Ärztinnen der ersten Generation: Franziska Tiburtius

Im Jahr 2024 folgen wir den Spuren von zwölf bekannten Ärztinnen „der ersten Generation“. Dazu begeben wir uns an Orte in Berlin, an denen die Frauen gelebt und gewirkt haben. Im Mittelpunkt der Exkursion im März steht Franziska Tiburtius (1843–1927).

Ärztinnen der ersten Generation

Die erste niedergelassene Ärztin in Berlin

„Das Wesen des Frl. Dr. Tiburtius ist von mildem Ernst und erweckt nicht allein das größte Vertrauen der Patienten, … sondern sympathisch fühlt sich Jeder von der liebenswürdigen, bescheidenen, einfachen Art und Weise angezogen, mit der dieser weibliche Arzt Würde, echte Weiblichkeit, männliche Entschlossenheit und Selbständigkeit vereinigt …“ so charakterisierte im Jahr 1891 die Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Lina Morgenstern in ihrem dreibändigen Werk „Die Frauen des 19. Jahrhunderts. Biographische und culturhistorische Zeit- und Charaktergemälde“, die Frau, die eine der ersten Ärztinnen in Deutschland war.

Lebenslauf und Korrekturhinweis

Ein Kurzlebenslauf von Franziska Tiburtius findet sich etwa in der Deutschen Biographischen Enzyklopädie: „T. … arbeitete von 1860–70 als Erzieherin in Vorpommern und Südengland, studierte seit 1871 als erste Frau im deutschsprachigen Raum an der Univ. Zürich Medizin und wurde 1876 promoviert … Nach kurzem Volontariat an einer Dresdner Klinik eröffnete sie 1876 gemeinsam mit Emilie Rehmus [sic] in Berlin eine Praxis. Die Approbation wurde ihr verweigert; sie mußte als Heilpraktikerin firmieren. 1878 begründete sie mit Rehmus [sic] und ihrer Schwägerin Henriette T. eine Poliklinik für Frauen, aus der später die ‚Klinik für weibliche Ärzte‘ hervorging. T. veröffentlichte Erinnerungen einer Achtzigjährigen (1923, 1929).“

Natürlich kann ein solch knapper Lexikoneintrag ein Leben, das insgesamt mehr als 80 Jahre umfasste und das Franziska Tiburtius von Vorpommern über England, Zürich und Dresden schließlich nach Berlin führte, nur ungenügend beschreiben – er bedarf einiger Ergänzungen und zudem einer wichtigen Korrektur: In der „Berliner Ärzt:innen“-Ausgabe 1/24, Seite 36  wurde über Emilie Lehmus, die enge Studienfreundin und Arbeitskollegin von Franziska Tiburtius, berichtet, mit der sie ab Herbst 1876 in Berlin eine Praxis betrieb. Sie wird in dem Lexikoneintrag fälschlich als Emilie Rehmus bezeichnet. Es ist sicher ein Zufall, dass eine ähnliche Namensverballhornung bereits am Anfang ihrer Berliner Zeit schon einmal vorgekommen ist – Franziska Tiburtius berichtet darüber in ihrer Autobiografie „Erinnerungen einer Achtzigjährigen“: „Als Dr. Lehmus und ich zuerst nach Berlin kamen, freuten sich die Witzblätter: Der 'Kladderadatsch' brachte eine reizende Darstellung der Ereignisse in der Klinik der weiblichen Ärzte, Dr. Romulus und Dr. Remus, die sich natürlich beide in den gleichen Patienten verlieben und in bittere Feindschaft zu einander geraten. Es erwies sich als vorzügliche Reklame …“

Persönlichkeit

Zehn Jahre vor dem Erscheinen der Lebenserinnerungen, anlässlich des 70. Geburtstags von Franziska Tiburtius, hatte es sich Agnes Bluhm, eine ihrer jüngeren Kolleginnen, zur Aufgabe gemacht, nicht nur auf deren Lebensstationen, sondern auch auf wesentliche Charaktereigenschaften einzugehen und die Persönlichkeit Franziska Tiburtius' quasi tiefenpsychologisch auszuloten.

Natürlich muss dafür zunächst auf die Kindheit eingegangen werden: Franziska Tiburtius wurde am 24. Januar 1843 als neuntes letztes Kind eines Gutspächters und einer Pfarrerstochter in Bisdamitz unweit Stubbenkammer auf der Ostseeinsel Rügen geboren. Drei ihrer Brüder starben früh. Mit ihrem Bruder Karl verband sie „seit jungen Tagen eine herzliche Freundschaft“. Mit 12 Jahren verlor sie ihren Vater; die Mutter lebte dann mit den neun Kindern in Stralsund, wo Franziska eine private Mädchenschule besuchte. Mit 17 Jahren verließ sie den mütterlichen Haushalt, wohl auch, um das „häusliche Budget zu entlasten“. Sie arbeitete zehn Jahre lang als Gouvernante und Erzieherin, zunächst in zwei Familien des pommerschen Landadels, dann ein Jahr in England. Bevor sie nach England ging, um „ihre Weltanschauung zu erweitern und gründliche Kenntnisse im Englischen zu erhalten“, legte sie 1868 in Stralsund das Lehrerinnenexamen ab.

Revolutionärer Berufswechsel

Geplant war, dort nach ihrer Rückkehr von den britischen Inseln eine Mädchenschule einzurichten oder zu übernehmen. Aber der schon erwähnte Bruder Karl Tiburtius, Militär-/Arzt und Schriftsteller, war mit diesem Vorhaben, wie Franziska Tiburtius in ihren Lebenserinnerungen schreibt, „nicht recht einverstanden; er glaubte in mir eine gewisse Befähigung für den ärztlichen Beruf zu entdecken, und schon bevor ich nach England ging, hatte er versucht, mir diesen Gedanken nahezulegen […] Wir beschlossen, daß ich … zum Studium ins Ausland gehen sollte. Wie war mein Bruder auf den Gedanken gekommen?

Vielleicht war auch bei ihm der Anstoß durch eine Frau gekommen; er war befreundet mit der Frau Henriette Hirschfeld, dem ersten weiblichen Zahnarzt in Berlin; als junge vermögende Witwe war sie Mitte der sechziger Jahre nach Amerika gegangen, hatte dort Zahnheilkunde studiert und in Berlin sich eine Existenz gegründet. – Ich will hier gleich vorwegnehmen, daß diese Freundschaft später zu einer glücklichen Ehe führte; 31 Jahre lang habe ich später mit meinem Bruder du meiner Schwägerin Schulter an Schulter im Berufsleben und in einer gemeinsamen Häuslichkeit gestanden, es waren glückliche Jahre …“

Die bereits erwähnte Agnes Bluhm betont die „konservative Natur“ von Franziska Tiburtius und fragt sich, was sie wohl „zu jenem revolutionären Berufswechsel getrieben hat“. Neben der Motivation durch den Bruder und die Schwägerin muss demnach „noch ein anderes in ihr selbst liegendes Moment wirksam gewesen sein …; denn Frauen wie Franziska Tiburtius lassen sich nicht zu einem Berufswechsel überreden, und um so weniger, wenn es sich um die Aufgabe einer Tätigkeit handelt, die ihren Neigungen entspricht. […] Wer ein Vergnügen darin findet, menschliche Charaktere auf knappe Formeln zu bringen, der könnte Franziska Tiburtius nicht besser charakterisieren als durch den kategorischen Imperativ.“

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Frauenstudium

In Deutschland war 1871 ein Medizinstudium für Frauen (noch) nicht möglich, sodass Franziska Tiburtius in Zürich studieren musste, wo sie wiederum eine der ersten deutschen Studentinnen war.

Arnold Dodel-Port, Botanik-Professor an der Züricher Universität, beschreibt 1889 die Anfänge des „Frauenstudiums“ in Zürich: „Als im Wintersemester 1864/65 in der [sic] Hörsälen der Züricher Universität zum ersten Male eine junge Dame als regelmäßige Hörerin zu sehen war, da machte diese eine Person in den akademischen Kreisen sowohl, als auch draußen im 'Philisterland' mehr Aufsehen als zehn neue Professoren und doppelt so viele Privatdozenten vermocht haben würden. Eine junge Dame mitten unter Studenten, zu Füssen des Katheders sitzend, ja sogar am Seciertische präparierend! – das war unerhört. Nun kam im folgenden Semester sogar eine zweite dazu, und im Winter 1867/68 waren der Verwegenen sogar 3, im Sommer darauf 5, wieder ein Semester später 8, dann 9, im Wintersemester 1869/70 waren schon 14, im folgenden Sommer 16, dann 22, 19 […] Im Winter 1870/71 sandten uns Österreich und Deutschland die ersten ihrer studierenden Töchter, welche, seither mit schwankender Frequenz beim Frauenstudium vertreten blieben …“

Zwei schweizerische Doctores med.

Nach fünfjährigem Studium wurde Franziska Tiburtius im Frühjahr 1976 in Zürich zum Dr. med. promoviert, legte aber das Staatsexamen nicht ab in der Hoffnung, dass man ihr und ihrer schon erwähnten Kommilitonin Emilie Lehmus dies nach ihrer Rückkehr nach Deutschland gestatten würde – diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Als sie Ende des Jahres 1876 nach Berlin kam, um dort gleichzeitig mit Lehmus eine ärztliche Praxis zu eröffnen, war das wieder ein großes Wagnis. Zwar konnte man ihr die Praxisausübung nicht untersagen, da diese nach der 1876 verabschiedeten preußischen Gewerbeordnung an keinen besonderen Befähigungsnachweis gebunden war, aber gesetzlich wurden die beiden schweizerischen Doctores med. nicht den Ärzten, sondern den Kurpfuschern gleichgestellt. Ein weiterer Meilenstein war 1877 die Eröffnung der „Poliklinik weiblicher Ärzte für Frauen“ in der Alten Schönhauser Straße in drei Räumen einer Hinterhofwohnung, die Franziska Tiburtius und Emilie Lehmus vom Brauereibesitzer Bötzow kostenfrei zur Verfügung gestellt wurde.

31 Jahre lang, bis 1907, ist Franziska Tiburtius in Berlin ärztlich tätig gewesen, hat Anfeindungen, Kränkungen und Denunziationen einiger ärztlicher Kollegen überstanden und wurde zu einer allseits anerkannten, von Patientinnen aller Schichten und Klassen gesuchten Ärztin. Agnes Bluhm schreibt in ihrer Laudatio zu Tiburtius' 70. Geburtstag, dass ihr Name für die bürgerliche Frauenbewegung „ein Markstein“ gewesen sei, „trotz dem sie selbst nichts weniger als Frauenrechtlerin ist. Die mit Agitation verbundenen unerquicklichen Unvermeidlichkeiten, schon das laute, allzu deutliche Worten gehen ihr stark contre coeur und das Brechen mit Althergebrachtem wird von ihr geradezu schmerzhaft empfunden ...“

Dennoch: „Es hat ein guter Stern über der deutschen Frauenbewegung gestanden, als Franziska Tiburtius und Emilie Lehmus sich als erste Vertreterin eines akademische Bildung erfordernden Berufes in Deutschland niederließen.“

Weiterführende Literatur ist bei den Verfassern erhältlich.

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