„Es gibt Stunden, nach denen man fast aus dem Klassenraum schwebt“

Ein Gespräch mit der Berliner Gynäkologin Dr. med. Runa Speer, die nach Klinik und Forschungstätigkeit zunehmend Interesse an Prävention und Gesundheitskompetenz entwickelt hat und seit diesem Jahr im Vorstand der Ärztlichen Gesellschaft zur Gesundheitsförderung (ÄGGF) aktiv ist. 

Dr. med. Runa Speer
Interview mit
Dr. med. Runa Speer

Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe

Foto: Ilka Drnovsek

Gesundheitskompetenz in der Schule

Redaktion: Frau Dr. Speer, was tut die Ärztliche Gesellschaft zur Gesundheitsförderung derzeit in den Schulen?

Dr. med. Runa Speer: Jeden Morgen packen in ganz Deutschland 100 Ärztinnen und Ärzte ihre Taschen mit Materialien für einen anschaulichen Unterricht und fahren in die Schulen. Wir führen dort mehrere Tausend sogenannte ärztliche Informationsstunden im Jahr durch und hatten in den vergangenen zehn Jahren fast eine Million Teilnehmende. Auch während der Pandemie haben wir das fortgesetzt. Unser Themenschwerpunkt ist die sexuelle und reproduktive Gesundheit; dort liegt unsere Erfahrung bei den Vermittlungsstrategien. Unser erklärtes Ziel: Kinder und Jugendliche sollen ihren eigenen Körper mit seinen Funktionen und Fähigkeiten kennen, schätzen und schützen lernen.

Wie gestalten sich diese Schulstunden konkret?

Wir vereinbaren zunächst Termine für Doppelstunden mit den Lehrkräften, die dann aber beim Gespräch mit den Heranwachsenden nicht dabei sind. Unsere Zielgruppen sind Schüler:innen ab der 4. Klasse aufwärts. Wir teilen die Klasse jeweils in eine Mädchen- und eine Jungengruppe, nicht-binäre Kinder gehen in die Gruppe, der sie sich zugehörig fühlen. Im Dialog beantworten wir die Fragen der Kinder und Jugendlichen, die sie zum Teil schon vorher aufgeschrieben haben. Wir nutzen ihre Fragen, um unser Wissen in die Klasse zu bringen. Oft geht es auch darum, die „Frage hinter der Frage“ zu erkennen, und selbstverständlich gilt die Schweigepflicht. Die Heranwachsenden sind erleichtert, wenn wir verstehen, was sie gar nicht so genau in Worte fassen können. Wir sind ein bisschen die „Ärzt:innen zum Anfassen“ und möchten die Schwelle zum Arztbesuch senken. Kinder und Jugendliche haben einen Riesenbedarf – die 90 Minuten reichen meist nicht und oft ergeben sich danach Vieraugengespräche. Ich muss sagen: Das ist eine der befriedigendsten Aufgaben meiner ärztlichen Tätigkeit. Es gibt Stunden, nach denen man fast aus dem Klassenraum schwebt.

Was würde aus Ihrer Sicht das neue Schulfach „Gesundheit und Nachhaltigkeit“ bringen, für das auf dem Ärztetag in Bremen im Mai gestimmt wurde, und wer sollte es unterrichten?

Wir fänden es super, wenn das Fach käme. Gesundheits- und Umweltthemen sind ein großer Bestandteil der Bildung und sollten hier besser verankert sein. Die Weichen werden früh gestellt: Je früher man beginnt, Wissen zu vermitteln, desto eher entstehen Selbstwirksamkeit und das Gefühl der Handlungskompetenz. Leider ist Gesundheit immer noch stark vom sozialen Gefüge abhängig. Durch ein Fach „Gesundheit“ könnte für mehr Chancengleichheit gesorgt werden. Denn so haben wir die Möglichkeit, alle Schüler:innen unabhängig von ihrer sozialen oder kulturellen Herkunft zu erreichen. Angebote wie die Jugendgesundheitsuntersuchung 1 (J1) für 12- bis 14-Jährige werden derzeit leider viel zu wenig wahrgenommen. Ganz wichtig ist auch das Thema Impfungen, etwa gegen die humanen Papillomviren (HPV) oder die Bedeutung weiterer Vorsorgeuntersuchungen.

Würden Sie sich als Ärztin am Unterricht in diesem neuen Schulfach beteiligen?

Wir können das mit der momentanen Struktur unseres gemeinnützigen Vereins nicht flächendeckend anbieten, wären aber bereit, es mitzugestalten. Dass der ärztliche Beruf Glaubwürdigkeit vermittelt, trägt ja auch zum Erfolg unseres Konzeptes bei. Wir denken also schon, dass wir Ärztinnen und Ärzte die Geeigneten sind. Auch kompetente Lehrkräfte sollten mitwirken, und wichtig ist auf jeden Fall, dass entsprechende Curricula entwickelt werden.

Wäre es gut, wenn sich noch mehr Ärzt:innen über den Verein in Schulen engagieren würden, und an wen können sich interessierte Kolleg:innen wenden?

Gut, dass Sie fragen! In Berlin sind wir im Moment 14 Ärzt:innen, wir können weitere Unterstützung durch approbierte Kolleg:innen gut gebrauchen. Bewerben kann man sich per E-Mail an unsere Geschäftsstelle ( E ), dann kann man zunächst einmal hospitieren. Vieles von dem, was wir tun, ist ehrenamtlich, aber es gibt eine Aufwandsentschädigung für die Veranstaltungen. Die Nachfrage vonseiten der Schulen ist riesig und wir könnten noch viel mehr Schüler:innen erreichen, allerdings sind unsere finanziellen Mittel dafür begrenzt.

Im Fokus: Mehr zu diesem Schwerpunkt

Drei Fragen an Corinna Schaefer, Vorsitzende des Deutschen Netzwerkes Gesundheitskompetenz e. V. (DNGK) und Stellvertretende Institutsleitung des Ärztlichen Zentrums für Qualität in der Medizin (ÄZQ).

Eine gute Arzt-Patienten-Kommunikation ist für mehr Gesundheits­kompetenz ebenso wichtig wie, dass die Gesundheitsberufe im Team zusammen­arbeiten. Über niedrig­schwellige Anlaufstellen im Kiez, Gesundheit als Schulfach und das Programm „Share to Care“.

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