Frauenärztin, Sozialreformerin, Eheberaterin
„Wir lernen in der Schule Geschichte und Geographie, wir lernen Buchführung, Stenographie oder ein Handwerk, wir lernen im Elternhaus kochen und flicken, Rad- und Autofahren, gute und schlechte Manieren, Sauberkeit und Hygiene, aber von der größten Aufgabe, die uns im Leben bevorsteht, nämlich der Elternschaft, wissen wir im Allgemeinen sehr wenig.“ Dieses Zitat stammt von Anne-Marie Durand-Wever, einer deutschen Frauenärztin und Mitbegründerin der heutigen Pro Familia. Sie schrieb diese Worte, nachdem sie bereits langjährige Erfahrungen in der Beratung zu Ehe- und Familienfragen gesammelt hatte. Aus ihrer Sicht bestand die ärztliche Aufgabe unter anderem darin, sowohl Frauen als auch Männer über die Möglichkeiten der Empfängnisverhütung und Familienplanung zu informieren und ihnen zu einer „bewussten Mutterschaft“ beziehungsweise einer „verantwortungsvollen Elternschaft“ zu verhelfen. Dies umfasste auch die Auseinandersetzung mit dem Thema Schwangerschaftsabbruch und dessen rechtlichen Folgen. Zeit ihres Lebens setzte sie sich zunächst für eine Abschaffung, dann für eine Reform des § 218 StGB ein.
Kindheit, Jugend, Studium und Familie
Anne-Marie Durand-Wever, geborene Wever, stammt aus einer gebildeten und gesellschaftlich aktiven Familie. Sie wurde am 30. Oktober 1889 in Paris geboren. Ihr Vater Walther Georg Wever (1859–1922), ein Jurist und Diplomat, war zu dieser Zeit als Attaché an der Deutschen Botschaft in Paris tätig. Ihre Mutter war Annemarie von Harbou (1860–1940). Aufgrund der beruflichen Verpflichtungen ihres Vaters verbrachte Anne-Marie Wever ihre Kindheit und Jugend in Bulgarien, Rumänien, Brasilien und den USA. Diese Erfahrungen beeinflussten ihre Lebenseinstellung und ihre Interessen, nicht zuletzt an internationalen Entwicklungen. Bis zu ihrem elften Lebensjahr erhielt Anne-Marie Wever zunächst Privatunterricht von einer Erzieherin. Später besuchte sie in Chicago eine Schule, vergleichbar mit dem deutschen Realgymnasium, und schloss diese 1907 ab.
Nach ihrem Schulabschluss begann Anne-Marie Wever zunächst in Chicago 1907 ein Studium der Physik und Chemie und erwarb den Bachelor of Science. Dieser Abschluss führte dazu, dass ihr später in Deutschland das Abitur und zwei Semester des Medizinstudiums anerkannt wurden. 1911 kehrte sie nach Deutschland zurück und immatrikulierte sich an der Universität in Marburg für das Studium der Medizin. Während die (angehenden) Ärztinnen der sogenannten ersten Generation ihr Medizinstudium noch an Universitäten im Ausland, vor allem in der Schweiz, absolvieren und um die Anerkennung ihrer Approbation beziehungsweise eine „Ersatzleistung“ in Deutschland kämpfen mussten, wurden Ärztinnen der zweiten Generation seit 1899/1900 in den meisten deutschen Ländern zum Medizinstudium zugelassen. Anne-Marie Wever bestand im Frühjahr 1913 in Marburg das Physikum und setzte ihr Medizinstudium in Straßburg und München fort, wo sie am 30. Mai 1915 ihre Approbation erhielt. Im Jahr 1916 heiratete sie in München den Architekten Wilhelm Durand (1885–1960) und trug seitdem einen Doppelnamen. Das Paar bekam zwei Kinder. Ihr erstes Kind, Ernst-August Durand-Wever, wurde 1917 geboren, unmittelbar nachdem Anne-Marie Durand-Wever ihre Dissertation verteidigt hatte. Ihr zweites Kind, Anne-Marie, kam 1924 zur Welt.
Frauenärztin, Sozialreformerin, Eheberaterin: Anne-Marie Durand-Wever
Berufliche Karriere und Kampf gegen den § 218
Nach ihrer Promotion arbeitete Durand-Wever mehrere Jahre als Assistenzärztin in Frauenkliniken in München. Während dieser Zeit wurde sie vermutlich auch mit den gravierenden Folgen des seit 1871 gültigen § 218 des Strafgesetzbuches (StGB) konfrontiert. Da Abtreibungen strafrechtlich verboten waren, mussten viele Frauen auf illegale und unsichere Methoden zurückgreifen, um eine Schwangerschaft zu beenden. Dies konnte zu schweren Komplikationen, Infektionen und auch zum Tod führen. Schätzungen zufolge starben zu dieser Zeit jährlich bis zu 10.000 Frauen an den Folgen unsachgemäßer Abtreibungen. Das Wissen um diese Situation führte wohl zu Durand-Wevers lebenslangem Engagement für Sexualaufklärung und Familienplanung.
Die Familie Durand-Wever zog 1927 nach Berlin in die Meinekestraße 26 in Berlin-Charlottenburg. Dort eröffnete Durand-Wever ihre eigene, bald gut frequentierte gynäkologische Privatpraxis. Im Jahr 1928 übernahm sie zusätzlich die Leitung einer „Vertrauensstelle für Verlobte und Eheleute“ in der Goethestraße 23 in Berlin-Charlottenburg. „Als beruflich erfolgreiche, ökonomisch unabhängige Frau, die auch verheiratet und Mutter zweier Kinder war, entsprach sie dem emanzipierten Frauenbild der zwanziger Jahre.“
Ehrenamt und Engagement
Durand-Wever engagierte sich ihr Leben lang ehrenamtlich in zahlreichen Organisationen. So war sie von Beginn an im Jahr 1924 gegründeten „Bund Deutscher Ärztinnen“ (BDA) aktiv. Der BDA grenzte sich bewusst von den bestehenden, männlich dominierten ärztlichen Berufsverbänden ab. Durand-Wever war Mitglied des Vorstandes.
In den 1920er Jahren setzte sie sich intensiv für die Streichung des § 218 StGB ein und unterzeichnete 1930 gemeinsam mit 355 anderen Berliner Ärztinnen eine Petition zur Reform des Abtreibungsrechts und zur Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Als Ärztin vertrat Durand-Wever die weiblichen Kolleginnen im „Arbeitskreis für bewusste Elternschaft“. Sie gründete den „Überparteilichen Frauenbund zur Reform der Sexual-Gesetzgebung“ und leitete diesen.
Ihre wissenschaftlichen Arbeiten und ihre populärwissenschaftlichen Bücher, darunter „Ehe- und Erziehungsberatung“ (Berlin 1931), „Die Verhütung der Schwangerschaft“ (Hamburg 1931) „Die gesunde Frau wird Mutter“ (ohne bekanntes Erscheinungsjahr), „Ein Kind wird erwartet“ (Dresden 1936), „Die reife Frau“ (Berlin 1937), „Bewusste Mutterschaft durch Geburtenregelung“ (Rudolstadt 1947) und „Sagt uns die Wahrheit“ (Berlin 1959) waren Informationsschriften für Laien, insbesondere für Frauen und Paare. 1933 wurde die Schrift „Die Verhütung der Schwangerschaft“ unter dem Titel „Rassen-Hygiene; Sterilisation und Nachkommenschaftsbeschränkung“ neu aufgelegt. Es ist nicht überliefert, wie Durand-Wever zu dieser Titeländerung stand.
Während der Zeit des Nationalsozialismus praktizierte und beriet sie in ihrer Praxis weiter. Sie war jedoch nicht mehr politisch aktiv und publizierte in dieser Zeit auch nicht. Ihre Bücher wurden als „schädlich“ eingestuft, markiert und sollten vernichtet werden. Zusätzlich arbeitete Durand-Wever während der alliierten Bombenangriffe auf Berlin bis Mai 1945 in einer Luftschutzrettungsstelle. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm sie ihre Tätigkeit wieder auf. Sie fand ihre Praxis zerstört vor und eröffnete im Juni 1945 eine neue Praxis in der Ansbacher Straße, die sie bis 1968 betrieb.
Im Jahr 1945 setzte sie sich im „Zentralen Frauenausschuss“ für die Änderung des § 218 StGB ein. Harmsen schrieb 1970 in seinem Nachruf auf Durand-Wever im Deutschen Ärzteblatt, ihr Einsatz habe dazu geführt, dass neben der medizinischen Indikation auch der soziale Aspekt beim Schwangerschaftsabbruch berücksichtigt werde.
Der „Zentrale Frauenausschuss“ war eine Organisation, die sich zum Ziel gesetzt hatte, das Elend der Nachkriegszeit zu verringern und den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft zu unterstützen. Die Frauenausschüsse der damals noch nicht gegründeten DDR vereinigten sich 1947 im Demokratischen Frauenbund Deutschlands (DFD). Die in Westberlin lebende Durand-Wever wurde 1947 zur ersten Vorsitzenden des DFD gewählt. Im April 1948 zog sie sich aus „gesundheitlichen Gründe“ aus dieser Funktion wieder zurück, als der dominierende politische Einfluss der SED immer deutlicher wurde.
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Mitbegründerin von Pro Familia
Im Jahr 1952 war Durand-Wever schließlich eine der Mitbegründerinnen des deutschen Zweiges der „International Planned Parenthood Federation“ (IPPF), einer Organisation, die sich für Familienplanung und Sexualpädagogik einsetzt. Dieser deutsche Zweig wurde unter dem Namen „Pro Familia, Deutsche Gesellschaft für Ehe und Familie“ (heute „Pro Familia, Deutsche Gesellschaft für Familienplanung, Sexualpädagogik und Sexualberatung“) gegründet. Dies geschah zu einer Zeit, in der Aufklärung zu Sexualität, Verhütung und Familienplanung in Deutschland noch stark tabuisiert wurde.
Durand-Wever wirkte fast zehn Jahre lang ehrenamtlich in der Geschäftsleitung, bis die Geschäftsstelle von Kassel nach Frankfurt am Main verlegt wurde. Von 1959 an blieb Durand-Wever bis ins hohe Alter Ehrenpräsidentin von Pro Familia. In den 1960er Jahren zog Durand-Wever, gesundheitlich angeschlagen, zu ihrem Sohn nach Overath-Heiligenhaus bei Köln, wo sie ihre letzten Lebensjahre verbrachte. Dort starb sie am 14. September 1970.
Abschließend sei der letzte Absatz des Nachrufs auf Durand-Wever im Deutschen Ärzteblatt vom 10. Oktober 1970 zitiert: „Die deutsche Ärzteschaft verlor in Dr. Anne-Marie Durand-Wever eine der letzten Vertreterinnen der ersten deutschen Ärztinnengeneration; ihr Patienten trauern um eine bis zum letzten Einsatz bereite Helferin. Die deutsche und die internationale Bewegung für [die] Durchsetzung des Menschenrechtes der Familienplanung wird immer dieser liebenswerten Vorkämpferin gedenken …“
Die Quellen- und Literaturhinweise wurden aus Gründen der Lesbarkeit entfernt. Sie sind über die Redaktion erhältlich.
Über folgende Ärztinnen berichten wir im Jahr 2025:
- Januar: Ingeborg Syllm-Rapoport
- März: Edith Peritz
- Mai: Leonore Ballowitz
- Juli: Laura Turnau
- September: Else Knake
- November: Anne-Marie Durand-Wever