Ärztinnen der ersten Generation: Henriette Hirschfeld-Tiburtius

Im Jahr 2024 folgen wir den Spuren von zwölf teils bekannten, teils berühmten Ärztinnen „der ersten Generation“. Dazu begeben wir uns an Orte in Berlin, an denen die Frauen gelebt und gewirkt haben. Im Mittelpunkt der Exkursion im Januar steht Henriette Hirschfeld-Tiburtius (1834–1911).

Ärztinnen der ersten Generation

Die erste deutsche Medizinstudentin an der Universität Zürich und die erste nieder gelassene Ärztin des Deutschen Kaiserreichs

„Ich mußte … an unsere erste und einzige Berliner Zahnärztin denken, an die kleine, überaus zarte und schwächliche Frau Dr. Tiburtius, die mir erst kürzlich mit so großer Geschicklichkeit einen colossalen Backzahn mittels Gasbetäubung ausgezogen hat …“, so Hedwig Dohm, deutsche Schriftstellerin und Frauenrechtlerin (Abbildung 1), 1874 in einer Replik auf Theodor von Bischoff, deutscher Anatom, Embryologe und Physiologe, der sich sehr deutlich dagegen geäußert hatte, dass Frauen Medizin studieren bzw. einen akademischen Beruf ausüben. Er schrieb 1872: „Gesetzt eine Frau besäße so viel Kraft, Sicherheit und Ruhe in ihren Bewegungen, um Zahnoperationen auszuführen, so ist das nicht ohne eine gleichzeitige Rohheit und Gefühllosigkeit zu denken, welche man dem Manne verzeiht, bei ihm nichts anderes erwartet, bei einem Weibe aber den unangenehmsten und widerwärtigsten Eindruck machen muß …“. 

„… Mädchen brauchen kein Latein …“

Henriette Pagelsen wurde am 14. Februar 1834 in Westerland auf Sylt als drittes Kind des Landpastors Daniel F. C. Pagelsen und seiner Frau Margaretha geboren. Sie wuchs in Hörnerkirchen auf dem holsteinischen Festland auf und hatte eine Kindheit, die stark von ihrem Vater beeinflusst wurde. Die Kinder besuchten keine Schule, sondern wurden von ihm zu Hause unterrichtet. Er wird als liberal denkender Mensch beschrieben, der großen Wert auf eine gute Bildung seiner Kinder legte. Allerdings folgte auch er den damals üblichen bürgerlichen Erziehungsmustern: Als Henriette gemeinsam mit ihrem Bruder heimlich Latein zu lernen begann, verbot ihr Vater ihr dies: „… Mädchen brauchen kein Latein, ihr Lebensberuf ist, zu heiraten.“

Neunzehnjährig wurde Henriette mit dem begüterten Landwirt Christian Hirschfeld verheiratet. Eine unglückliche Ehe, denn Christian Hirschfeld war Trinker, der seine Frau misshandelte und den gemeinsamen Hof herunterwirtschaftete. In einem Nachruf wird die Situation so zusammengefasst: „Endlich wurde die Ehe getrennt, und die junge Frau, mittlerweile verwaist, mittellos, an Körper und Geist fast gebrochen, fand im Hause ihrer an einen Arzt verheirateten Schwester Zuflucht und Gesundheit. Mutig ging sie nun daran, sich einen Lebensberuf zu suchen, zur Lehrerin besaß sie keine Fähigkeit, und andere Berufe standen damals, 1860, den Frauen nicht offen. Unerträgliche Zahnschmerzen, an denen sie seit ihrer Kindheit litt, brachten sie auf den Gedanken, Zahnheilkunde zu studieren, da sie sich schon oft gesagt hatte, es wäre doch bei weitem schöner, sich einer Frauenhand anzuvertrauen als einem Manne …“

Umzug und Neuorientierung

Im Jahr 1866 zog Henriette nach Berlin. Der amerikanische Zahnarzt Dr. Frank Abbott riet ihr, nach Philadelphia zu gehen, da es in Deutschland damals keine (zahn-)ärztlichen Ausbildungsmöglichkeiten gab. Zunächst rang Hirschfeld dem Kultusminister die Erlaubnis ab, nach ihrer Rückkehr auch in Preußen praktizieren zu dürfen. Dann lernte sie Englisch, eignete sich die nötigsten technischen Kenntnisse bei einem Berliner Zahnarzt an und verließ im Herbst 1867, mit 33 Jahren, Berlin in Richtung Amerika. Die Reise und das Studium wurden zum Teil vom Lette-Verein finanziert. 

Abbot hatte ihr das Pennsylvania College of Dental Surgery in Philadelphia empfohlen. Doch dort wurde ihr Antrag auf Zulassung zunächst abgelehnt. In einem Nachruf, von 1911 in der „Wiener Hausfrauen-Zeitung“ wird die Situation so beschrieben: „In Philadelphia hatte man noch nie etwas von weiblichen Zahnärzten gehört, und die Fakultät verhielt sich [daher] ablehnend. In Professor Trumann, der durch seine Frau ein Anhänger der Frauenbewegung geworden war, erwuchs der jungen Deutschen ein warmer Fürsprecher. Den Widerstand, den er fand, besiegte er, indem er drohte, sein Amt niederzulegen, und da er unentbehrlich war, fügte man sich …“.

Am Pennsylvania College of Dental Surgery angenommen, stieß Hirschfeld zunächst auf Vorurteile und Widerstände, wurde aber schließlich von ihren männlichen Kommilitonen respektiert und schloss ihr Studium nach zwei Jahren erfolgreich ab. Allerdings erleichterten ihre Erfolge andere Frauen den Zugang nicht: Die College-Leitung versuchte stattdessen zu verhindern, dass amerikanische Frauen Hirschfelds Beispiel folgten.

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Zurück in Berlin

Als erste akademisch ausgebildete deutsche Zahnärztin kehrte Hirschfeld mit dem festen Willen nach Berlin zurück, sich für das Frauenstudium einzusetzen und in der Gesellschaft dafür geeignete Kräfte zu mobilisieren. In Berliner Kollegenkreisen genoss ein „Doktor of Dental Surgery“ aus den amerikanischen Dental Colleges hohes Ansehen, selbst ohne staatliche Anerkennung, die sie zunächst nicht erhielt. Gemäß den liberalen Bestimmungen der in Preußen 1869 in Kraft getretenen neuen Gewerbeordnung konnten sich Ärztinnen und Zahnärztinnen mit einer Ausbildung im Ausland aber nun niederlassen und praktizieren – lange bevor ihnen die Zulassung zum Studium in Deutschland gewährt wurde.

Im Herbst 1869, einige Monate nach der Einführung der neuen Bestimmungen, eröffnete Hirschfeld ihr eigenes „Zahnatelier“ in der Behrenstraße 9 (Abbildung 2) im Berliner Zentrum, das hauptsächlich Frauen und Kindern vorbehalten war. „In Berlin schuf sie sich binnen kurzer Zeit eine glänzende Praxis in den besten Kreisen, und auf ihre Anregung folgten nicht nur viele Frauen ihrem Beispiele und studierten in Amerika Zahnheilkunde; sie veranlaßte auch ihre Freundinnen Emilie Lehmus und Franziska Tiburtius, in Zürich Medizin zu studieren, und diese wurden die ersten Frauenärztinnen Berlins.“ Zudem wurde sie zur Hofärztin von Kronprinzessin Victoria, der späteren „Kaiserin Friedrich“ (Abbildung 3).

Im Winter 1872 heiratete Hirschfeld den Bruder ihrer Freundin Franziska, den Stabsarzt Karl Tiburtius und fand in dieser zweiten Ehe das Glück, das ihr zuvor verwehrt geblieben war. In einer zeitgenössischen Quelle heißt es: „Doktor Henriette Tiburtius wurde ihren beiden Knaben die treueste, sorgsamste Mutter und hat auch niemals die Pflichten der Hausfrau zu erfüllen verabsäumt.“ Anders, als damals üblich, gab sie ihren Beruf nicht auf und arbeitete weiter in ihrer zahnärztlichen Praxis.

Soziales Engagement

Neben dem Beruf und ihrer Familie engagierte sich Hirschfeld-Tiburtius in vielfältiger Weise sozial. Unter anderem gründete sie gemeinsam mit anderen Frauen einen Verein zur Erziehung schulentlassener Mädchen, dessen Vorsitzende sie bis zu ihrem Tode war. Als Franziska Tiburtius und Emilie Lehmus eine „Poliklinik weiblicher Ärzte für Frauen und Kinder“ gründeten, „… errichtete sie im Anschluß an diese in ihrem Hause eine Krankenstation für arme kranke Frauen. Als Mitbegründerin des Vereines zur Hebung der Sittlichkeit, wie des Mägdehauses ‚Börse‘, war sie auch eine eifrige Vertreterin der Abstinenz.“

Im Jahr 1893 wurde Hirschfeld-Tiburtius für ihr Engagement in verschiedenen Frauenvereinen in das Hauptkomitee der deutschen Frauenabteilung zur Weltausstellung 1893 in Chicago berufen und stellte dort die Arbeit der deutschen Frauenvereine vor. Zudem war sie Mitglied des Frauenkomitees des parallel stattfindenden „World's Columbian Dental Congress“.

Letzte Jahre

Ende des Jahrhunderts, im Jahr 1899, übergab Hirschfeld-Tiburtius ihre Praxis- und Wohnräume ihrer Nichte Dr. chir. dent. Elisabeth von Widekind, die Zahnmedizin unter anderem an der University of Michigan studiert hatte. Um der Hektik der Großstadt zu entfliehen, zog sie zusammen mit ihrem Mann in eine Villa in Marienfelde. Sie kümmere sich nicht nur um ihren an einer fortschreitenden Demenz leidenden Mann, sondern engagierte sich auch weiterhin in verschiedenen karitativen Einrichtungen. 

Am 25. August 1911 starb sie, ein Jahr nach ihrem Mann, im Alter von 77 Jahren in Marienfelde, „eine der treuesten und wackersten Vorkämpferinnen der Frauenbewegung“.

Weiterführende Literatur ist bei den Verfassern erhältlich.

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