Wir müssen über Gesundheit reden – aber wie?

Eine gute Arzt-Patienten-Kommunikation kann den Behandlungsverlauf positiv beeinflussen. Wenn Patient:innen eine geplante Behandlung verstehen und die Entscheidung für eine Therapie mittragen, haben sie bessere Chancen zu genesen oder gesund zu bleiben. Ebenso wichtig für mehr Gesundheitss­kompetenz ist, dass die Gesundheitss­berufe im Team zusammens­arbeiten. Über niedrigschwellige Anlaufstellen im Kiez, Gesundheit als Schulfach und die positiven Auswirkungen von „Share to Care“.

Geko Stadtteil-Gesundheitszentrum Neukoelln

Eva Weirich, Gesundheits- und Krankenpflegerin, bereitet ein Beratungsgespräch im Stadtteil-Gesundheitszentrum Neukölln nach.

Neue Ansätze für mehr Gesundheitskompetenz

Dem kleinen Jungen schmeckt seine Saftschorle, der Vater genießt recht entspannt seinen Cappuccino mit Hafermilch. Doch das Café auf dem Areal der ehemaligen Kindl-Brauerei ist kein weiterer Neuköllner Hipster-Treffpunkt. Es ist das Herzstück des Gesundheitskollektivs (Geko) Berlin im weitgehend von sozialem Wohnungsbau geprägten Rollbergviertel. Hier können Wartezeiten für die Hausarzt- und eine Kinderarztpraxis überbrückt werden, hier dürfen Kinder spielen und Erwachsene lesen – auch ohne etwas zu konsumieren. Den Gruppenraum nebenan können Selbsthilfegruppen nutzen. 

„Unsere Kernidee ist es, verschiedene Zugangswege zu einem biopsychosozialen Modell von Gesundheit anzubieten“, sagt die Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin und studierte Gesundheitswissenschaftlerin Eva Weirich. Dass medizinische Versorgung, gesundheitliche, psychologische und soziale Beratung sowie Angebote zur Familien- und Pflegeberatung in dieser Form unter einem Dach angeboten und in regelmäßigen Fallbesprechungen verbunden werden, vernetzt mit Kiez-Angeboten wie dem Pflegestützpunkt, der Seniorenberatung und Einrichtungen zum Mädchen- und Familienwohnen, bezeichnet sie als einmalig in Berlin. Sogar Hausbesuche machen die Angehörigen der verschiedenen Professionen teilweise gemeinsam. „Wir möchten Menschen mit niedriger Gesundheitskompetenz erreichen“, sagt Weirich. Finanziert wird das bisher durch Landesmittel im Rahmen des „Aktionsprogramms Gesundheit (APG)“ sowie durch Fördergelder. 

Beratung im Kiez-Kiosk

Das passt zu den erklärten Zielen der Bundesregierung. „In besonders benachteiligten Kommunen und Stadtteilen errichten wir niedrigschwellige Beratungsangebote (zum Beispiel Gesundheitskioske) für Behandlung und Prävention“, wird im Koalitionsvertrag des regierenden Bündnisses aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP versprochen. Hamburg Billstedt gilt als ein solches Viertel. Jeder Fünfte lebt dort von Hartz IV. Billstedter:innen sterben im Schnitt zehn Jahre früher als die Menschen aus Hamburgs Villenvierteln, ist in „Die Zeit“ vom 18. August 2022 (Gesundheitskiosk. Hilfe an der Ecke) zu lesen. Im dortigen „Gesundheitskiosk“, untergebracht in einem ehemaligen Ladenlokal, können sich Bedürftige ohne große Hürden von studierten Pflegekräften beraten lassen, auch auf ärztliche Verordnung per Überweisungsschein („Social Prescribing“). Anders als im Neuköllner Gesundheitskollektiv arbeiten dort keine Ärzt:innen, der Kiosk ist jedoch eng mit niedergelassenen Ärzt:innen vernetzt. Er gilt als „Prototyp für eine integrierte gesundheitliche Vollversorgung in deprivierten großstädtischen Regionen“ und wurde aus Mitteln des Innovationsfonds vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) gefördert. Die Evaluation des „Hamburg Center for Health Economics (HCHE)“ der Universität Hamburg klingt ermutigend, deutet sie doch darauf hin, „dass die neue Versorgungsform für Versicherte und Leistungserbringer einen Mehrwert im Vergleich zur Regelversorgung aufweist“. Konkret verzeichnet man inzwischen mehr Praxisbesuche und weniger Krankenhauseinweisungen. Die Evaluation umfasst allerdings nur 18 Monate, langfristige Ergebnisse stehen noch aus. Zudem zeigte sich, dass hauptsächlich ältere Frauen im Rentenalter das Angebot nutzen, aber nur wenige Vollzeitarbeitende oder Arbeitslose. Dennoch hat das Vorbild schon Nachahmer:innen gefunden: zum Beispiel einen Gesundheitskiosk in Aachen und ein Projekt mit dem vielversprechenden Namen „Die Kümmerei“ in Köln.

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Krankenkassen wollen Gesundheitskiosk nicht weiter finanzieren

Ende September 2022 erklärten die Ersatzkassen Barmer, DAK und Techniker Krankenkasse, die Kostenübernahme für den Betrieb des Gesundheitskiosks in Hamburg-Billstedt nicht über das Jahresende hinaus zu verlängern. Aus ihrer Sicht doppelten sich die Leistungen des Gesundheitskiosks mit bereits vorhandenen Angeboten des sozialen Hilfesystems; der Betrieb stehe in keinem Verhältnis zu den hohen Kosten. Auch wenn die AOK und eine Betriebskrankenkasse ihr Engagement fortsetzen wollen, droht dem Hamburger Gesundheitskiosk damit nun nach eigenen Angaben das Aus.

Schulfach „Gesundheit und Nachhaltigkeit“

Nach dem Willen der Delegierten des 126. Deutschen Ärztetages 2022 sollen bereits Kinder frühzeitig Gesundheitskompetenz erwerben: In Bremen wurden die Länder aufgerufen, ein eigenständiges Schulfach „Gesundheit und Nachhaltigkeit“ einzuführen. Denn eine frühe und gezielte Bildung werde dazu beitragen, Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung zu fördern und die Gesundheit der und des Einzelnen, aber auch der gesamten Bevölkerung nachhaltig zu sichern – insbesondere mit Blick auf die aktuellen Herausforderungen wie Klimakrise und demografischer Wandel, heißt es in der Begründung. Schon heute passiert in Sachen gesundheitliche Bildung einiges, und zwar nicht zuletzt auf Initiative und in Eigenregie von Ärzt:innen: So kann die Ärztliche Gesellschaft zur Gesundheitsförderung e. V. (ÄGGF), die unter anderem vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) gefördert wird, stolz vermelden, dass sie im Jahr 2019 rund 78.000 Kinder und Jugendliche in deren Klassenzimmern erreicht hat. Der in Hamburg ansässige Verein versendet nicht nur Infomaterial, sondern bietet auf Wunsch auch Informationsstunden vor allem zu Fragen der Pubertätsentwicklung und rund um das Thema Sexualität, für die Ärzt:innen in die Schulen kommen (siehe Interview).

Ein eher spielerisches und bewegungsorientiertes Programm für Grundschulen bietet wiederum die „Klasse 2000 – Stark und Gesund in der Grundschule“, gefördert unter anderem von der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung (BZgA), den Lions Deutschland und als Patin auf Landesebene von der Ärztekammer Berlin. In der Hauptstadt werden zudem die noch Kleineren und ihre Erzieher:innen schon seit einigen Jahren vom Landesprogramm „Kitas bewegen – für die gute gesunde Kita“ bedacht, an dem die Ärztekammer Berlin bereits von Beginn an als Kooperationspartnerin beteiligt ist. Gesundheitliche Bildung wird schon für die Jüngsten ganz spielerisch mit viel Bewegung und dem gemeinsamen Schnippeln von Obst und Gemüse initiiert, zudem liegt das Augenmerk des salutogenetischen Ansatzes auf der Gesundheit und dem Wohlbefinden der Erzieher:innen.

Schlüsselbegriff Health Literacy

„Moderne Gesellschaften sind Informations- und Wissensgesellschaften, in denen eine kaum noch überschaubare Menge an Fakten und Wissen zur Verfügung steht.“ Mit diesem gewichtigen Satz beginnt das Papier, in dem Forschende des Interdisziplinären Zentrums für Gesundheitskompetenzforschung (IZGK) der Universität Bielefeld und der Hertie School in Berlin um die Professor:innen Dr. Doris Schaeffer und Dr. Klaus Hurrelmann die Vorstellung der Ergebnisse zur „Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland vor und während der COVID-19-Pandemie“ einleiten. „Gesundheitskompetenz“, im englischen Sprachraum „Health Literacy“ genannt, definiert das Bielefelder Forschungsteam als Fähigkeit, „gesundheitsbezogene Informationen zu finden, zu verstehen, kritisch zu beurteilen, auf die eigene Lebenssituation zu beziehen und für die Erhaltung und Förderung der Gesundheit nutzen zu können“. Die COVID-19-Pandemie habe in dieser Hinsicht zwar leichte Verbesserungen gebracht, vor allem bei Jüngeren, die nun digitale Angebote verstärkt nutzten. Gegenüber der ersten Befragung sieben Jahre zuvor konstatieren die Gesundheitsforscher:innen im Zeitraum kurz vor der Pandemie aber eine Verschlechterung der Gesundheitskompetenz. Demnach wurde schon bei dieser ersten Erhebung bei 54 Prozent der Befragten eine „eingeschränkte“ und bei nur sieben Prozent eine „sehr gute Gesundheitskompetenz“ festgestellt. Sorgen macht den Forschenden vor allem die sozial ungleiche Verteilung des Wissens und die Tatsache, dass ältere, multimorbide Bürger:innen in Gesundheitsfragen besonders schlecht Bescheid wissen. Bedenklich erscheint ihnen insbesondere, dass die Befragten sich in der Beurteilung von Informationen schwertaten, etwa bei der Frage, wann es sinnvoll ist, eine Zweitmeinung einzuholen.

In Maßen erleichternd dürfte für Ärzt:innen aber das Ergebnis sein, dass Bürger:innen die Kommunikation mit ihnen als wichtig und informativ bewerten. Andererseits gaben mehr als 40 Prozent der Studienteilnehmenden an, sie hätten bereits mindestens einmal Schwierigkeiten gehabt, den Erklärungen ihrer Hausärzt:innen zu folgen. „Fachärzte werden noch häufiger nicht verstanden.“ Im „Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz“, der 2018 aus der Sorge über die Ergebnisse der ersten Erhebung auf den Weg gebracht wurde, steht dazu der denkwürdige Satz: „Dass Haus- und Fachärzte die wichtigste Informationsquelle sind, bedeutet nicht, dass sie auch immer verstanden werden.“

Reden ist Silber, Zuhören ist Gold

Dabei steht und fällt alles mit der Verständigung: von der Impfberatung über die augenärztliche Untersuchung und die Diabetesbehandlung bis hin zur Übermittlung von „Bad News“ wie einer Krebsdiagnose. Schon Medizinstudierende intensiv und ausführlich auf Gespräche mit Patient:innen vorzubereiten, das ist das erklärte Ziel des „Nationalen longitudinalen Mustercurriculums Kommunikation in der Medizin“, das Vertreter:innen aller 37 deutschen Medizinischen Fakultäten im Jahr 2015 verabschiedeten. 300 Unterrichtseinheiten sind dafür vorgesehen, verteilt über das gesamte Studium. Die beste Informationsquelle für die Frage, wie es dem Menschen geht, der ins Sprechzimmer gekommen ist, sind selbstverständlich sein Bericht in eigenen Worten und seine Antworten auf offene Fragen der Ärztin oder des Arztes. Im Geko Berlin ebnen die Hausärzt:innen den Weg dahin bereits mit dem fünfseitigen Anamnesebogen. Dieser enthält auch Fragen zur Lebenssituation, zu Stress und Ängsten und nach der Zufriedenheit mit sozialen Beziehungen, der Freizeitgestaltung und den wirtschaftlichen Verhältnissen. „Die Leute füllen das aus und fühlen sich wahrgenommen“, beobachtet Allgemeinmedizinerin Kirsten Schubert. Und der Bogen bietet hervorragende Aufhänger für ein umfassendes Erstgespräch. Dabei gewinnt sie ein Bild davon, wie sich die vor ihr sitzende Person Informationen zu Gesundheitsthemen verschafft und wie (un-)sicher sie sich im Versorgungssystem bewegt.

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Gesundheit ist Teamarbeit

Das Team der Stadtteilpraxis Neukölln im Geko Berlin besteht aus zwei Fachärztinnen, einer Praxismanagerin und einer MFA. Die Praxis deckt die hausärztlich-internistische Versorgung im Stadtteil-Gesundheits-Zentrum ab.

Wir nehmen Belastungsfaktoren bei unseren Patient:innen nicht nur wahr, wir können sie im Team auch angehen, ob es nun um Schimmel in der Wohnung oder um Beziehungs- oder Erziehungsprobleme geht.

Kirsten Schubert,
Fachärztin für Allgemeinmedizin, Stadtteilpraxis Neukölln

Den Begriff „Gesundheitskompetenz“ mag die Ärztin dafür eigentlich nicht so gern. Jedenfalls, wenn er nur auf die Person bezogen wird und den Verdacht auf Defizite beinhaltet. „Das läuft leicht auf ein ‚Blaming the Victim‘ hinaus. Ich finde den englischen Begriff „Health Literacy“ schöner. Wenn schon, dann müssen wir uns fragen: Wie werden wir eine Einrichtung, die selbst eine hohe organisationale Gesundheitskompetenz aufweist?“ Das Geko sieht sie auf dem Weg dahin. „Wir nehmen Belastungsfaktoren bei unseren Patient:innen nicht nur wahr, wir können sie im Team auch angehen, ob es nun um Schimmel in der Wohnung oder um Beziehungs- oder Erziehungsprobleme geht.“

Gesundheitswissenschaftlerin Weirich betont zudem, wie wichtig ein Koffer mit geeigneten Werkzeugen für die gelingende Kommunikation mit Patient:innen ist: Offene Fragen stellen, durch Rückfragen sicherstellen, dass man selbst und das Gegenüber alles richtig verstanden hat. Wenn Ärzt:innen Informationen übermitteln, können ihnen Werkzeuge wie die Teach-Back-Methode helfen, Missverständnisse zumindest zu verringern. So werden Patient:innen bei Anwendung der Methode gebeten, das Gesagte mit eigenen Worten zu wiederholen. Wichtig sei es auch, schnell zu erfassen, welcher Kommunikationstyp der Mensch ist, mit dem man es gerade zu tun hat, betont Weirich. Wie aufnahmebereit er ist, von welcher Kultur und Sozialisation er geprägt ist. Oft sei eine Sprachmittlung nötig. „Hier ist der Dienst Triaphon für uns Gold wert“, berichtet sie weiter. Die medizinische Dolmetscher-Hotline, für die sich jede und jeder unkompliziert registrieren kann, bietet schnelle Hilfe in zahlreichen Sprachen. Wertschätzung könne so oft auch trotz Sprachbarriere vermittelt werden, betont Weirich.

Patient:innen dabei begleiten, sprachfähig zu werden

Für wirkliches „Shared Decision Making“ reicht diese basale Form der Kommunikation häufig nicht aus. Neben der sprachlichen Verständigung brauche es dafür aufseiten der Professionellen im Gesundheitswesen ein Bewusstsein für das Machtgefälle und für den Einfluss, den sie auf Entscheidungen notgedrungen nehmen, erklärt die Gesundheitswissenschaftlerin. „Wir brauchen zudem ein Wissen darüber, wie Menschen Entscheidungen treffen und welche Verantwortung wir dafür tragen.“

Wie lassen sich im Krankenhaus die beidseitigen Kompetenzen dafür steigern? Am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH) lief vier Jahre lang, gefördert vom G-BA, ein Modellprojekt zum „Share to Care“-Programm. Dieses besteht aus Entscheidungshilfen zu 80 Fragestellungen sowie einem Gesprächstraining für Mediziner:innen, das in 19 Einzelkliniken des Campus Kiel angeboten wurde. Ebenso wurden Pflegekräfte eingebunden und Patient:innen gezielt aktiviert. Die Evaluation, deren Ergebnisse Ende Juni dieses Jahres vorgestellt wurden, sind ermutigend: Die Ärzt:innen kommunizierten nach dem Training besser, die Patient:innen beteiligten sich stärker und sachkundiger an den Entscheidungsprozessen.

Genau das ist das Ziel, das auch Allgemeinärztin Kirsten Schubert formuliert: „Wir begleiten unsere Patient:innen dabei, sprachfähig zu werden.“ Diese optimale Begleitung müsse man als Angehörige eines Gesundheitsberufes immer wieder trainieren, ergänzt Gesundheitswissenschaftlerin Eva Weirich. Gesundheitskompetenz scheint für alle Beteiligten auch eine Frage der Übung zu sein.

Im Fokus: Interviews zum Thema

Ein Gespräch mit der Berliner Gynäkologin Dr. med. Runa Speer, die nach klinischer und Forschungstätigkeit zunehmend Interesse am Thema Prävention entwickelt hat und seit 2022 im Vorstand der Ärztlichen Gesellschaft zur Gesundheitsförderung (ÄGGF) aktiv ist. 

Drei Fragen an Corinna Schaefer, Vorsitzende des Deutschen Netzwerkes Gesundheitskompetenz e. V. (DNGK) und Stellvertretende Institutsleitung des Ärztlichen Zentrums für Qualität in der Medizin (ÄZQ). 

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