„Wohin wird die Reise gehen?“
„Wohin wird die Reise gehen? Wo sehen wir uns als Ärztinnen und Ärzte in einigen Jahren, und welche Implikationen hat Künstliche Intelligenz (KI) – nicht nur für unseren ärztlichen Alltag, sondern auch für unsere Patientinnen und Patienten?“ Mit diesen Fragen eröffnete der Moderator Dr. med. Pedram Emami, MBA, die Diskussion zu „KI konkret im ärztlichen Alltag“ auf dem Dialogforum mit jungen Ärztinnen und Ärzten des 129. Ärztetags in Leipzig. Auf dem Podium saßen vier Ärzt:innen, die ganz unterschiedliche Perspektiven zu diesen Fragen einbringen konnten. Aber auch das Publikum war – wie es gute Tradition beim Dialogforum ist – eingeladen, mitzudiskutieren.
Und dieses Publikum beeindruckte die Organisator:innen des Formats in diesem Jahr aus mehreren Gründen. Erstens nahmen mehr Menschen als in den zurückliegenden Jahren am Dialogforum teil, das stets einen Tag vor dem offiziellen Programm des Ärztetags stattfindet. Zweitens strahlten diese Menschen etwas aus, das der Moderator gleich zu Beginn als wünschenswert für alle weiteren Veranstaltungen des Ärztetags hervorhob: „Diese Vielfalt an Geschlecht, Alter und Hautfarbe: Die wünsche ich mir für den deutschen Ärztetag in toto.“ Und drittens brachte das Publikum im Laufe der Diskussion ganz unterschiedliche Antworten auf die Fragen ein, die die Organisator:innen als entscheidend identifiziert hatten.
Da das Thema „KI”, mit dem sich der diesjährige Ärztetag schwerpunktmäßig befasst, oft sehr abstrakt ist, hatten alle Anwesenden vor der Diskussion Gelegenheit, sich mit konkreten Projekten auseinanderzusetzen – Projekte, die sehr unterschiedliche Lösungen für Probleme im ärztlichen Alltag anbieten und dabei auch unterschiedliche Ansätze nutzen. Vorgestellt wurden sie von fünf Referent:innen, die zum Teil auch selbst Ärzt:innen sind.
Die Impulsvorträge
Im ersten Vortrag wurde erklärt, wie ein Chatbot funktioniert, der Brustkrebspatient:innen nach der Diagnose dabei hilft, informierter und damit besser durch die verschiedenen Behandlungsabschnitte zu kommen. Dr. med. Dr. rer. pol. Sebastian Griewing von der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe der Universitätsklinik Gießen und Marburg am Standort Marburg und sein Team legten dafür die S3-Leitlinie für Mammakarzinome zugrunde. Für die Strukturierung und Überführung des Leitlinientextes in einen Chatbot nutzten sie eine Künstliche Intelligenz (KI) und ein Large Language Model (LLM) à la ChatGPT. Den Entwickler:innen war es wichtig, dass der Chatbot lokal und datensicher aufgesetzt ist und die abgegebenen Erklärungen nachvollziehbar referenziert und somit transparent sind. Die Erfahrungen in der onkologischen Gynäkologie am Universitätsklinikum Marburg sind so positiv, dass KI-basierte Chatbots auch für weitere onkologische Indikationen eingesetzt werden sollen.
Constanze Stypula, CEO der Jameda GmbH, stellte einen KI-Assistenten vor, der die medizinische Dokumentation übernimmt. „Noa Notes“ zeichnet das Gespräch zwischen Ärzt:innen und ihren Patient:innen auf, überführt es in Textform, strukturiert die Informationen in Textbausteinen und speichert auf Wunsch alles als Epikrise oder Arztbrief ab. Die cloudbasierte Lösung nutzt erprobte Dienste des Tech-Unternehmens OpenAI für die Transkription und Textstrukturierung. Das Tool erkennt mehrere Sprachen, übersetzt sie ins Deutsche und soll bald auch den erzeugten Text in ICD-Codes übertragen und mit Abrechnungsziffern verknüpfen können.
Wie lassen sich Komplikationen auf der Intensivstation besser vorhersagen? Mit dieser Frage beschäftigte sich der nächste Vortrag von Dr.-Ing. Florian Hellmeier, Ingenieur und Arzt bei der Firma x-cardiac GmbH. Ein Beispiel aus der Praxis zeigte anschaulich den Unterschied zwischen den Diagnosefähigkeiten von Menschen und einer maschinellen Auswertung der Daten: Die Vitalparameter eines Patienten, der reanimiert werden musste, hatten den Vorfall einige Augenblicke vor dem lebensbedrohlichen Ereignis zwar angezeigt, das war aber nicht aufgefallen, da die Werte noch unter einem alarmierenden Schwellenwert geblieben waren. Das Tool kann bereits aus Routinedaten in Echtzeit postoperative Blutungen nach herzchirurgischen Eingriffen sowie akute Nierenschäden vorhersagen und ermöglicht dem intensivmedizinischen Team so schneller einzugreifen. Weitere Indikationen sollen folgen.
Am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) verbringen Ärzt:innen jährlich rund 40.000 Stunden mit dem Schreiben von Arztbriefen. Diese Rechnung stellte Dr. med. Nils Schweingruber, Neurologe und Geschäftsführer der IDM gGmbH, auf. Sie basiert auf einer Statistik, der zufolge Ärzt:innen pro Woche ungefähr zehn Stunden mit dem Schreiben von Briefen verbringen. Er fragte sich, wie man diesen enormen Zeitaufwand reduzieren könne, und entwickelte mit den Patientendaten des UKE ein Sprachmodell namens Argo, das automatisch Epikrisen aus Behandlungsdaten erzeugt. Die Mission des Unternehmens geht jedoch noch weiter: Die Lösung soll allen Kliniken als Cloud-Angebot (Aureon-Cloud) im Open-Source-Verfahren zur Verfügung gestellt werden, sodass sie das Sprachmodell mit ihrer eigenen Datenbasis betreiben können.
Ob Daten aus der elektronischen Patientenakte, dem Krankenhaus-Informations-System, der Praxisverwaltungssoftware, aus digitalen Gesundheitsanwendungen oder Labordaten – im Gesundheitswesen werden an vielen Stellen Daten erzeugt. Diese lassen sich allerdings oft nur schwer zwischen den einzelnen Anwendungen austauschen. So entstehen „Datensilos“, die sich nur mithilfe einer geeigneten Infrastruktur aufbrechen lassen. Solche Infrastrukturen sorgen für die sogenannte Interoperabilität, also dafür, dass sich unterschiedliche Systeme miteinander „unterhalten“ können. Der Austausch von Daten – beispielsweise für gemeinsame Forschungsprojekte – ist nicht nur im deutschsprachigen Raum eine enorme Herausforderung. Alle EU-Staaten müssen diese gemeinsam bewältigen, wenn sie europaweit Daten austauschen möchten.
Eine Voraussetzung für datengetriebene Verbesserungen in der Patientenversorgung ist, dass die Anwender:innen miteinander vernetzt sind, die Daten strukturiert vorliegen und es einheitliche Standards für Datenerhebung und -verarbeitung gibt. Lennart Janzen von der Firma Tiplur stellte eine Lösung für Verständigungsprobleme vor: eine Patientenakte, die Datensilos aufbricht. So können bereits jetzt Versorgungsdaten aus zehn angeschlossenen Universitätskliniken in Deutschland für das Training von KI-Anwendungen, für Analysen und für gemeinsame Forschungsprojekte genutzt werden. Außerdem erleichtert diese Patientenakte die Abrechnung von Krankenhausfällen und unterstützt Therapieentscheidungen, indem sie etwa relevante Verdachtsdiagnosen anzeigt.
Nach so viel Input aus fünf Vorträgen hatten die Teilnehmer:innen des Dialogforums in einer aktiven Pause die Gelegenheit, die vorgestellten Tools näher kennenzulernen. Eine Ausstellung und interaktive Live-Vorführungen brachten das Publikum mit den Vortragenden in Kontakt. Das war wichtig, um sich in der anschließenden Fishbowl-Diskussionsrunde besser über die Chancen und Schwierigkeiten von KI-Lösungen für den ärztlichen Alltag austauschen zu können.
Wie verändert KI den ärztlichen Alltag nun konkret?
Auf diese Frage gibt es viele Antworten – abhängig davon, welche Aufgaben im ärztlichen Alltag gerade wichtig sind. Die Interpretation von Bildern aus radiologischen Verfahren? Die Vorhersage von Notfallsituationen? Forschungskollaborationen? Oder die Vereinfachung von Dokumentationen, Therapieentscheidungen, Patientenkommunikation und Abrechnungen? KI eröffnet unzählige Möglichkeiten – schon jetzt.
Das zeigte die Fishbowl-Diskussion, bei der vier Ärzt:innen – ergänzt durch Beiträge aus dem Publikum – darüber diskutierten, was sie an KI und Digitalisierung schätzen und was sie eher abschreckt. Dabei wurde aber auch deutlich, dass es für den sinnvollen Einsatz im Alltag noch viele Hürden gibt – von fehlender Interoperabilität bis hin zur mangelhaften Expertise bei Entscheidungsträger:innen.
Auf dem Podium
- PD Dr. med. Peter Bobbert, Präsident der Ärztekammer Berlin, Facharzt für Innere Medizin und Kardiologie, Co-Vorsitzender im Ausschuss Digitalisierung in der Gesundheitsversorgung bei der Bundesärztekammer
- Dr. med. Michael Müller, Geschäftsführer Labor 28 GmbH, Facharzt für Laboratoriumsmedizin in Berlin
- Dr. med. Carina Vorisek, M.Sc., ECFMG, Allgemeinmedizinerin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin Berlin Institute of Health at Charité (BIH)
- Dr. med. Julia Fritz, Fachärztin Allgemeinmedizin, niedergelassene Hausärztin in Dresden und Vorsitzende der Vertretung der sächsischen jungen Ärztinnen und Ärzte
Moderiert wurde die Diskussion von Dr. med. Pedram Emami, MBA, Präsident der Ärztekammer Hamburg, Facharzt für Neurochirurgie.
Dafür brauchen wir aber auch die Expertise. Wenn wir uns die Weiterbildungsordnung anschauen, werden wir wahrscheinlich viele Punkte finden, wo wir sagen: Das kann KI mindestens genauso gut.
So berichtete etwa die Hausärztin Dr. med. Julia Fritz, dass es für Arztpraxen kein Problem mehr sei, Arztbriefe auszutauschen. Sie müsse jedoch immer noch drei Wochen auf die Briefe aus den Kliniken warten, da diese per Post und nicht per KIM geschickt würden. Zwar würden Patient:innen inzwischen viele digitale Anwendungen gut akzeptieren, allerdings glaubt Fritz, dass Sprachmodelle, die das Wesentliche aus Gesprächen automatisch dokumentieren, die Patient:innen derzeit noch überfordern würden.
Der Laborarzt Dr. med. Michael Müller betonte, wie wichtig es ist, dass ärztliche Tätigkeiten technisch unterstützt werden. In seinem Fachbereich sorgen sie schon lange dafür, dass der steigende Bedarf an Labordaten auch bedient werden kann. Entscheidend sei dabei aber, dass Ärzt:innen auch in der Lage sind, die Qualität der Ergebnisse zu beurteilen. Digitale Anwendungen und KI dürften nicht über Behandlungen entscheiden, der Kern des Arztberufes müsse erhalten bleiben.
PD Dr. med. Peter Bobbert, der Präsident der Ärztekammer Berlin, unterstrich die Bedeutung der Qualitätssicherung und gab zu bedenken: „Dafür brauchen wir aber auch die Expertise. Wenn wir uns die Weiterbildungsordnung anschauen, werden wir wahrscheinlich viele Punkte finden, bei denen wir sagen: Das kann KI mindestens genauso gut.“ Aus seiner Sicht ist es deshalb auch eine entscheidende Aufgabe der Kammern, die medizinische Expertise zu bewahren – selbst dann, wenn diese im Alltag kaum noch angewendet wird. Das ist derzeit noch Zukunftsmusik, dennoch müssten jetzt die Weichen dafür gestellt werden, so Bobbert mit Nachdruck. Für ihn ist es wichtig, dass die Kammern dementsprechend schnell handeln.

Fishbowl-Diskussion zur Frage „KI konkret im ärztlichen Alltag“
Foto: Ole Eggert
Die Diskussion der Frage, was KI konkret für den ärztlichen Alltag bedeutet, zeigte, dass die Technik derzeit fasziniert, aber auch abschreckt.
Wie wollen wir KI nutzen – und wie nicht?
Dr. med. Carina Vorisek betonte, wie wichtig es ist, dass die Ärzteschaft jetzt eine gemeinsame Vision entwickelt, wie sie KI nutzen will – und wie nicht. Sie glaubt zwar nicht, dass der Arztberuf ersetzbar ist, ist sich aber sicher, dass ärztliche Entscheidungen durch KI sicherer und besser werden. „Ich bin mir sicher, dass technologisch möglich ist, was wir uns wünschen. Wir müssen es nur klar formulieren“, sagt sie.
Stimmen aus dem Publikum zeigen, dass sich viele Ärzt:innen auch Sorgen um ihre Rolle machen. Sie befürchten beispielsweise, dass das Vertrauensverhältnis zu den Patient:innen leidet. Eine Hausärztin wirft ein: „Erzählen mir meine Patient:innen noch, was sie im Alltag belastet und welche Fantasien das bei ihnen auslöst? Wenn sie das nicht mehr tun, weil eine KI mitschreibt, wird Medizin wahrscheinlich schlechter und nicht besser.“
Eine andere Frage lautete: Was passiert, wenn Patient:innen nicht von der Ärztin oder dem Arzt, sondern von einer Maschine über eine mögliche Erkrankung informiert werden? So realisierte etwa ein niedergelassener Dermatologe erst durch die erschrockenen Gesichtsausdrücke seiner Patient:innen, dass er sie vor dem Einsatz einer KI-basierten Diagnosesoftware darüber aufklären muss, was rot aufleuchtende Markierungen auf dem Bildschirm bedeuten und was nicht.
Überraschende Möglichkeiten
„Ist es eigentlich ethisch vertretbar, KI nicht einzusetzen, wenn sie bessere Ergebnisse liefert?“, lautete zudem eine Frage aus dem Publikum. Außerdem wurde ein weiterer Aspekt angesprochen, der viele Ärzt:innen beschäftigt: Verdienen Ärzt:innen noch genug Geld, wenn die KI immer mehr Leistungen übernimmt, die per GOÄ abrechnungsfähig sind? Und wie können die Investitionen für KI-Tools gestemmt werden? Alles Fragen, auf die es aktuell noch keine Antworten gibt.
Diese Beispiele zeigen jedoch, dass die Digitalisierung und Künstliche Intelligenz womöglich nicht in erster Linie zu einer (Über-)Technisierung des ärztlichen Alltags führen, sondern die Bedeutung des empathischen und partnerschaftlichen Gesprächs mit den Patient:innen stärken. Über den Kern des Arztberufs herrschte am Ende der Veranstaltung wenig Dissens: Alle wünschen sich, ihren Patient:innen möglichst gut helfen zu können, und hoffen, dass KI sie dabei unterstützt – aber nicht ersetzt.
Zum Abschluss der Diskussion fragte Moderator Emami etwas provokativ: „Bei allem Respekt vor den Anwesenden: Halten wir die biologische Intelligenz für kompetenter, wenn es um Empathie geht?” Aus dem Publikum kam die Antwort, dass die Technik vielleicht auch Überraschendes bewirke: „Durch KI wird die Menschlichkeit noch wichtiger.“