Ärztliche Arbeitswelt im Wandel

Arbeit soll Freude machen und sinnhaft sein – auch und gerade im Gesundheitswesen. Der Ruf nach Digitalisierung, Selbstbestimmung und partizipativer Führung sowie einer besseren Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben wird in Praxen und Kliniken immer lauter. Wir zeigen anhand einzelner Beispiele, dass dieser Ruf bereits gehört wurde. 

Zwei Oberärztinnen verschiedener Fachdisziplinen tauschen sich aus.

Die Arbeitswelt ist im Wandel – nicht zuletzt im Gesundheitswesen. Auch Digitalisierung und KI können dabei helfen, Prozesse zu optimieren und den Arbeitsalltag zu entlasten.

New Work: kein Nice-to-have, sondern Notwendigkeit

Mehr Flexibilität, Selbstbestimmung und eine engere Zusammenarbeit der Professionen versus Überlastung, Fachkräfteabwanderung und mangelnde Digitalisierung – in kaum einem Bereich klaffen Anspruch und Wirklichkeit so weit auseinander wie im Gesundheitswesen. Dabei fordert gerade die neue Generation von Ärzt:innen einen strukturellen Wandel ihrer Arbeitswelt. Transformationsprozesse, die sich häufig am Konzept „New Work“ orientieren und bislang eher in Wirtschaftsunternehmen umgesetzt wurden, erreichen zunehmend auch Praxen und Kliniken. Dabei ist New Work „im Gesundheitswesen kein Wunschtraum und für viele Experten nicht mal ein Nice-to-have, sondern eine Notwendigkeit“, konstatiert Carolin Diel in ihrem Artikel „Nichts ist unmöglich“ im Magazin „Richard“ der Deutschen Apotheker- und Ärztebank.

Diese Notwendigkeit ergibt sich unter anderem aus dem immer gravierender werdenden Fachkräftemangel. Während sich schon jetzt abzeichnet, dass bis zum Jahr 2035 voraussichtlich rund 1,8 Millionen offene Stellen im Gesundheitswesen unbesetzt bleiben werden, können sich nur rund 30 Prozent der Ärzt:innen und Pflegekräfte vorstellen, ihren Beruf bis zur Rente auszuüben. Gründe dafür sind vor allem die körperliche Belastung, über die 72 Prozent der Befragten der Studie Fachkräftemangel im Gesundheitswesen 2022 klagen, gefolgt von der psychischen Belastung mit 59 Prozent. Lange Terminwartelisten, volle Praxen und verschobene Operationen bis hin zu komplett geschlossenen Stationen prägen den Arbeitsalltag des ärztlichen und weiteren medizinischen Personals. Dementsprechend denken schon heute viele angestellte Ärzt:innen über einen Berufswechsel nach, wie die Mitgliederbefragung MB-Monitor 2022 des Marburger Bundes zeigt. Ein Viertel der bundesweit 8.464 Befragten bestätigte entsprechende Überlegungen. Zudem werden in den kommenden Jahren viele Beschäftigte im Gesundheitswesen altersbedingt ausscheiden.

Die Entwicklung ist eindeutig und es ist davon auszugehen, dass sich der schon seit längerem spürbare Personalmangel weiter verschärfen wird. Um neue Mitarbeitende zu gewinnen und diese ebenso wie bereits vorhandene langfristig zu halten, müssen sich Arbeitgeber:innen zunehmend von bisher gelebten Modellen lösen. Angebote wie Gleitzeit, 4-Tage-Woche sowie selbstverantwortliches, selbstorganisiertes und wenn möglich auch ortsunabhängiges Arbeiten gehören ebenso zu den Ansätzen von New Work wie die Fragen „Wie wollen wir miteinander umgehen?“ und „Wie wollen wir die Arbeit gestalten?“ Wie Arztpraxen mit den veränderten Anforderungen umgehen können, zeigen beispielsweise die „Hausärzte am Spritzenhaus“ in Baiersbronn in Baden-Württemberg. Das Gesundheitszentrum, das vom Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) mit dem Innovationspreis „Ausgezeichnete Gesundheit 2022“ geehrt wurde, arbeitet unter anderem mit gemischten Teams und gut ausgebildeten MFA, VERAH®, EFA® und Physician Assistants. Zudem wird „eine andere Führung mit einem großen Teamgedanken und flachen Hierarchien“ gepflegt. „So wird ein Signal gegen Fachkräftemangel und Abwanderung gesetzt“, begründete das Zi die Auszeichnung.

Konzeptuelles Modell von New Work-Setting

Quelle: Institut für Arbeitsmedizin, Charité – Universitätsmedizin Berlin (November 2022). Arbeitsdefinition für New Work-Settings

Untersuchungsliege statt Schreibtisch: Co-Working-Spaces für Arztpraxen

Ähnlich und doch ganz anders funktionieren die Co-Working- Spaces des Start-ups Eterno Health. Dr. med. Susanne Tolkemitt, Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe, arbeitet seit April 2023 in den Räumen des Start-ups am Standort Hamburg. Die Entscheidung dazu fiel, als die Praxis, in der sie jahrelang tätig war und die sie eigentlich übernehmen wollte, überraschend an ein Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ) verkauft wurde. Für die eigene Niederlassung mit einer Kollegin fanden sich nur stark renovierungsbedürftige Räume. Deshalb entschieden sich die beiden für den Co-Working-Space, der glücklicherweise innerhalb des vorgeschriebenen Niederlassungsbereichs liegt.

Gegen eine monatliche Miete nutzt Tolkemitt nun ein Facharztzimmer mit entsprechender gynäkologischer Ausstattung. Die Besetzung der Räume wechselt nur, wenn die Ärzt:innen sie nicht jeden Tag nutzen. Im Mietpreis enthalten ist auch das Empfangspersonal, das während der Öffnungszeiten aus medizinisch geschulten Mitarbeitenden und einer erfahrenen Medizinischen Fachangestellten (MFA), der Praxismanagerin, besteht, sowie die Nutzung einer von Eterno Health entwickelten Cloud-Software, die bei der quartalsweisen Abrechnung mit der Kassenärztlichen Vereinigung hilft. Die Beantwortung des Telefons inklusive Terminvergabe wird ebenfalls von Eterno Health übernommen. Der Einsatz einer MFA, zum Beispiel für Blutentnahmen, ist nicht enthalten, kann aber stundenweise gegen Aufpreis gebucht werden.

Die Idee, dass sich verschiedene Fachrichtungen in einem Gebäude niederlassen und eine gemeinsame Infrastruktur nutzen, erinnert zunächst an das bekannte Konzept der großen MVZ. Neu ist, dass die einzelnen Ärzt:innen, Physiotherapeut: innen und Gesundheitsberufe wirtschaftlich unabhängig bleiben. Eterno Health ist nicht am Umsatz der Ärzt:innen beteiligt und gibt nicht vor, was wie abgerechnet werden oder wie hoch die Anzahl der Privatpatient:innen sein muss. Im Gegenteil, das Angebot richtet sich ausdrücklich auch an Ärzt:innen mit einer KV-Zulassung. In den bereits bestehenden Co-Working-Spaces in Hamburg und Frankfurt am Main haben allerdings überwiegend privatärztlich tätige Ärzt:innen Räume angemietet. Ob und wie diese neue Arbeitswelt in Berlin angenommen wird, bleibt abzuwarten: Im März 2025 eröffnet Eterno Health in der Hauptstadt seinen dritten Co-Working-Space; 50 Prozent der Räume sind bereits ausgebucht.

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Transformationsprozesse brauchen Zeit

Den Ruf nach einer engeren Zusammenarbeit der Professionen hat im ambulanten Bereich beispielsweise der Hausärztinnen- und Hausärzteverband gehört. Seit dem 1. Juli 2024 wird in Baden-Württemberg das sogenannte HÄPPI-Konzept erprobt, das unter anderem auf eine stärkere Zusammenarbeit von ärztlichen und nicht-ärztlichen Gesundheitsberufen setzt. HÄPPI, das für „Hausärztliches Primärversorgungszentrum – Patientenversorgung Interprofessionell“ steht, soll im Einzelnen die Rolle von Praxen bzw. Praxisnetzen, deren Strukturen und Arbeitsweisen sowie die Rolle der Patient:innen verändern. Hausarztpraxen vermeiden durch Koordination Unter-, Über- und Fehlversorgung. Mit konsequenter Digitalisierung sollen einerseits Fachkräfte entlastet und andererseits die Sicherheit der Patient: innen noch mehr in den Mittelpunkt rücken.

Bereits nach wenigen Wochen der Pilotphase, die noch bis zum Ende 2024 läuft, zeigt sich, dass Praxen, die das HÄPPI-Konzept umsetzen wollen, die Zusammenarbeit ihres Teams auf allen Ebenen neu strukturieren müssen, um so eine neue Teamkultur zu schaffen. Dazu gehöre auch, dass die beteiligten Ärzt:innen die Unterstützung der anderen Gesundheitsberufe annehmen. Manche Kolleg:innen hätten anfangs Vorbehalte gehabt, da sie befürchteten, dass ihre Patient:innen weniger gut versorgt werden würden, berichtet etwa der hausärztliche Internist Dr. med. Marcus Michna, der als ärztlicher Leiter mit seiner Praxis im Medizinischen Verbund Bottwar (MVB) an der Pilotphase teilnimmt. Um diese Vorbehalte abzubauen, begleitet Michna den Prozess sehr eng und zeigt mit seinem Team, wo nicht-ärztliches Personal unterstützen kann. Michnas wichtigste Erkenntnis aus dem Pilotprojekt lautet bislang: Der Transformationsprozess zu einem HÄPPI braucht Zeit. Aber mit Blick auf die arbeitsorganisatorische und auch demografische Entwicklung sei er notwendig, um zukünftig eine qualitativ hochwertige hausärztliche Versorgung aufrechterhalten zu können.

Mehr zum Thema

Das Team der chirurgischen Station C03 im Klinikum Aschaffenburg-Alzenau trifft alle Entscheidungen selbst – ohne Stations- und Pflegedienstleitung. Wie klappt das? 

Wo es an Fachkräften mangelt und Untersuchungszahlen steigen, setzen immer mehr Kliniken auf Digitalisierung und Künstliche Intelligenz (KI). Insbesondere in der Radiologie kann dies Prozesse optimieren und den Arbeitsalltag entlasten.

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