Anna Freud (1895–1982)
Auch wenn Anna Freud keine Ärztin war und nie in Berlin gewirkt hat, gibt es einen „Berlin-Bezug“. Denn – mit dieser Feststellung beginnt Christfried Tögel sein Buch „Freud und Berlin“ – „In keiner Stadt, mit Ausnahme Wiens und Londons, hat Freud so viel Zeit verbracht wie in Berlin …“ Und dies gilt wohl auch für seine jüngste Tochter, die ihn häufig auf seinen Reisen begleitete.
Anna Freud verwaltete, behütete und verbreitete nicht nur das Werk ihres Vaters, insbesondere nach dessen Tod, sie schuf gleichzeitig durch die Systematisierung und Weiterentwicklung der Kinderpsychoanalyse eine eigenständige Therapieform. In einer Rezension ihrer „Einführung in die Technik der Kinderanalyse“ aus dem Jahre 1927 heißt es: „In diesem … Büchlein erweist sich die Verfasserin als echte Tochter ihres Vaters. Ihr Stil ist klar, die Sprache sachlich, der Aufbau logisch. […] Die Schüler Freuds, die oft päpstlicher sind als ihr Meister […] mögen die Aufforderung der Verfasserin beherzigen; in der bisweilen modifizierten Anwendung der psychoanalytischen Methode keine Verbrechen sehen. ‚Man muss nur wissen, was man tut.‘ …“
Es ist nicht möglich, hier den gesamten Lebenslauf Anna Freuds, ihre großen Verdienste um die (Kinder- und Jugend-)Psychoanalyse, ihr soziales Engagement, die von ihr auf den Weg gebrachten pädagogischen Projekte und ihr schriftstellerisches Werk zu würdigen. Hierfür verweisen wir auf die zahlreichen Nachrufe und biografischen Publikationen, die seit ihrem Tod in London am 9. Oktober 1982 gedruckt wurden und in den vergangenen Jahren auch online erschienen sind.
Wenig bekannt ist, dass Anna Freud seit ihrer frühen Jugend auch literarische Ambitionen hatte. Deshalb sei zumindest auf ein Buch besonders hingewiesen, auf die von Brigitte Spreitzer herausgegebenen, eingeleiteten und kommentierten Prosatexte, Lyrikübersetzungen und eigenen Gedichte Anna Freuds. Die literarischen Texte sind mit dieser verdienstvollen Edition erstmals vollständig einem breiteren Publikum zugänglich gemacht worden. Dieser Artikel beginnt und schließt mit je einer Kostprobe aus einem Gedicht bzw. einem kurzen Prosatext Anna Freuds. Beide entstanden, als sie Mitte 20 war.
Von Wien nach Berlin
Anna Freud wurde am 3. Dezember 1895 in Wien in der Wohnung Bergstraße 19 als sechstes Kind des Ehepaars Freud geboren. Der Vater schreibt noch am selben Tag an seinen Freund Wilhelm Fließ in Berlin: „Liebster Wilhelm! Wenn es ein Sohn gewesen wäre, hätte ich Dir telegraphisch Nachricht gegeben, denn er hätte Deinen Namen getragen. Da es ein Töchterchen namens Anna geworden ist, kommt es bei Euch verspätet zur Vorstellung. Es hat sich heute um 3 1/4h in die Ordination gedrängt, scheint ein nettes und komplettes Frauenzimmerchen zu sein …“. Besuche bei dem Hals- und Nasenspezialisten Wilhelm Fließ waren bis 1902 der wichtigste Grund für Freud, nach Berlin zu reisen. Beide trafen sich in regelmäßigen Abständen und tauschten sich in einem teilweise erhaltenen, umfangreichen Briefwechsel über Persönliches, vor allem aber über ihre wissenschaftlichen Projekte und Ideen aus.
Mitte der 1920er-Jahre wohnten dann zwölf Mitglieder der Familie Freud in Berlin. Um weder seinen Kollegen und Schülern noch seinen Verwandten einen Grund für Eifersüchteleien wegen der Gastgeberschaft zu liefern, wohnte Freud möglichst immer im Sanatorium Schloss Tegel, wo von Dr. Ernst Simmel ab 1927 ein „Psychoanalytisches Institut“ betrieben wurde.
Ab 1928 gab es einen weiteren, allerdings unschönen Grund für Sigmund Freud, nach Berlin zu kommen – er stellte sich im August des Jahres zum ersten Mal bei Prof. Dr. Hermann Schröder, dem damaligen Direktor der Berliner Universitäts-Zahnklinik, vor, weil ihn sein Wiener Arzt nicht von seinem „Prothesenelend“ hatte erlösen können.
Sieh nicht genau – muß ich als Rat dir geben – womit man deine Wünsche dir erfüllt. Und bleibt dir manche Sehnsucht ungestillt, so staune nicht. Wir nennen das das Leben.
Unterstützung des Vaters
Nachdem 1923 Freuds Gaumenkrebserkrankung entdeckt, histologisch nachgewiesen und klinisch relevant wurde, war es seine Tochter Anna, die zu seiner wichtigsten Pflegerin wurde. Sie war als Einzige imstande, ihm beim Einsetzen der Gaumenprothese zu helfen, die dann jeweils in Berlin in wochenlangen Prozeduren angepasst und verändert wurde. Insgesamt war Sigmund gemeinsam mit Anna Freud zwischen August 1928 und Juli 1930 mehr als ein halbes Jahr in Berlin, wobei sie gemeinsam im Ärztetrakt der bereits erwähnten Klinik in Berlin-Tegel wohnten.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Anna Freud bereits das Lehrerinnenexamen abgelegt, war bis zum Ende des Schuljahres 1919/20 als Lehrerin am Wiener Cottage-Lyzeum tätig gewesen und hatte sich anschließend konsequent und engagiert in Richtung der Psychoanalyse orientiert. Im Jahr 1923 gründete sie ihre eigene psychoanalytische Praxis. Wegen seiner durch die Krebserkrankung eingeschränkten sprachlichen Kommunikationsmöglichkeiten übernahm Anna Freud nach und nach die öffentlichen Aufgaben ihres Vaters, verlas etwa seine Vorträge auf Kongressen und nahm 1930 den Goethepreis der Stadt Frankfurt am Main für ihn entgegen.
Im Eintrag zu Anna Freud im Online-Portal „Neue Deutsche Biographie“ wird resümiert: „Paradoxerweise legte gerade der feministische Blick Freud auf die Rolle der Vatertochterest und trug seit den 1970er-Jahren dazu bei, dass ihre Verdienste um die psychoanalytische Theorieentwicklung und Forschung, die Wegbereitung zur Erforschung der Geschichte der Psychoanalyse und ihr bahnbrechendes Wirken auf dem Gebiet einer Praxeologie der Psychoanalyse mit sozialpolitischem und sozialreformerischem Engagement zum Teil bis heute unterschätzt werden ….“. In Berlin trägt eine allgemein- und berufsbildende Schule ihren Namen.
Zum Weiterlesen
Anna Freud
Gedichte – Prosa – Übersetzungen
Herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Brigitte Spreitzer
Böhlau Verlag, 2014
Preis: 39 Euro
Link zum Buch: Anna Freud: Gedichte. Prosa. Übersetzungen
Über folgende Ärztinnen berichten wir im Jahr 2024:
- Januar: Henriette Hirschfeld-Tiburtius
- Februar: Emilie Lehmus
- Franziska Tiburtius
- April: Lydia Rabinowitsch-Kempner
- Mai: Hermine Heusler-Edenhuizen
- Juni: Rahel Hirsch
- Juli: Rhoda Erdmann
- August: Karen Horney
- September: Käte Frankenthal
- Oktober: Else Weil
- November: Anneliese Wittgenstein
- Dezember: Anna Freud