Heilsame Architektur

Stationäre und ambulante Gesundheitseinrichtungen sind Lebensräume – für Patient:innen wie für die Menschen, die dort arbeiten. Mittlerweile können sich Architekt:innen und andere an der Planung Beteiligte auf etliche Studien zur Frage stützen, was diese Räume „gesund“ macht. Sie können also evidenzbasiert vorgehen. 

Initiative Rosi – umgestaltete Chemoambulanz in der Frauenklinik der Charité – Universitätsmedizin Berlin

Die Therapieräume der Frauenklinik an der Charité sollen den Frauen während ihrer Krebstherapie Geborgenheit bieten und aus der Wartezeit wertvolle Lebenszeit machen.

„Behandlungszeit ist Lebenszeit“

„Glocken aus Milchglas sandten von der Decke ein bleiches Licht. Die Wände schimmerten weiß und hart, mit einer lackartigen Ölfarbe überzogen.“ Über den langen Gang eilt, „in weißer Haube und einem Zwicker auf der Nase“, eine Krankenschwester. Das Zimmer, zu dem dieser Korridor führt, ist mit „weißen, praktischen Möbeln“, mit „ebenfalls weißen, starken, waschbaren Tapeten“ und einem „reinlichen Linoleum- Fußbodenbelag“ ausgestattet. Bilder finden sich an den Wänden nicht. Geradezu klinisch weiß – das ist der erste Eindruck, den Hans Castorp in sich aufnimmt, als er seinen lungenkranken Vetter Joachim Ziemßen besucht. Der stationäre Aufenthalt der beiden Cousins im Davoser Sanatorium Berghof, dem Schauplatz von Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“, zieht sich letztlich etwas in die Länge. Glücklicherweise bieten dort andere Räume den Tuberkulosekranken mehr Abwechslung. Vor allem aber sorgt die landschaftlich reizvolle Umgebung für optische Reize, die die der nüchternen Krankenzimmer deutlich übertreffen.

Wie die Bauten und die Räume gestaltet sind, in denen Menschen medizinisch untersucht und behandelt werden, spielt aber auch hier und heute, im wesentlich nüchternen Großstadt-Ambiente, eine entscheidende Rolle. Das ist die feste Überzeugung der Berlinerin Tina Müller, die ihre Mutter Roswitha etliche Male zur ambulanten Chemotherapie in die Klinik für Gynäkologie mit Zentrum für onkologische Chirurgie auf dem Campus Virchow der Charité – Universitätsmedizin Berlin begleitet hat. In sterile, zweckmäßig eingerichtete und schon etwas in die Jahre gekommene Räume, die sie sich für ihre Mutter und deren Leidensgenossinnen freundlicher, wohnlicher, menschlicher wünschte. Bei dem Direktor der Klinik Prof. Dr. med. Dr. h.c. Jalid Sehouli rannte sie – um es mit einem architekturbezogenen Bild zu sagen – offene Türen ein. „Behandlungszeit ist Lebenszeit“, sagt er. „Eine Frau, deren Eierstockkrebs behandelt wird, verbringt rund 130 Stunden ihres Lebens mit Infusionen.“ Das Thema beschäftigt den Arzt, der sein eigenes Sprech- und Arbeitszimmer mit Teppich und Kunst sehr persönlich eingerichtet hat, schon lange. Für die Idee, die Chemoambulanz umzugestalten, konnte er prominente Unterstützer wie Herbert Grönemeyer oder Roberto Blanco, aber auch „stille“ Geldgeber gewinnen. Im November 2022 wurde nach dem Umbau die Eröffnung gefeiert.

Heute empfangen freundliche Räumlichkeiten mit anheimelnden Materialien wie naturbelassenem Holz die Frauen. Das hilft, Kraft zu schöpfen und neuen Lebensmut zu gewinnen. Schon im Wartebereich – auch Wartezeit ist Lebenszeit – freut man sich über leise Schritte auf gedämmtem Boden, den eigens entwickelten dezenten Duft „Rosi“ und das Aquarium. Zum durchdachten Konzept der „Initiative Rosi“ gehören Angebote wie Yoga im Sitzen, Fitness, Zeichnen, Sprachkurse und Themenvormittage: Abwechslung und Anregung für die Zeit, die die Infusionen nun mal zum Durchlaufen brauchen. „Es geht darum, Leben dorthin zu bringen, wo um Leben gekämpft wird“, erklärt Sehouli. Er hat eine ganze Menge weiterer Pläne für dieses Leben: So wurde kürzlich die „Europäische Künstlergilde für Medizin und Kultur“ gegründet, ein gemeinnütziger Verein, der Wanderausstellungen und „medizinisch-literarische Visiten“ organisieren soll. Auch an einen „interkulturellen Kräutergarten“ denkt der umtriebige Klinikchef.

Die heilenden Sieben

Schwere Krankheiten wirklich heilen können gut geplante Architektur und Gestaltung von Gesundheits­einrichtungen wohl nicht. Heilsam wirken und zur Heilung beitragen – das ist durchaus möglich. Unter dem Begriff „Die heilenden Sieben“ haben die Architektin Gemma Koppen und die Architekturpsychologin Dr. phil. Tanja Vollmer anhand einer Reihe von wissenschaftlichen Untersuchungen „Schlüsselvariablen einer evidenzbasierten Krankenhausarchitektur“ identifiziert und kürzlich in einer Ausstellung an der Technischen Universität München mit dem Titel „Das Kranke(n)Haus. Wie Architektur heilen hilft“ anhand von Beispielen vorgestellt.

Zuerst die Umgebungsvariable „Orientierung“: Architektur soll die Wege so strukturieren, dass Patient:innen und Angehörige sich „intuitiv – ohne kognitive Anstrengung“ im Gebäude zurechtfinden. Ganz wichtig sind dann als erster Eindruck die Geruchs- und Geräuschkulisse. Variable vier ist die Ermöglichung von Privatheit durch Rückzugsräume, die den Patient:innen das Gefühl von Kontrolle geben, und fünftens, „Power Points“: Räume, in denen besonders während einer ambulanten Therapie neue Kraft geschöpft werden kann. Der nächste Punkt, „Aussicht und Weitsicht“, bezieht sich auf die Welt, die jenseits der Krankenhausfenster liegt. Schließlich soll das „menschliche Maß“ der Architektur dem Gefühl der Verlorenheit entgegenwirken.

Raum als Therapeutikum

Dass viele dieser Punkte auch bei der Umgestaltung bestehender Einrichtungen berücksichtigt werden können, zeigt etwa der Umbau einer Station in der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig-Krankenhaus, über den im Jahr 2016 im Deutschen Architektenblatt unter dem anspruchsvollen Titel „Raum als Therapeutikum“ berichtet wurde. Die Station im historischen Klinikbau sollte nach dem Willen des zuständigen Oberarztes Dr. med. Martin Voss zu einer „Soteria“ umgebaut werden. Wie die Wortschöpfung „Klinik“ – von „kliné“, Liege oder Bett – stammt auch dieser Begriff aus dem Griechischen und meint einen „rettenden“, heilenden Ort. In der Psychiatrie wurde daraus die Bezeichnung für eine bewusst wohnlich gestaltete stationäre Einrichtung. Der Mediziner Voss und der Architekt Jason Danziger arbeiteten bei der Umgestaltung des Gebäudes mit langem Mittelgang und Mehrbettzimmern eng zusammen, schauten sich in anderen Soterien um, werteten Gespräche mit Patient: innen sowie eine Masterarbeit über deren Wünsche aus und konnten schließlich die Alexianer GmbH als Trägerin der Klinik überzeugen. Zu Kosten, die die für eine konventionellere Sanierung nicht überstiegen, entstand aus zwei zusammengelegten Patientenzimmern ein Wohnzimmer mit offener Küche, zum Ausgleich wurde ein großes Patientenzimmer geteilt. Wohnlichkeit entstand auch durch geschickt eingesetzte Farbe und durch Möbel, die der Architekt selbst entworfen hat.

Wir arbeiten mit unserer Initiative Rosi daran, die Räume so umzugestalten, dass diese Zeit über das Medizinische hinaus zu wertvoller Lebenszeit wird.

Tina Müller,
Gründerin der Initiative Rosi

Das passt ziemlich gut zu den Empfehlungen, die das Dresdner Institut für evidenzbasierte Architektur im Gesundheitswesen „Universalraum“ GmbH in seinem Planungshandbuch Psychiatrie ausspricht. Dabei geht es darum, bekannten Stressoren stationärer Patient:innen zu begegnen. Das Gefühl, ausgeliefert zu sein und wenig Privatsphäre zu haben, hat für Psychiatrie-Patient:innen aufgrund der oft längeren Verweildauer eine besondere Bedeutung. Im Planungshandbuch wird empfohlen, ihnen möglichst freie Hand bei der Anordnung der Möbel, auf jeden Fall aber bei der Steuerung von Beleuchtung und Raumtemperatur zu lassen. Zudem wird auf einen Aspekt hingewiesen, der bei der Gestaltung von Gesundheitseinrichtungen oft unbeachtet bleibt: Machen die Baumaterialien und die Innenausstattung einen eher „schäbigen“ Eindruck, können Kranke das als mangelnde Wertschätzung empfinden. Auch die Angehörigen können durch ein solches Ambiente verunsichert werden: Sind ihre Lieben hier wirklich gut aufgehoben?

Auf den ersten Blick zählen bei der Ausstattung einer Intensivstation andere Dinge als in der Psychiatrie. Natürlich sind penible Hygiene und eine hochmoderne technische Ausstattung entscheidende Elemente für den Behandlungserfolg. Bei der Umgestaltung von zwei Vierbettzimmern in der Intensiveinheit der Klinik für Anästhesiologie mit Schwerpunkt operative Intensivmedizin auf dem Campus Virchow-Klinikum der Charité – Universitätsmedizin Berlin wurde aber bewusst auch auf die Atmosphäre, auf an die Tageszeiten angepasste Lichtverhältnisse, auf die bereits genannte „Umgebungsvariable“ Geräusche und auf das optische Zurücktreten der notwendigen Geräte geachtet. „Krankenhausplaner nehmen bisher viel zu selten die Perspektive des Liegenden ein, das möchten wir ändern“, sagte der Architekt Thomas Willemeit vom Büro Graft bei der Eröffnung im Jahr 2013. „Wir machen uns inzwischen mehr Gedanken über die klinischen Auswirkungen von Architektur, Raumgestaltung und Lichtverhältnissen“, resümierte Klinikdirektorin Prof. Dr. med. Claudia Spies.

Vielfältige Berliner Krankenhausbauten

„Die architektonische Entwicklung des Bautyps Krankenhaus kann auf eine lange Geschichte zurückblicken, die in den Hospizen des Mittelalters beginnt und sich vor allem im 19. Jahrhundert, im Verbund mit der schnellen Entwicklung wissenschaftlicher Fortschritte im Bereich der Hygiene und der Medizin, auch in der Gestaltung der Bauten niederschlägt“, schreiben Andres Lepik und Tanja Vollmer im Katalog zur bereits erwähnten Ausstellung an der TU München.

Das zeigt sich auch in Berlin. Architektonisch betrachtet ist die Klinik-„Landschaft“ der Hauptstadt heute ausgesprochen vielfältig: Das 1982 eröffnete, 2014 bis 2016 aufwendig sanierte, umgebaute und modernisierte 82 Meter hohe Bettenhaus der Charité auf dem Campus Mitte in der Luisenstraße mit seiner Verbindungsbrücke zum historischen Campusgelände auf der anderen Straßenseite, der Campus Benjamin Franklin mit seiner Stab- und Gitterfassade von 1968, der 2007 bezogene Neubau des Helios Klinikums Berlin-Buch in einem Teil der Stadt, in dem Stadtbaurat Ludwig Hoffmann, der auch das Virchow-Klinikum plante, ab Ende des 19. Jahrhunderts Heilanstalten in charakteristischer Backsteinarchitektur errichten ließ, das altehrwürdige, 1846 gegründete St. Hedwig-Krankenhaus, das seit 1998 zu den Alexianern gehört, und die nach der Wende neu errichtete Park-Klinik Weißensee mit künstlerischen Bereicherungen durch die nahegelegene Kunsthochschule und dem Grün des historisch gewachsenen Parks samt Heilgarten sind nur einige Beispiele. Und es wird neu gebaut: Derzeit wird das 1928 eröffnete St. Joseph Krankenhaus Tempelhof, das zum Elisabeth Vinzenz Verbund katholischer Krankenhäuser gehört, bei laufendem Betrieb umgebaut. Für eines der vorhandenen neueren Gebäude soll auf vergrößertem Grundriss Ersatz geschaffen werden.

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Der Louvre im Krankenhaus

Auch auf dem Gelände der DRK Kliniken Berlin Westend der DRK-Schwesternschaft Berlin finden sich alte und neue Gebäude in friedlicher Koexistenz. Über zwanzig Jahre lang hat sich Dr. phil. Anne Marie Freybourg dort als Kuratorin für zeitgenössische Kunst engagiert – und dabei immer wieder Mitarbeitende aus Medizin und Pflege in Gesprächen und durch Führungen für moderne Kunst gewinnen können. Im Förderverein „Kunst im Westend“ sind heute viele Ärzt:innen und Pflegekräfte des Klinikums engagiert. Vorsitzender des Vorstandes ist seit über zehn Jahren PD Dr. med. Bernd Frericks, Chefarzt des Instituts für diagnostische und interventionelle Radiologie und Ärztlicher Leiter des Klinikums. Auf den verschiedenen Stationen des Klinikums wird jeweils für die Dauer eines Jahres zeitgenössische Kunst gezeigt. Insgesamt werden pro Jahr rund 300 Kunstwerke in der Klinik ausgestellt, darunter auch Werke namhafter Künstler:innen wie Georg Baselitz.

Wer mit Freybourg spricht, profitiert von der kunstgeschichtlichen Expertise, der wissenschaftlichen Neugier und der praktischen Erfahrung der promovierten Philosophin. „Gute Kunst eröffnet einen imaginären Raum, ein Fenster in einen anderen emotionalen Kosmos.“ Sie könne den Blick weiten, der sich mit einer beunruhigenden Diagnose oft auf das Kranksein verenge. In einer aktuellen Publikation5 hat Freybourg eine Reihe von Studien versammelt, die die nötige Evidenz für diese These liefern: Eine dänische Studie aus dem Jahr 2017 zeigt etwa, dass aus einem Kunstmuseum entliehene Bilder, die in Aufenthaltsräumen medizinischer Stationen hängen, die Zufriedenheit der Patient:innen fördern. Sie vermitteln im Vergleich zu leeren Wänden ein Gefühl der Geborgenheit und dienen als Gesprächsanlass.

Für eine weitere Studie mit dem schönen Titel „Le Louvre à l’hôpital“ wurden Monumentalstatuen aus dem berühmten Pariser Museum in den Garten und eine große Anzahl von Reproduktionen von Gemälden aus dem Louvre in die Speisesäle und die Patientenzimmer geriatrischer und suchtmedizinischer Abteilungen gebracht. Flankiert wurde die Aktion durch Führungen und Gespräche. Die Patient:innen berichteten anschließend über verringerte Ängstlichkeit und zeigten sich zufrieden mit der neuen Erfahrung. Eine neurowissenschaftliche Studie, für die gesunde Proband:innen bei der fMRT Abbildungen von Kunstwerken bewerten sollten, ergab: Beim Betrachten von Bildern, die sie emotional bewegten, wurden bei den Proband:innen Regionen im medialen präfrontalen Kortex aktiviert, die als Teil des Default Mode Network bekannt sind. „Das bedeutet, eine ästhetische Erfahrung, die einen bewegt, sei es positiv oder negativ, schafft einen ‚Selbstzugang‘, intensiviert das Gefühl für sich selbst“, kommentiert Freybourg diese messbaren individuellen Unterschiede.

Dass nicht jedes Bild bei jedem Anklang findet, ist in den Augen der Kuratorin nicht weiter schlimm. „Aber es ist sehr wichtig, sich bei der Auswahl der Kunst in die unterschiedlichen Patienten hineinzuversetzen. Psychiatrie, Onkologie, Geburtshilfe: Die Situationen, in denen sich die Patienten befinden, sind eben höchst unterschiedlich.“ In unzähligen Mini-Führungen für Mitarbeitende und Interessierte hat die unermüdliche Kuratorin bei vielen doch die Liebe zur Gegenwartskunst wecken können.

Und wenn nicht? Dann hat die Kunst doch immerhin eine Wirkung, die der bewussten Gestaltung von Räumen in Krankenhäusern und ambulanten Einrichtungen generell eigen ist: „Allein das Gefühl, dass sich in diesem Haus jemand Mühe gibt mit der Gestaltung, schafft Vertrauen in die Institution“, sagt der Fördervereinsvorsitzende und Ärztliche Leiter PD. Dr. med. Bernd Frericks.

Das zentrale Problem der Architektur ist der Raum, der den Menschen an Leib und Seele gesund erhält.

Justus Dahinden,
Schweizer Architekt

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Ein Gespräch von Adelheid Müller-Lissner mit dem Architekten Marc Rehle, Vorstandsvorsitzender des Vereins „Architekten für Krankenhausbau und Gesundheitswesen e. V.“ (AKG), in dem die Planer:innen von Gesundheitseinrichtungen seit Jahrzehnten mehrheitlich organisiert sind.

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