Neulich in einem Berliner Notfall-Krankenhaus
Mühsam nur heben sich die Augenlider von Herrn W., als ich ihn laut anspreche. Er atmet schwer und tief – deutlich höre ich das Brodeln, das mir der Notarzt bereits angekündigt hatte. Hinter der Sauerstoffmaske sehe ich blaue Lippen, der Ton des Pulsoximeters ist sehr schnell, unregelmäßig und zu tief. Der alte Mann schaut gläsern an mir vorbei, scheint nur noch aus Müdigkeit und Atmen zu bestehen. „Und was hat er sonst noch so?“, frage ich den Notarzt, der auf dem Gang tiefenentspannt sein Protokoll ausfüllt. „Keine Ahnung. Im Heim wussten die auch nur, was auf dem Pflegeüberleitungsbogen steht“. Er liest vor: „Zustand nach Schlaganfall mit Hemiparese und Schluckstörung, PEG-Anlage, Hypertonus, fraglich Demenz, Zustand nach Delir – und dann die 15 Medikamente. Kontakt: Schwester und Betreuer. Die hat aber keiner erreicht.“ Es ist Sonntagabend kurz nach 23 Uhr – im Ersten sind die ‚Tagesthemen‘ gerade zu Ende. „Er soll vor kurzem erst im Krankenhaus gewesen sein. Wo weiß ich auch nicht. Die PEG war wohl nicht in Ordnung. Und irgendwas mit Blutung“, ergänzt der Notarzt. „Gibt es eine Notfallverfügung?“, frage ich noch. „Äh? Nee … was ist das denn?“ Er verabschiedet sich achselzuckend mit den Worten: „Du kriegst das schon hin.“
Die nichtinvasive Beatmungsmaske verschafft mir Zeit für Diagnostik. Dann rufe ich meinen Hintergrund an: „78 Jahre, Lobärpneumonie rechts, wahrscheinlich aspiriert, er hat eine PEG und brodelt, Leukos sind 20.000, kein Urin, jetzt schon etwas Katecholamine, Blutkulturen sind weg, Antibiose läuft. [Pause] Was soll ich machen? Intubieren, wenn er sich nicht hält?“ Meine Oberärztin sagt: „Wissen wir denn nichts über den Mann selbst? Keine Notfallverfügung? Patiententestament? Irgendwas?
[Pause]
Oh je! Na schön, dann also erst mal bis morgen Volldampf weiter – was bleibt uns übrig?!“ Um kurz nach 3 Uhr wird Herr W. intubiert. Wir sind alle sehr still, Schwere hängt in der Dunkelheit, eine Kollegin verlässt mit einem kaum merklichen Kopfschütteln langsam das Zimmer.
Als es hell wird im grau verhangenen Berlin, beende ich meine Übergabe an den Frühdienst. Werde ich Herrn W. heute Abend wiedersehen, wenn ich wieder zur Schicht komme? Im Gehen höre ich die OP-Koordinatorin dem Neurochirurgen erklären, dass es für die Glioblastom-OP heute wohl kein Bett mehr geben wird.
Abends ist das Zimmer von Herrn W. leer. Nach der Übergabe frage ich nach. „Na ja, wir haben mit der Schwester in Hessen gesprochen. Die sagte, er wollte nicht mehr in ein Krankenhaus. Seit sieben Jahren ist er bettlägerig in diesem Heim. Die PEG hat er seit dem Schlaganfall damals; hat aber immer Probleme gemacht. Der Betreuer hat sich später auch noch gemeldet, konnte erst seine Akte nicht finden, meinte dann aber, dass er keinerlei weitere Therapie mehr haben wollte.“ – „Und?“, frage ich. „Alle waren sich einig, dass eine weitere Therapie weder sinnvoll noch in seinem Sinne ist … er ist dann gegen 12 Uhr gestorben.“
Das Telefon klingelt; es ist der Notarzt von gestern und fragt nach einem freien Bett …
Kein Einzelfall im Krankenhausalltag
Eine:r von zehn Notfall-Patient:innen in Deutschland leidet an einer chronischen oder lebenslimitierenden Erkrankung mit palliativmedizinischem Versorgungsbedarf. Bis zu 75 Prozent der über 65-jährigen Patient:innen werden in ihren letzten sechs Lebensmonaten mindestens einmal in einer Notaufnahme behandelt. Therapieentscheidungen müssen in der Notaufnahme und auf Intensivstationen rasch getroffen werden, die Einleitung einer Therapie basiert hierbei auf der Indikation und dem mutmaßlichen Patientenwillen:
Da Patient:innen in der Akutsituation oft nicht entscheidungs oder einwilligungsfähig sind, Bevollmächtigte oder Betreuer: innen nicht erreichbar und zeitaufwendige Recherchen zum aktuellen Gesundheitszustand kaum realisierbar sind, kommt es immer wieder zu Behandlungen, die nachträglich als nicht dem Patientenwillen entsprechend eingeschätzt werden bzw. gar nicht indiziert waren. Das belastet nicht nur die betroffenen Patient:innen und deren Angehörigen, sondern auch unser Gesundheitssystem.
Bisher besitzen höchsten 25 Prozent der über 65-Jährigen irgendeine Art von Vorsorgedokumenten; in der Akutsituation verfügbar sind noch weitaus weniger. So ist bei über 75 Prozent dieser Notfallpatient:innen deren Wunsch zum Umgang mit kritischen gesundheitlichen Problemen nicht dokumentiert.
Dem Risiko der Überversorgung, aber auch der Unterversorgung in Notaufnahmen vorbeugen
Insbesondere im Alter und bei Multimorbidität wird die hausärztliche Versorgung für Patient:innen immer wichtiger. Therapievorschläge anderer Ärzt:innen sowie kurative und palliativmedizinische Behandlungsoptionen werden zunehmend von Patient:innen selbst oder ihren Zugehörigen in der hausärztlichen Praxis thematisiert. Wenn Patient:innen eine Vorsorgevollmacht oder eine Patientenverfügung erstellen, geschieht das häufig nach Rücksprache mit der Hausärztin oder dem Hausarzt. Die unterschriebenen Dokumente werden fast immer in der hausärztlichen Praxis hinterlegt.
Übliche Patientenverfügungen beschreiben den Patientenwillen teilweise seitenlang und thematisieren nicht nur die Situationen in der letzten Lebensphase. Selbst wenn sie im Notfall vorgelegt werden können, sind sie oft nicht dazu geeignet, den mutmaßlichen Patientenwillen vor Einleitung einer indizierten Therapie schnell und sicher zu erfassen.
Deshalb wurde schon im Jahr 2018 in der Expertenrunde „Einheitliche Notfallverfügung für Berlin“ der AG Hospiz- und Palliativkultur in Pflegeheimen in Zusammenarbeit unter anderem mit Hausärzt:innen, Notfall- und Palliativmediziner:innen, verschiedenen Sozialverbänden und der Berliner Feuerwehr eine Notfallverfügung erarbeitet. Sie orientiert sich am Augsburger Notfallplan „Verfügung für Notfälle“ und kann ergänzend oder auch ohne vorliegende Patientenverfügung eingesetzt werden.
Entscheidend ist, dass sie bereits bei kurzer Einwilligungsunfähigkeit im akuten Notfall gültig ist und durch eine Vierfeldertafel auf der ersten Seite sehr schnell deutlich macht, welche Therapieoptionen sich betroffene Patient:innen wünschen.
Mutmaßlicher Wille muss ermittelt werden
Die ärztliche Begründung für die getroffene Entscheidung findet sich auf der Rückseite dieser Notfallverfügung, unterschrieben von der Hausärztin bzw. dem Hausarzt. Diese Notfallverfügung kann zudem für nicht mehr einwilligungsfähige Patient:innen als Vertreterdokumentation erstellt werden. Die vertretungsberechtigte Person kann in diesem Fall zusammen mit in Pflegeheimen arbeitenden Berater:innen für gesundheitliche Vorsorgeplanung sowie der Hausärztin oder dem Hausarzt den sorgfältig ermittelten mutmaßlichen Willen der betreffenden Person bestätigen und damit die Behandlungsoptionen im Notfall festlegen. Beide Dokumente, die Notfallverfügung sowie die Vertreterdokumentation, entsprechen geltendem Recht nach § 1901a Absatz 2 BGB. So ist es auch in den „Erläuterungen zum Notfallplan – Verfügung für Notfälle“ nachzulesen: „Liegt keine Willensäußerung des einwilligungsunfähigen Patienten vor, ist dessen mutmaßlicher Wille zu ermitteln.“
Notfallhelfer:innen sowie Notfall- und Intensivmediziner:innen bietet sich hiermit also eine verlässliche Entscheidungshilfe an, die keine Situationsbeschreibung erfordert, auf den Notfall anwendbar ist und für eine breitere Patient:innengruppe verfügbar sein könnte.
Notfallverfügung erleichtert ärztliche Entscheidungen im Ernstfall
Eine vorliegende Notfallverfügung würde ärztliche Entscheidungen im Notfall sowohl ambulant als auch stationär erheblich erleichtern und dazu beitragen, dass Patient:innen in Notaufnahmen weder unter- noch überversorgt werden. Warum die meisten der älteren, multimorbiden Patient:innen keine solche Notfallverfügung besitzen, hat verschiedene Gründe, denen aktuell in einem Forschungsprojekt der Medical School Berlin (MSB) nachgegangen wird. Sicher spielt die unzureichende Bekanntheit bei Ärzt:innen und Patient:innen eine große Rolle. Außerdem gibt es allein in Berlin mehrere verschiedene, nicht immer von Expert:innen entwickelte Muster für Notfallverfügungen und Notfallausweise.
Immer auf dem Laufenden bleiben. Melden Sie sich hier für unseren Newsletter an.
Sinnvolle Ergänzung zur Patientenverfügung
Häufig wissen weder Patient:innen noch Ärzt:innen, dass Notfallverfügungen ergänzend zu Patientenverfügungen sinnvoll sind und die Behandlungwünsche im Notfall deutlich und rasch verfügbar machen. Gerade für die zunehmende Anzahl von Demenzkranken, die keine Patientenverfügung besitzen, ist die Notfallverfügung ideal, weil damit der mutmaßliche Patientenwille trotz fehlender Entscheidungsfähigkeit festgelegt werden kann. Neben einer derartigen Notfallverfügung sind für das Notfall- und Intensivteam die wesentlichen Gesundheitsdaten unerlässlich, nämlich der aktuelle Medikationsplan mit Hinweisen auf bestehende Allergien, alle Dauerdiagnosen sowie die Kontaktdaten der Angehörigen, um Diagnostik und Therapie einzuleiten und anzupassen. Im Rahmen der Telematik-Infrastruktur gibt es dazu die Möglichkeit für Hausärzt:innen, alle diese im Notfall wichtigen Daten auf der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) zu dokumentieren (Notfalldaten-Management = NFDM). Bisher gibt es allerdings weder im Rettungsdienst noch in Krankenhäusern die Möglichkeit, diese Daten auszulesen. Und auch die Patient:innen selbst haben keinen Zugriff darauf.
In Berlin ist das Innovationsfond-Projekt „Stay@Home-Treat@Home“ gestartet, das diese Versorgungslücke schließt und es Hausärzt:innen ermöglicht, bei pflegebedürftigen Menschen – ab Pflegegrad 1 – alle diese Daten einschließlich der Gesundheits- und Notfallverfügung in einem digitalen, interaktiven Gesundheitstagebuch (DiG) zu hinterlegen. Diese hausärztlichen Informationen stehen dann im Notfall allen Versorger:innen für ihre diagnostischen und therapeutischen Entscheidungen zur Verfügung.
Fazit: Flächendeckendender Einsatz wäre hilfreich
Ein flächendeckendender Einsatz der Notfallverfügung würde die Notfallversorgung in Berlin deutlich erleichtern und verbessern. Die zusätzliche Verfügbarkeit der Gesundheitsdaten, wie im DiG möglich, kann sie zusätzlich optimieren. Beides ist realisierbar und trüge deutlich zur Vermeidung unnötiger Hospitalisation und nicht indizierter medizinischer Überversorgung der vulnerablen Patientengruppe unserer multimorbiden Senior:innen bei.
Autor:innen
- Dr. med. Irmgard Landgraf
Hausärztliche Internistin, Vorstandsmitglied der Ärztekammer Berlin, stellvertretende Vorsitzende des Hausärzteverbandes Berlin und Brandenburg e. V. (BDA), stellvertretende Sprecherin der AG Hausärztlicher Internisten der DGIM - Dr. med. Eva Diehl-Wiesenecker
Oberärztin der Zentralen Notaufnahme und Aufnahmestation der Charité – Universitätsmedizin Berlin, Sprecherin der AG Notfall- und Intensivversorgung der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin - Prof. Dr. med. Jörg Weimann, D.E.A.A.
Anästhesist und Intensivmediziner, Chefarzt der Abteilung Anästhesie und interdisziplinäre Intensivmedizin / Sankt Gertrauden-Krankenhaus