ernst Oskar und Emma Wittgenstein in Geibsdorf, dem heutigen Gmina Siekierczyn in Polen, geboren. Die Eltern ihres Großvaters Richard Simon waren jüdischen Glaubens; er und seine Frau konvertierten aber und ließen zunächst ihre Kinder und später sich selbst evangelisch taufen.

Was der Auslöser bei Wittgenstein dafür war, Medizin zu studieren, ist nicht bekannt. Nach dem mit 19 Jahren bestandenen Lehrerinnenexamen unterrichtete sie zunächst am Pädagogium im brandenburgischen Rheinsberg. Nach eineinhalb Jahren als Lehrerin entschloss sie sich, einen der Gymnasialkurse bei der bekannten Pädagogin und Frauenrechtlerin Helene Lange in Berlin zu belegen.

Ostern 1913 erlangte sie das Abitur und begann im selben Jahr an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität mit dem Medizinstudium. Um dieses zu finanzieren, arbeitete Wittgenstein weiter als Privatlehrerin. Im Mai 1918 legte sie das medizinische Staatsexamen ab und im Juni 1919 folgten Promotion sowie Approbation. Nach eigener Aussage beschäftigte sie sich seit ihrer „Medizinalpraktikantenzeit im Sommer 1918 ausschließlich mit innerer Medizin und Neurologie.“ Das spiegelt sich auch in den späteren Forschungsarbeiten und den zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten wider, die Wittgenstein in verschiedenen medizinischen, aber auch biochemischen Fachzeitschriften publizierte.

Akademischer Werdegang

Ab Sommer 1919 war sie als planmäßige Assistentin an der III. Medizinischen Universitätsklinik und Poliklinik, damals noch in der Ziegelstraße 18/19 in Berlin, angestellt. Deren Direktor, Geheimrat Prof. Alfred Goldscheider, schlug sie später in einem persönlichen Brief an den damaligen Dekan Prof. Hermann Gocht zur Erteilung der Professur vor. Der Dekan wiederum schrieb am 31. Januar 1933 an den damaligen Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung: „Trotz des bei akademischen Lehrern wie bei Studierenden vielfach bestehenden Misstrauens gegen weibliche gelehrte Kräfte hat sich Frl. Dr. Wittgenstein als Dozentin ganz entschlossen durchgesetzt dank ihrer ernsthaften gehaltenen Persönlichkeit, ihrer wissenschaftlichen Bedeutung, ihrem ärztlichen Können, ihrer nicht zu verkennenden Lehrbegabung …“ Am 22. Dezember 1926 hatte sich Wittgenstein mit der Arbeit „Das Liquorbild in der Diagnose und Therapie der Nervensyphilie“ für Innere Medizin habilitiert.

In dem bereits zitierten Brief hatte der Dekan weiter ausgeführt: „Auch ihre ärztlich-praktischen Leistungen verdienen vollste Anerkennung. Ich verfehle schließlich nicht, hervorzuheben, dass Frl. Dr. Wittgenstein sich im Kreise ihrer Mitassistenten des besten Ansehens in kollegialer und menschlicher Hinsicht erfreut.“ Trotz dieser Fürsprache wurde der Antrag auf Beförderung Wittgensteins zur außerordentlichen Professorin am 14. März 1934 ohne weitere Erklärung abgelehnt. Über die Gründe kann mangels vorhandener Unterlagen letztlich nur spekuliert werden.

Politische Verhältnisse

Wittgenstein selbst schreibt 1946 dazu in einem Kurzlebenslauf: „Eingereicht zur Professur Winter 1932 durch Professor Goldscheider. Entscheidende Fakultätssitzung fand nicht mehr vor der nationalsozialistischen Machtergreifung statt. Sommer 1933 schwere Herzmuskelerkrankung. Niederlegen der Dozentur meinerseits. Ich hätte auch um eine längere Beurlaubung bitten können, aber ich sah für mich keine Möglichkeit der Professur unter den bestehenden politischen Verhältnissen. Wurden mir doch schon vor der Ärztekammer auf den Verdacht hin, nicht voll arisch zu sein – der Geburtsschein des Großvaters war nicht aufzutreiben – große Schwierigkeiten gemacht. Auch dann noch, als in Wien für den Bruder dieses Großvaters der arische Nachweis anerkannt war …“

Vermutlich kam sie mit ihrer freiwilligen Niederlegung der Dozentur einem späteren Entzug durch die NS-Behörden zuvor, denn formal galt sie nach den 1935 auf dem Reichsparteitag der Nationalsozialisten einstimmig verabschiedeten sogenannten Nürnberger Gesetze mit zumindest einem jüdischen Großvater als „Mischling zweiten Grades“. Wittgenstein fand eine Anstellung am Franziskus-Krankenhaus in der Berliner Burggrafenstraße und war weiterhin in ihrer ambulanten Facharztpraxis tätig.

Nach Kriegsende kam es in der sowjetischen Besatzungszone zu Bestrebungen, die nach 1933 vertriebenen Wissenschaftler zu einer Rückkehr an ihre alten Wirkungsstätten zu bewegen. In der Berliner Zeitung erschien am 29. Dezember 1945 ein entsprechender Aufruf der Zentralverwaltung für Volksbildung in der sowjetischen Besatzungszone mit der Überschrift „Gemaßregelte Dozenten sollen sich melden“.

(Zu) Späte Würdigung

Dr. med. Friedrich (Fritz) von Bergmann, damals Mitarbeiter der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung in der sowjetischen Besatzungszone und später ein Begründer sowie Kurator, Ehrenmitglied und Kanzler der Freien Universität Berlin, wandte sich im März 1946 an die Professoren Theodor Brugsch, zu dieser Zeit Ordinarius für Innere Medizin an der I. Medizinischen Klinik der Berliner Charité sowie Leiter der Hochschulabteilung in der oben genannten Zentralverwaltung, und Karl Lohmann, Biochemiker und 1945/46 kommissarischer Dekan der Medizinischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin.

Von Bergmann erinnerte daran, dass Wittgenstein weiter in Berlin arbeitete. Es sei „bei ihren wissenschaftlichen Qualitäten … zu erwägen, ob ihr der Professorentitel jetzt verliehen werden könnte und wie weit sie als Dozentin wieder an der Berliner Universität tätig sein kann …“. Lohmann lehnte diesen Vorschlag zunächst ab und begründete dies mit der dokumentierten, freiwilligen Niederlegung der Venia legendi 1934 durch Wittgenstein selbst aus gesundheitlichen Gründen. Die erforderlichen Unterlagen für die Rückgabe der Dozentur inklusive eines Fragebogens zu ihrem Verhalten während der NS-Zeit und ihrer Gesinnung reichte Wittgenstein ein. Die Beantragung der Professur durch die Fakultät erfolgte dann im November 1946.

Doch zur Rückerlangung ihrer Dozentur beziehungsweise zur Verleihung des Titels einer (außerplanmäßigen) Professorin kam es nicht mehr. Annelise Wittgenstein starb am 19. Dezember 1946 im Franziskus-Krankenhaus, der Klinik, in der sie lange gearbeitet hatte, an einer Lungenentzündung. Auf dem Sterbebett trat Wittgenstein zum römisch-katholischen Glauben über. Sie wurde auf dem St. Matthias Friedhof in Berlin-Tempelhof beigesetzt. Da in keiner Quelle eine Heirat oder Kinder Wittgensteins erwähnt werden, ist davon auszugehen, dass sie ledig starb und keine direkten Nachfahren hinterließ. Ihr Grab ist nicht erhalten, aber das Haus in der Motzstraße 30 in Berlin-Schöneberg, in dem sich ihre Praxisräume befanden.

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Quellen- und Literaturhinweise sind über die Redaktion erhältlich.

Danksagung: Wir danken den Mitarbeiterinnen des Universitätsarchivs der Humboldt-Universität zu Berlin für ihre wertvolle Unterstützung bei den Recherchen zu Annelise Wittgenstein.

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