Per aspera ad astra*
„An einem kalten Februartag 1952 kamen wir in Berlin auf dem Bahnhof Friedrichstraße an – mein Mann, Mitja Samuel Rapoport, und ich, jeder zwei unserer Kinder von ein bis vier Jahren an der Hand oder auf dem Arm und umgeben von Habseligkeiten, die wir aus der Emigration mitgebracht hatten. […] Vierzehn Jahre war es her, seit ich Deutschland verlassen hatte. 1938 emigrierte ich aus Hamburg in die USA. Ich stamme aus einer sogenannten Mischlingsehe und wurde mit meinem sieben Jahre jüngeren Bruder von unserer jüdischen Mutter, die Klavierlehrerin war, aufgezogen …“, begann Ingeborg Syllm-Rapoport in den 1980er-Jahren einen Buchbeitrag. Die letztlich von den Nationalsozialisten erzwungene Auswanderung in die USA und die spätere, wiederum durch äußere – politische – Zwänge motivierte Remigration nach Europa und – als „dritte Wahl“ – die Rückkehr nach Berlin, in die junge DDR, waren jeweils mit einem völligen „Abbruch und Neubeginn“ verbunden.
Ein Leben in wenigen Worten
Syllm-Rapoports Lebensweg hat ihr direkter Nachfolger, Prof. Dr. med. Ernst Ludwig Grauel, in seiner Laudatio zu ihrem 70. Geburtstag in wenigen Worten so zusammengefasst: „Geboren am 2. September 1912 in der damaligen deutschen Kolonie [Kamerun], aufgewachsen in Hamburg, dort Studium der Medizin von 1932 bis 1937. 1938 bis 1950 Exil in den USA. Erneut Studium. Ab 1942 zunächst Assistentin an der Harriet-Lane-Kinderklinik der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore, dann an der Universitätskinderklinik in Cincinnati. 1951 Rückkehr nach Europa, nach kurzem Aufenthalt in Österreich dann Berlin: Oberärztin an der Kinderklinik des Hufelandkrankenhauses in Berlin-Buch, 1953 bis 1957 Aspirantur, 1959 Habilitation, 1960 Dozentur, 1964 ordentlicher Professor für Kinderheilkunde, 1969 bis 1973 Leitung und Formierung des Forschungsprojekts Perinatologie, 1970 Gründung der Abteilung Neonatologie und deren Leiterin, 1973 Emeritierung, Rückkehr ins Labor.“
Die Person Ingeborg Syllm-Rapoport beschreibt Grauel so: „Sie ist ein offener, warmherziger, ständig hilfsbereiter Mensch. Für viele ihr zum Teil fast fremde Menschen hat sie sich in den verschiedensten Angelegenheiten immer wieder eingesetzt, Sorgen gemacht, Zeit gehabt.“ Ihr zweiter prominenter Schüler, Prof. Dr. med. Roland R. Wauer, lobte 2013 zudem ihre „kluge Toleranz“: „Ingeborg Rapoport stand zu ihren sozialistischen Idealen und versuchte selbstverständlich, ihre Mitarbeiter dafür zu gewinnen. Sie war aber nicht nachtragend, wenn man ihren Werbungen dafür widerstand.“
Studium und Promotion
Für ihren Wunsch, Medizin zu studieren, sparte Syllm ab ihrem dreizehnten Lebensjahr Geld, das sie sich durch Nachhilfeunterricht bei Kindern wohlhabender Eltern verdiente. „Ich hätte mir jedoch nie genug Geld ersparen können, und mein Wunsch, Arzt zu werden, wäre unerfüllt geblieben, wenn mir nicht eine herzensgute Lehrerin ein Darlehen gegeben hätte – auch dann noch, als ich schon mit gelber (Juden kennzeichnender) Studentenkarte studierte.“
... das Fach Geburtshilfe war mir zu eng, und ich fühlte auch, dass ich nicht das chirurgische Temperament für schnelle Entscheidungen, sondern mehr das Verlangen nach gründlicher Analyse hatte.
Nach einem Erlass des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 15. April 1937 durften Jüdinnen oder Juden deutscher Staatsangehörigkeit nicht mehr promovieren. Die Promotion von „Mischlingen“ war grundsätzlich zulässig. Da jedoch „in Zweifelsfällen“ die Entscheidung des Ministeriums eingeholt werden musste, blieb auch hier noch genügend Spielraum für eine Ablehnung. Die Bemühungen ihres Doktorvaters Prof. Dr. med. Rudolf Degkwitz, eine solche „Promotionserlaubnis“ zu erhalten, scheiterten auch bei Syllms. Erst 77 Jahre später überreichte ihr das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) nach einer mit Bravour bestandenen Dissertationsprüfung in einer feierlichen Zeremonie die Promotionsurkunde – auch als Wiedergutmachung. Und die 102-Jährige war nicht nur stolz darauf, sie verstand dies auch als eine überpersönliche politische Tat: „Ich habe es für die Opfer gemacht“.
Ingeborg Syllm-Rapoport: Ein Leben
Erzwungene Emigration und Neuanfang in der DDR
In seiner Laudatio zu Syllm-Rapoports 70. Geburtstag berichtet Grauel weiter: „Als Antifaschist und Halbjude mußte sie 1938 wegen der drohenden Verfolgungen durch die Nazis Deutschland verlassen. […] Ihr Antifaschismus war noch begründet in einem eher religiös bestimmten Humanismus“. Albert Schweitzers Spital im afrikanischen Lambarene erschien ihr damals die einzige Möglichkeit, echtes Arzttum zu verwirklichen. Das stand auch mit ihrer christlichen Weltanschauung in Einklang. Die Ablehnung ihrer Bewerbung durch Schweitzer traf Syllm dennoch nicht sehr hart. Sie glaubte, dass sie „unter einer Art Schmerzanästhesie, hervorgerufen durch den allergrößten Schmerz, Deutschland verlassen zu müssen“, stand. Schließlich konnte sie noch rechtzeitig, mit 26 Jahren, in die USA auswandern, wo ihr „zweites Leben“ begann. In den Vereinigten Staaten wurde nicht nur ihr weiterer beruflicher Werdegang wesentlich bestimmt und sie lernte ihren späteren Ehemann kennen, vielmehr wurde sie dort auch weltanschaulich geprägt. Vermutlich nicht zuletzt durch den Einfluss des gleichaltrigen Samuel Mitja Rapoport, der seit 1934 Mitglied der (verbotenen) Kommunistischen Partei Österreichs war.
Leidenschaft und Hingabe, vor allem aber einen langen Atem und die Bereitschaft, zahlreiche Hindernisse zu überwinden, brauchte sie dann, um in ihrem „dritten Leben“, den 40 Jahren in der DDR, nicht nur ein neues Fach, die Neonatologie, sondern auch die dazugehörige „Begleit“-Forschung und schließlich die entsprechende Spezialabteilung an der Berliner Charité zu etablieren. Noch am Ende ihres nur durch ein Stipendium ermöglichten „zweiten Studiums“ in den USA hatte Syllm festgestellt: „… die Momente der Glückseligkeit in der Geburtshilfe, wenn ein gesundes Kindchen zur Welt kommt, vergaß ich … nie. Aber das Fach Geburtshilfe war mir zu eng, und ich fühlte auch, dass ich nicht das chirurgische Temperament für schnelle Entscheidungen, sondern mehr das Verlangen nach gründlicher Analyse hatte“. So entschied sie sich für die Kinderheilkunde.
Etablierung der Neonatologie
Die eigentliche Emanzipation der Neonatologie als eigenständige Subspezialisierung der Pädiatrie begann nach dem Zweiten Weltkrieg. Wesentliche Schritte in der Entwicklung der Perinatalmedizin vollzogen sich in den 1960er-Jahren in beiden Teilen Berlins. Zwei wichtige Protagonist:innen waren der Geburtshelfer Prof. Dr. med. Erich Saling im Westteil und die Pädiaterin Ingeborg Syllm-Rapoport im Ostteil der Stadt. Ihre Leistungen fasste Wauer 2013 so zusammen: Erster Lehrstuhl für Neonatologie in Deutschland und, möglicherweise auch in Europa, Institutionalisierung der Neonatologie, Koordination der perinatalmedizinischen Forschung, Mitbegründerin der DDR-Gesellschaft für Perinatale Medizin, Durchsetzung der geburtshilflich-neonatologischen Qualitätskontrolle, wichtige Publikationen zur (kindlichen) Sauerstoffversorgung, Hypoxie und Säuglingssterblichkeit. Das alles liest sich wie eine uneingeschränkt geradlinige Erfolgsgeschichte. Dem war aber nicht so. Ohne Syllm-Rapoports Beharrlichkeit, ohne ein engagiertes Ärzte- und Pflegeteam, aber auch ohne die Unterstützung des damaligen Direktors der Charité-Kinderklinik, Prof. Dr. med. Josef Dieckhoff, und ihres Mannes wäre dies nicht möglich gewesen.
Die überfällige Strukturänderung, die im Jahr 1970 vollzogene Dreiteilung des Lehrstuhlstuhls der Berliner Universitätsfrauenklinik in einen Lehrstuhl für Gynäkologie und Geburtshilfe, einen für Neonatologie und einen für Soziale Gynäkologie bewährte sich zwar auf die Dauer nicht, aber die mit der Dreiteilung verbundene Unabhängigkeit und Autorität ermöglichten Syllm-Rapoport den weiteren Auf- und Ausbau ihrer Abteilung. Die neue Leitungs- und Abteilungsstruktur war möglich geworden, nachdem der langjährige Ordinarius und alleinige Direktor der Universitäts-Frauenklinik, Prof. Dr. med. Helmut Kraatz, in den Ruhestand getreten war.
Als 1968 das Ministerium für Gesundheitswesen der DDR unter anderem ein zentrales Forschungsprojekt mit pädiatrischer Thematik beschloss, wurde Syllm-Rapoport als dessen Leiterin eingesetzt. Bald wurde aus dem Projekt „Neonatologie“ das Projekt „Perinatologie“, was nach Einschätzung von Syllm-Rapoport ein wichtiges Plus unter den Faktoren war, die die Erfolge der DDR bei der Senkung der Säuglingssterblichkeit trotz einer Reihe ungünstiger, technisch-struktureller Einflüsse in diesem Land ermöglichten. Bemerkenswert ist, was Syllm-Rapoport im Jahr 1997 in ihrem Rückblick als wichtigen positiven Punkt vermerkt: „Hinzusetzen zu diesen … Faktoren muß man die Verwirklichung der Selbstbestimmung der Frau über ihren Körper, sodaß Schwangerschaft und Geburt eines Kindes ihrem Wunsch entsprechen konnte.“
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*„Per aspera ad astra“ ist der Wappenspruch der Hamburger Kaufmannsfamilie Syllm. Die deutsche Übersetzung lautet: Durch Mühsal gelangt man zu den Sternen.
Nach einem Vortrag gehalten am 24. Mai 2024 im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) anlässlich der Ingeborg Syllm-Rapoport-Hörsaal-Einweihung, gekürzt und modifiziert.
Über folgende Ärztinnen berichten wir im Jahr 2025:
- Januar: Ingeborg Syllm-Rapoport
- März: Leonore Ballowitz
- Mai: Else Knake
- Juli: Anne-Marie Durand-Wever
- September: Edith Peritz
- November: Laura Turnau