New Work im Krankenhaus? „Der Aufwand lohnt sich!“

Das Team der chirurgischen Station C03 im Klinikum Aschaffenburg-Alzenau trifft alle Entscheidungen selbst – ohne Stations- und Pflegedienstleitung. Wie klappt das? 

Selbstorganisierte, selbstbestimmte Stationsarbeit im Team

Prof. Dr. med. Hubertus Schmitz-Winnenthal hat wenig Zeit. So wie alle Chefärzt:innen in der Chirurgie. Und doch unterscheidet sich sein Arbeitsplatz deutlich von dem seiner Kolleg: innen in anderen Kliniken. Auf der chirurgischen Station C03 mit dem Schwerpunkt Onkologie im Klinikum Aschaffenburg- Alzenau organisieren die Teammitglieder ihre Arbeit gemeinsam und so, wie es zu ihren Bedürfnissen passt. Ohne Stationsleitung. Ohne Pflegedienstleitung. In Eigenverantwortung. Damit das klappt, müssen sie sich gut abstimmen – also viel miteinander reden. Das hört sich gewagt an. Und Schmitz-Winnenthal nickt: „Ich kann nicht sagen, dass diese Art der Zusammenarbeit die beste seit Erfindung von Softeis ist.“ Trotzdem merkt man ihm die Begeisterung sofort an, wenn er über das Pilotprojekt mit dem Namen „Meine Station“ spricht. „Wir merken immer wieder: Das ist der Weg, das macht Sinn, so funktioniert es besser.“

Motiviert, etwas Neues zu versuchen

Der Weg, von dem Schmitz-Winnenthal spricht, ist die selbstorganisierte, selbstbestimmte Stationsarbeit im Team. Das Pilotprojekt „Meine Station“ im kommunal geführten Krankenhaus Aschaffenburg-Alzenau ist auf seine Initiative hin im Frühjahr 2023 entstanden. Zwei Jahre zuvor hatte er einen Ansatz kennengelernt, mit dem sich Veränderungen hin zu einer bedürfnisorientierten Zusammenarbeit organisieren lassen: The Loop Approach®. Dieser Ansatz wurde von der Berliner Organisationsberatung „The Dive“ erarbeitet. Er nutzt verschiedene Methoden, die es Teams ermöglichen, sich eine Arbeitsumgebung zu schaffen, die zu ihren Bedürfnissen und Zielen passt – wie ein Betriebssystem für einen Computer. Dieser Ansatz überzeugte den Chefarzt, der sich zum Loop Approach Fellow ausbilden ließ. Schmitz-Winnenthal war ohnehin motiviert, etwas Neues zu versuchen, weil ihm längst klargeworden war: „Medizin, so wie wir sie kennen, funktioniert nicht nachhaltig. Wir haben zu viel zu tun. Wir können den Bedürfnissen, die die Mitarbeitenden haben, um den Job gut machen zu können, nicht gerecht werden. Und damit werden wir automatisch auch den Patient:innen nicht gerecht.“

Durch die Corona-Pandemie wurde das Krankenhaus mit Problemen konfrontiert, die wohl jede Klinik allzu gut kennt: Etablierte Teams wurden in alle Richtungen zerstreut, die Frustration war groß, ebenso die Zahl der Aussteiger:innen aus dem Pflegeberuf. Dazu hoher Kostendruck auf das Krankenhaus und damit die Notwendigkeit, noch effizienter zu arbeiten. Alles zusammen hält in vielen Kliniken einen Teufelskreis am Laufen, der die Unzufriedenheit der Mitarbeitenden immer weiter anheizt. Das war in Aschaffenburg-Alzenau nicht anders.

Der Geschäftsführer des Klinikums, Sebastian Lehotzki, hat 2022 mit ungewöhnlichen Maßnahmen begonnen, die Mitarbeiterbindung zu fördern. Er sorgte für Schlagzeilen, als er allen Pflegekräften, die mindestens 50 Prozent arbeiteten, kostenfrei ein E-Auto zur Verfügung stellte. 750 Pflegekräfte beantragten eines, die Klinik gewann 83 neue Fachkräfte und senkte die Fluktuation. Doch solche Maßnahmen sind teuer, und ein Problem bleibt: Arbeitsbedingungen, mit denen viele Krankenhausmitarbeitende nicht glücklich sind. Sebastian Lehotzki nahm die Frage ernst, die sich die Belegschaft stellte: Wollen wir wirklich so arbeiten, wie wir arbeiten? Dabei war er anfangs durchaus skeptisch, als ihm Schmitz-Winnenthal seine Idee vorstellte. Wie kann eine Station ohne Stations- oder Pflegedienstleitung sicherstellen, dass Patient:innen angemessen versorgt werden? Wer entscheidet, wenn nicht eine oder einer den Hut aufhat, sondern alle?

„Meine Station“ ist kein typisches Projekt für die Entwicklung einer selbstbestimmten Arbeitsorganisation. Denn das Team, das den Transformationsprozess durchlaufen sollte, gab es noch gar nicht. Für das Pilotprojekt am Klinikum Aschaffenburg-Alzenau musste es erst gefunden werden. Das war auch für die erfahrenen Organisationsentwickler:innen von „The Dive“ Neuland.

Medizin, so wie wir sie kennen, funktioniert nicht nachhaltig. Wir haben zu viel zu tun. Wir können den Bedürfnissen, die die Mitarbeitenden haben, um den Job gut machen zu können, nicht gerecht werden. Und damit werden wir automatisch auch den Patient:innen nicht gerecht.

Prof. Dr. med. Hubertus Schmitz-Winnenthal,
Chefarzt der Chirurgischen Klinik I, Allgemein-, Viszeral- und Gefäßchirurgie, Klinikum Aschaffenburg-Alzenau
Prof. Dr. med. Hubertus Schmitz-Winnenthal

„Echte Pioniere“ gesucht

Johanna Stecher ist Gesundheits- und Krankenpflegerin und verließ kurz nach ihrer Ausbildung den Pflegeberuf wieder. „Ich konnte mir damals nicht vorstellen, bis zu meiner Rente so zu arbeiten.“ Also studierte sie Betriebswirtschaftslehre und arbeitete einige Zeit als Projektmanagerin für Digitalisierungsprojekte im Gesundheitswesen. Doch für das Pilotprojekt „Meine Station“ kehrte sie in die Pflege zurück und sagt heute: „Es ist total schön. Ich arbeite zum größten Teil direkt mit den Patient:innen am Bett. Aber ich habe auch übergeordnete Aufgaben.“ Stecher bewarb sich 2022 auf die Stellenanzeige des Klinikums, in der „echte Pioniere“ gesucht wurden – als eine von über 70 Fachkräften, die sich in Aschaffenburg meldeten. Sie ließ sich nicht davon abschrecken, dass eine Voraussetzung für die Anstellung die Teilnahme an mehreren Workshops war. Dort lernten die Interessierten The Loop Approach® kennen und konnten sich danach entscheiden, ob sie wirklich auf der Station anfangen wollten. Dabei war zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht klar, wie genau die Selbstorganisation aussehen würde. Das Team der Station musste ja erst noch zusammengestellt werden und sollte dann selbst entscheiden, welche Regeln es sich geben will. Das war wie der Aufbruch zu einer Reise, deren Ziel zwar grob feststand – selbstorganisiert arbeiten –, für die aber die Reiseroute noch gefunden werden musste.

Zur gleichen Zeit begann Schmitz-Winnenthal den Ärzt:innen in der Allgemein-, Viszeral- und Gefäßchirurgie seinen Ansatz näherzubringen. Dem Chefarzt war schnell klar geworden, dass Ärzt:innen und Pflegekräfte bei diesem Prozess zusammengehören. Unterstützt wurde er von Felix Herter von „The Dive“ und von Nadja Nardini, einer freiberuflichen Beraterin für Organisations- und Teamentwicklung.

Es ist total schön. Ich arbeite zum größten Teil direkt mit den Patient:innen am Bett. Aber ich habe auch übergeordnete Aufgaben.

Johanna Stecher,
Gesundheits- und Krankenpflegerin, Klinikum Aschaffenburg-Alzenau
Johanna Stecher

„Was brauchst Du?“

Insgesamt bewarben sich 70 Prozent des „Meine Station“-Teams neu am Klinikum, 30 Prozent wechselten von anderen Stationen zur C03. Das neue Team legte in Workshops gemeinsam fest, wie der Dienstplan, die Versorgungskette und die Abläufe gestaltet werden sollen, und definierte einen gemeinsamen Purpose. Er lautet: „Wir fördern und erhalten die Gesundheit von Patient:innen, indem wir mit Professionalität, Qualität und Menschlichkeit neue Strukturen schaffen, die das Wohl der Patient:innen als auch die Bedürfnisse unseres Teams berücksichtigen.“ Oder anders gesagt: Das Team nimmt sich mehr Zeit für sich selbst, um mehr Zeit für die Patient:innen zu haben. Um das zu bewerkstelligen, nutzt es verschiedene Besprechungsformate, die es in den Workshops kennengelernt hat. Vor der üblichen Übergabe tauschen sich die Diensthabenden in einem „Check-in“ darüber aus, wie es ihnen an diesem Tag geht: Was hat sie vor dem Dienst beschäftigt? Wie ist die Stimmung? Gibt es etwas Belastendes oder etwas Schönes, das ihre Arbeitsleistung beeinflussen könnte? Kurz: Was bindet gerade ihre Aufmerksamkeit? Um Themen zu bearbeiten, nutzt das Team das Konzept des „spannungsbasierten Arbeitens“. Spannungen können dabei unterschiedliche Dinge sein, wie zum Beispiel Fragen, Unsicherheiten oder auch einfach Informationen.

Professor Schmitz-Winnenthal sagt: „Das Fundament für spannungsbasiertes Arbeiten ist die Frage ‚Was brauchst Du?‘ Sie sorgt dafür, dass man Selbstwirksamkeit erleben kann – das ist das A und O für uns. Wir wollen uns in einer Art und Weise um die Patient:innen kümmern, dass wir selbst daran wachsen und uns nicht daran verbrauchen.“ Die Stationsaufgaben werden in Kreisen zusammengefasst, zum Beispiel „Personalangelegenheiten oder Stationäre Versorgung“ und auf unterschiedliche Rollen verteilt, zum Beispiel „Dienstplan-Master“ oder „Kommunikations-Unterstützer:in“. Wer welche Rolle übernimmt, entscheidet das Team gemeinsam. Ebenso, wie oft die Rollen gewechselt werden. Für manche Rollen ist es gut, wenn sie längere Zeit mit ein und derselben Person besetzt sind, für andere Rollen ist ein täglicher Wechsel besser. Zurzeit arbeiten 42 Leute auf der Station, darunter auch Physiotherapeut: innen und Physician Assistants. Letztere sind ein wichtiges Bindeglied zwischen dem Stationsteam und den Ärzt:innen, die viel operieren müssen und deshalb nicht immer so präsent auf der Station sein können, wie sie es sich wünschen. Insgesamt wünscht sich Schmitz-Winnenthal mehr ärztliche Mitarbeit im selbstorganisierten Team. „Wir brauchen noch mehr Zeit in dem Prozess, um die Mitarbeit zu harmonisieren. In den Visiten funktioniert das aber schon ganz gut.“ Ärzt:innen und Pflege kommen sich Schritt für Schritt näher. Mediziner:innen nehmen an „Check-ins“ und anderen Meetings teil und jemand von der Pflege geht zu den ärztlichen Übergaben.

Die Visiten finden übrigens nicht am Bett der Patient:innen statt, sondern in „Sprechstunden“. Die Patient:innen kommen dafür ins Untersuchungszimmer. Es gibt nur sehr wenige Patient: innen, die es nicht dahin schaffen. „Das hat mich selbst überrascht“, sagt der Chefarzt. Alle im Team arbeiten daran, dass die Patient:innen so schnell wie möglich so selbstständig wie möglich werden. Unterstützt wird dieses Ziel dadurch, dass das Essen nicht auf den Zimmern serviert wird. Dafür gibt es ein Bistro, einen Raum, den das Team bei der Gründung von „Meine Station“ selbst geplant und gestaltet hat. Auch die Entscheidung dafür traf das Team selbst. Die Patient:innen essen gemeinsam oder holen sich zumindest ihre Mahlzeiten im Stations-Bistro ab. Frühstück gibt es bis 9 Uhr, wann sie essen wollen, entscheiden die Patient:innen selbst. Insgesamt gibt es auf der Station mehr Kontakt zu den Patient:innen – und mehr Zeit für Gespräche. „Die Patient:innen feiern uns sehr“, freut sich Schmitz-Winnenthal. So kommen die Patient:innen nach Möglichkeit schon vor ihrem Krankenhausaufenthalt mit dem Team in Kontakt, werden über den Ansatz informiert und darauf eingestimmt, dass sie eine wichtige Rolle bei ihrer Genesung spielen. Wie gut das ankommt, überprüft das Team durch einen Fragebogen, den die Patient:innen bei der Entlassung ausfüllen.

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Auf die Strategien kommt es an

Stefanie Schwinger wechselte von einer anderen Station in Aschaffenburg auf „Meine Station“. Sie hatte ab 2011 ihre Ausbildung zur Kinderkrankenschwester im Klinikum absolviert und war während der Pandemie in den Erwachsenenbereich gewechselt. Ähnlich wie Stecher merkte sie irgendwann, dass sie unter den Arbeitsbedingungen litt. Dabei betont Schwinger: „Pflege ist einfach das, was ich gerne mache, was mir Spaß macht.“ Deshalb zögerte sie nicht lange, als sie von dem Pilotprojekt erfuhr. Sie wurde wie wohl alle, die im Gesundheitswesen arbeiten, mit der Prämisse sozialisiert, dass das Wohl der Patient:innen an erster Stelle steht. Die Frage nach dem, was die Mitglieder des Teams brauchen, damit sie auch wirklich für das Wohl der Patient:innen sorgen können, ist für Schwinger der Kern des selbstorganisierten Arbeitens auf Station. Doch wie sieht das in der Praxis aus? Muss bei jeder Routineaufgabe, wie zum Beispiel Blutabnehmen, erst einmal die Frage geklärt werden, was die Person, die diese Aufgabe übernehmen soll, dafür braucht? Das ist kaum vorstellbar.

Schmitz-Winnenthal erklärt: „Es geht bei der Frage eher um die Haltung, die erforderlich ist, um eine Aufgabe gut erledigen zu können. Es geht darum, sagen zu können: ‚Wenn du willst, dass ich das jetzt mache, dann brauche ich dafür aber xy.‘ Dieses xy können ganz unterschiedliche Dinge sein.“ Jemand, der das Blutabnehmen noch übt, braucht neben den Utensilien vielleicht noch Anleitung, Begleitung oder Kontrolle. Oder eine Bestätigung, dass es in Ordnung ist, jetzt eigenverantwortlich Blut abzunehmen. Jemand, der die Blutabnahme beherrscht, aber gerade noch viele andere Dinge zu tun hat, braucht die Sicherheit, dass alle Utensilien zur richtigen Zeit am richtigen Ort sind – und die Gewissheit, dass alles rechtzeitig aufgefüllt wird. Doch was, wenn es schiefgeht? Wenn sich der Ungeübte überfordert fühlt oder der Profi ein leeres Kanülenfach vorfindet? In solchen Situationen ist es wichtig, dass das Team Strategien hat, um mit den entstehenden Spannungen umzugehen.

Stecher sagt: „Wichtig ist zu verstehen, dass sich die Bedürfnisse eigentlich nicht unterscheiden. Wir haben alle dieselben Bedürfnisse. Was sich unterscheidet, sind die Strategien, mit denen wir versuchen, unsere Bedürfnisse zu erfüllen.“ Das ist auch typabhängig. Manche Menschen suchen aktiv das Gespräch, um Lösungen zu finden, andere denken lieber für sich allein nach. Oft geht es bei Spannungen im Stationsalltag nicht um pragmatische Dinge wie Blutabnehmen, sondern um unterschiedliche Informationsstände, Werte oder Befindlichkeiten. Wie findet man dafür eine Sprache? Ein und dieselbe Situation kann unterschiedliche Spannungszustände erzeugen, je nachdem, ob jemand gerade Kopfschmerzen hat oder ausgeschlafen und gut gelaunt ist.

Mit den Patient:innen in den Dialog gehen

„Erwarte ich dann, dass sich der Chef darum kümmert, oder fühle ich mich selbst verantwortlich dafür, mein Problem zu lösen?“ Für Schmitz-Winnenthal ist das eine grundsätzliche Frage. Nicht alle Menschen lösen ihre Probleme am liebsten selbst. Er sagt: „Eigentlich ist das bei uns wie in einem Fitnesscenter. Man kann quasi seine Selbstwirksamkeitsmuskeln trainieren.“ Die Erfahrung, selbstwirksam zu sein, ist ein Schlüssel für zufriedeneres Arbeiten. Das betonen auch die beiden Pflegefachfrauen im Gespräch. Selbstorganisiert zu arbeiten bedeutet zwar, sich selbst um Lösungen für Probleme kümmern zu müssen. Das ist durchaus ein Mehraufwand und kommt zusätzlich zu allen Aufgaben, die auf einer Station anfallen, noch obendrauf. „Aber“, so Stecher, „dieser Mehraufwand hat sich für mich ziemlich schnell nach Selbstwirksamkeit angefühlt. Und das motiviert mich sehr stark. Das ist etwas sehr Positives.“

Auch der Kontakt zu den Patient:innen verändert sich dadurch. Schwinger erzählt: „Wenn ich einen Patienten habe, der alle zehn Minuten klingelt, aus welchen Gründen auch immer, dann habe ich dadurch einen Mehraufwand und kann mich nicht um den Rest kümmern. Ich komme nicht weiter. Ich kann dann frustriert sein und mich fragen: Warum klingelt der schon wieder? Wenn ich aber mit dem Patienten in den Dialog gehe und herausfinde, was er braucht, damit es ihm besser geht, kann ich ihm ganz gezielt helfen.“ Sie ist der Meinung, das minimiere letzten Endes ihre Arbeit und entlaste sie. Dieser Ansatz helfe auch den Patient:innen, denn es sorge dafür, dass sie sich nach einer Operation schneller wieder selbst versorgen können. „Sich um die eigenen Bedürfnisse zu kümmern, widerspricht nicht dem Ziel, für die Patient:innen zu sorgen, im Gegenteil“, betont sie.

Mehr Selbstwirksamkeit – mehr Selbstvertrauen

Trotz aller Vorteile: Nicht alle finden diese Herangehensweise attraktiv oder können sie so umsetzen, wie sie eigentlich wollen. Schmitz-Winnenthal räumt ein: „Das hat sich in unserem Prozess auch herauskristallisiert. Wir haben schon Situationen gehabt, da mussten wir jemandem sagen: ‚Überleg mal, warum du hier bist. Willst du das so? Ist das das Richtige für dich?’“ Und Schwinger bestätigt: „Das muss man schon für sich selbst klären: Ist der Preis für die Selbstwirksamkeit zu hoch? Vielleicht möchte man sehr gerne an so einem Projekt teilnehmen, schafft es aber nicht. Ich glaube, das ist eine echte Gratwanderung.“ Stecher sieht das auch so: „Personen, die später dazugekommen sind, die die Workshops also am Anfang nicht mitmachen konnten, waren schneller überfordert, weil sie die Methoden nicht so gründlich kennengelernt haben.“ Dafür hat das Team aber Lösungen gefunden, indem es ein Patensystem eingeführt hat. Dadurch haben unerfahrenere Mitarbeitende immer feste Ansprechpersonen.

Das Prinzip, dass alle Vorschläge machen können, wenn etwas nicht so gut klappt, bewährt sich in der Praxis. Und sorgt auch für mehr Selbstvertrauen bei den Pflegefachkräften. Es kommt vor, dass Ärzt:innen zurückgespiegelt bekommen, wenn die Kommunikation missglückt ist oder dass die Pflege sagt: Wir wollen ein anderes Format für die Visite. Damit daraus keine Konflikte entstehen, die sogar aus dem Ruder laufen, halten sich alle im Team an bestimmte Regeln, zum Beispiel an die der gewaltfreien Kommunikation. Insgesamt sind Regeln, Rituale und Rollen sehr wichtig, damit alle wissen, was sie wann zu tun haben. Auch Hierarchien sind nicht gänzlich abgeschafft. Aber sie beziehen sich nicht auf Personen, sondern auf Regeln und Rollen – die durch einen gemeinsamen Beschluss jederzeit geändert werden können.

Wie sieht die Bilanz aus?

Die Station wurde bereits mehrfach ausgezeichnet, zum Beispiel mit einer Medaille des Bayerischen Gesundheitsministeriums. Doch eignet sich das Konzept auch für andere Stationen oder für ein ganzes Krankenhaus? Der Geschäftsführer in Aschaffenburg glaubt, dass „Meine Station“ ein Gamechanger sein kann und im Gesundheitswesen bald Schule macht. Die ambulante urologische Station in Achaffenburg hat bereits einige Elemente übernommen und Johanna Stecher weiß, dass es auch anderswo Pläne gibt – wo, will sie allerdings noch nicht verraten. Vieles spricht dafür, dass die Aschaffenburger:innen mit ihrer Einschätzung richtig liegen. Mehr Zufriedenheit auf der Station, bessere Zusammenarbeit von unterschiedlichen Berufsgruppen und selbstständigere Patient:innen, die sich mitverantwortlich fühlen. Aber was ist mit den Kosten? Schließlich erfordert Selbstorganisation auch einen gewissen Mehraufwand, der zulasten der Arbeitszeit geht. Diese Frage kann Schmitz-Winnenthal noch nicht sicher beantworten, auch weil es schwierig ist, die Aufwände für Sitzungen und Schulungen in den Abrechnungsmodellen zu beziffern. Er glaubt aber, dass es am Ende nicht mehr Geld kostet, weil weniger Mitarbeitende krank werden und kündigen. Das ist für ihn ein Grund mehr zu sagen: „Der Aufwand lohnt sich!“

Sich um die eigenen Bedürfnisse zu kümmern, widerspricht nicht dem Ziel, für die Patient:innen zu sorgen, im Gegenteil.

Stefanie Schwinger,
Pflegefachperson
Stefanie Schwinger

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