Ein unterschätztes Gesundheitsproblem: Gewalterfahrungen

Erfahrungen mit Gewalt sind ein häufiges Phänomen und betreffen alle Altersgruppen. Dies gilt für Gewalt in Partnerschaften ebenso wie für Gewalt gegen pflegebedürftige Menschen. Eine von Gewalterfahrungen besonders betroffene und vulnerable Gruppe sind naturgemäß Kinder und Jugendliche. Umso wichtiger sind Prävention und Intervention aus der Medizin. 

Betroffene bleiben oftmals unerkannt

In einer repräsentativen Befragung in Deutschland gaben 6,6 Prozent (n=167) der Betroffenen an, in ihrer Kindheit mindestens mittelgradige körperliche Misshandlung, 7,6 Prozent (n=190) mindestens mittelgradige sexualisierte Gewalt und 13,3 Prozent (n=332) mindestens mittelgradige emotionale Gewalt erlebt zu haben. Angesichts der langfristigen Folgen für die physische und psychische Gesundheit der Betroffenen, die wir seit den bahnbrechenden Arbeiten von Dr. Vincent J. Felitti in den 1990er-Jahren immer besser verstehen, und den damit verbundenen gesellschaftlichen Folgekosten wird schnell klar, warum hohe Präventionsanstrengungen gerechtfertigt und notwendig sind.

Dass Ärzt:innen häufig gewaltbetroffene Patient:innen sehen, ist angesichts der dargestellten Prävalenzen eine statistische Zwangsläufigkeit und nicht gleichzusetzen damit, dass gewaltbetroffene Patient:innen auch als solche erkannt werden. Ganz im Gegenteil: Es muss befürchtet werden, dass wir als Ärzt:innen unser Präventionspotenzial zum Schutz vor Gewalt noch nicht ausschöpfen.

Die Weltgesundheits­organisation (WHO) spricht gar von 90 Prozent der gewaltbetroffenen Patient:innen, die im Gesundheits­wesen nicht als solche wahrgenommen werden. Sei es, weil die Zeichen von Vernachlässigung oder emotionaler, körperlicher oder sexualisierter Gewalt nicht bekannt sind oder weil aus Unsicherheit über Handlungsoptionen und rechtliche Rahmenbedingungen wirksame Interventionen unterbleiben. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, lokale Netzwerke und niedrigschwellige Beratungsmöglichkeiten zu kennen, um den betroffenen Patient:innen und ihren Familien im Bedarfsfall wirksame Hilfe anbieten zu können.

Kinderschutzambulanz / Charité für die Berliner Ärzte Kammer

Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) werden 90 Prozent der gewaltbetroffenen Patient:innen vom Gesundheitswesen nicht als solche wahrgenommen.

Die US-amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC) definieren Kindesmisshandlung als Taten oder Unterlassungen von Eltern oder Bezugspersonen, die das Potenzial haben, das betroffene Kind akut oder in seiner Entwicklung zu schädigen. Der Schaden muss dabei nicht beabsichtigt sein. Nach dieser Definition wird Kindesmisshandlung häufig unterteilt in:

  • Körperliche Misshandlung, die von systematischen, wiederholten Körperstrafen – „Ohrfeige“ – über gewalttätige Übergriffe bis hin zu schwersten Verletzungen oder gar Tötung der Kinder reichen können (Sonderform: misshandlungsbedingtes Schädelhirntrauma, sogenanntes Schütteltrauma)
  • Körperliche Vernachlässigung, etwa die nicht altersgemäße Versorgung der kindlichen Bedürfnisse nach Hygiene, Unterkunft, Rückzugsort, Ernährung und medizinischer Versorgung (Sonderform: „dental neglect“, Vernachlässigung der Mundgesundheit und Unterlassen konsequenter zahnärztlicher Versorgung)
  • Emotionale Misshandlungen mit feindseliger Ablehnung, Bedrohung, Terrorisierung, Abwertung, Demütigung und Ausnutzung des Kindes oder Jugendlichen
  • Emotionale Vernachlässigung mit mangelnder Versorgung der Grundbedürfnisse wie kontinuierliche liebevolle Zuwendung, entwicklungsangepasste Förderung und altersentsprechendes Setzen von Grenzen
  • Sexualisierte Gewalt in Form von Handlungen ohne Körperkontakt – sexualisierte Kommunikation über soziale Medien, „Cybergrooming“ oder mit Körperkontakt, sogenannte Hands-on-Taten

Kumulative Formen sind häufig, wobei die Vernachlässigung und emotionale Gewalt am häufigsten vorkommen. Von den Kindern, die Vernachlässigung und emotionale Gewalt erfahren, erleben einige auch körperliche und/oder sexualisierte Gewalt. 

Anzeichen frühzeitig sehen

Nicht jedes Kind, das von Gewalt oder Vernachlässigung betroffen ist, wird bei einer ärztlichen Vorstellung als solches erkannt. Gleichzeitig zeigt die Auswertung nachgewiesener Misshandlungsfälle, dass Warnhinweise oft frühzeitig erkennbar waren, aber nicht zu wirksamen Interventionen geführt haben. Dies können körperliche Hinweise auf frühere Misshandlungen sein, aber auch die Unkenntnis von Hochrisikosituationen. So zeigte beispielsweise eine große niederländische Studie, dass Erwachsene, die sich mit einer schweren Intoxikation nach häuslicher Gewalt oder mit einer schweren psychischen Dekompensation in Notaufnahmen vorstellten, zu einem hohen Anteil für die Versorgung von Kindern verantwortlich waren. Eine Prüfung des Unterstützungsbedarfes ergab wiederum einen hohen Anteil an neu identifizierten Bedarfen. Die Befürchtung, dass Patient:innen Notaufnahmen meiden, wenn dort eine Gefährdung der Kinder geprüft und gegebenenfalls das Jugendamt involviert werden könnte, hat sich in den Niederlanden nicht bestätigt. Die Studie führte in den Niederlanden zu einem landesweit verpflichtenden Screening nach mitbetroffenen Kindern von entsprechend belasteten Erwachsenen, dem „Child Check“.

Damit wird auch deutlich, warum Gewaltprävention bei Kindern und Jugendlichen praktisch alle ärztlichen Disziplinen betrifft, nicht nur die Kinder- und Jugendmedizin, die Kinderchirurgie und die Kinder- und Jugendpsychiatrie. Der Gesetzgeber hat darauf reagiert und 2012 eine ausdrückliche Befugnis für Fachkräfte, die in ihrem beruflichen Kontext einer Schweigepflicht unterliegen – „Berufsgeheimnisträger“ – formuliert, bei „gewichtigen Anhaltspunkten“ für eine Kindeswohlgefährdung Informationen an das Jugendamt weiterzugeben.

Beratungsangebote von und für Ärzt:innen

Dies adressiert ausdrücklich alle Ärzt:innen, unabhängig davon, ob das betroffene Kind selbst Patient:in ist oder etwa ein Elternteil. Um die eigenen Möglichkeiten zu prüfen, auf eine Lösung hinzuwirken, steht unter anderem das niedrigschwellige telefonische Beratungsangebot der Medizinischen Kinderschutzhotline zur Verfügung. Unter der Telefonnummer 0800 192 10 10 beraten in dem vom Bundesfamilienministerium finanzierten Projekt geschulte Ärzt:innen rund um die Uhr Fachkräfte aus dem Gesundheitswesen, aber auch aus der Kinder- und Jugendhilfe und den Familiengerichten. 

Darüber hinaus stehen in Berlin mit den vom Senat finanzierten Kinderschutzambulanzen medizinische Anlaufstellen zur multiprofessionellen Einschätzung einer möglichen Kindeswohlgefährdung zur Verfügung. Voraussetzung für den Zugang sind hier die Einwilligung der Erziehungsberechtigten und eine vorherige Zuweisung, etwa durch niedergelassene Ärzt:innen oder das Jugendamt. Die Terminvergabe erfolgt nach Prüfung der Dringlichkeit, bei Bedarf auch sehr kurzfristig, zum Teil noch am selben Werktag.

Bei sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche nach einer Strafanzeige steht das Childhood-Haus Berlin an der Charité zur Verfügung. Die Zuweisung erfolgt durch die Polizei. Im Childhood-Haus können die forensische Diagnostik, die medizinische und psychosoziale Versorgung sowie die Koordination mit Polizei und Justiz erfolgen. Die Mitarbeitenden sind täglich von 9 bis 16 Uhr unter der Telefonnummer 450 51 60 00 erreichbar.

Zudem ist der Berliner Notdienst Kinderschutz rund um die Uhr unter der Telefonnummer 61 00 61 erreichbar und vermittelt bei Bedarf die richtigen Ansprechpersonen in den Krisendiensten der Jugendämter beziehungsweise übernimmt deren Aufgaben in der Nacht und am Wochenende.

Ringvorlesung und E-Learning

Interessierten bietet die Charité – Universitätsmedizin Berlin eine interdisziplinäre Ringvorlesung zum Thema Prävention und Intervention bei Gewalt gegen Kinder und Jugendliche an. Neben dem Lehrstuhl für Traumafolgen und Kinderschutz soll noch in diesem Jahr eine Stiftungsprofessur für Gewaltprävention und -intervention eingerichtet werden, um das Thema in Berlin auch wissenschaftlich weiter voranzu­bringen. Weitere Informationsmöglichkeiten bestehen auch über das  E-Learning-Angebot des Universitätsklinikums Ulm.

Angesichts der eingangs aufgezeigten Hürden wird deutlich, dass eine wirksame Prävention und Intervention aus der Medizin zum Schutz von Patient:innen vor (wiederholten) Gewalterfahrungen noch zu oft verhindert wird. So scheinen vor allem ein Bewusstsein für die Dimension des Problems sowie eine innere Haltung, die Ärzt:innen auf betroffene Patient:innen vorbereitet, wichtig zu sein, um der Thematik wirksam begegnen zu können.

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Mehr zum Thema

Im Gespräch mit „Berliner Ärzt:innen“ berichtet Prof. Dr. med. Sibylle M. Winter, Leiterin der Kinderschutzambulanz und der Traumaambulanz der Charité – Universitätsmedizin Berlin, von den Aufgaben der Kinderschutzambulanzen und zeigt auf, welche Maßnahmen noch ergriffen werden müssen.

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