„Ärzt:innen müssen Anzeichen von Gewalt bei Kindern erkennen und das Thema ansprechen“

In Berlin gibt es aktuell sechs Kinderschutzambulanzen, die von den Senatsverwaltungen für Bildung, Jugend und Familie, für Wissenschaft, Gesundheit und Pflege sowie für Justiz und Verbraucherschutz finanziert werden. Sie arbeiten auf der Grundlage von Kooperationsvereinbarungen eng mit den jeweiligen Gesundheits- und Jugendämtern der Bezirke sowie mit niedergelassenen Kinderärzt:innen und Kinderkliniken zusammen. Im Gespräch mit „Berliner Ärzt:innen“ berichtet Prof. Dr. med. Sibylle M. Winter, Leiterin der Kinderschutzambulanz und der Traumaambulanz der Charité – Universitätsmedizin Berlin, von den Aufgaben der Kinderschutzambulanzen und zeigt auf, welche Maßnahmen noch ergriffen werden müssen.

Prof. Dr. med. Sibylle Winter, Leiterin der Kinderschutzambulanz der Charité – Universitätsmedizin Berlin
Interview mit
Prof. Dr. med. Sibylle M. Winter

Leiterin der Kinderschutzambulanz und der Traumaambulanz der Charité – Universitätsmedizin Berlin

Foto: Tamara Eckhardt, OSTKREUZ / Ärztekammer Berlin

Frau Prof. Dr. Winter, das Thema Kinderschutz begleitet Sie seit vielen Jahren. Unter anderem haben Sie 2016 den Aufbau der Kinderschutzambulanz an der Charité initiiert. Welche Aufgaben hat diese?

Kinder und Jugendliche können bei Hinweisen auf Gewalt und/oder Vernachlässigung durch Ärzt:innen oder Jugendämter der Kinderschutzambulanz zugewiesen werden. Hinweise können Verhaltensauffälligkeiten der Kinder und Jugendlichen, Beobachtungen in Kita und Schule oder auch Aussagen der Kinder und Jugendlichen in ihrem Umfeld sein. Um diese komplexe Situation angemessen zu beurteilen, gibt es in der Kinderschutzambulanz ein erfahrenes interdisziplinäres Team aus Ärzt:innen, Psycholog:innen, Sozialpädagog:innen und Pflegekräften. Diese untersuchen die Kinder und Jugendlichen körperlich und führen ausführliche Gespräche mit ihnen und ihren Bezugspersonen.

Warum ist interdisziplinäre Zusammenarbeit dabei so wichtig?

Die interdisziplinäre Zusammenarbeit bedeutet, dass mehrere Professionen aus unterschiedlichen Disziplinen zusammenarbeiten. Dies führt dazu, dass Ergebnisse und Handlungspläne miteinander verknüpft oder gemeinsam erarbeitet werden. Insgesamt ergibt sich dadurch ein additives Gesamtbild, das einen Mehrwert darstellt. Nach der interdisziplinären Diagnostik können wir spezifische Empfehlungen geben. Die Kinder und Jugendlichen und ihre Bezugspersonen sollen die Unterstützung bekommen, die für ihre bestmögliche Entwicklung notwendig ist. Dazu können medizinische, auch psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlungen, Förderung der sprachlichen und motorischen Entwicklung und Jugendhilfemaßnahmen, etwa in Form einer Einzel- oder Familienhilfe gehören. Manchmal müssen auch Schutzmaßnahmen bedacht werden.

Die Kinderschutzambulanz kann dazu beitragen, dass Gewalt und/oder Vernachlässigung frühzeitig erkannt werden, nur dann ist eine Unterstützung möglich – für das Kind, aber auch für die Bezugspersonen. Dies ist sehr wichtig, da wir aus der Forschung wissen, dass Gewalt oder Vernachlässigung zu weitreichenden körperlichen und psychischen Folgeschäden über die gesamte Lebensspanne führt.

Sind Ihre Kolleginnen und Kollegen ausreichend sensibilisiert, wenn es darum geht, Betroffene von Gewalt oder Vernachlässigung zu erkennen und zu unterstützen?

Die Ärztin, der Arzt oder die Pflegekraft ist die entscheidende Schnittstelle, um Anzeichen von Gewalt zu erkennen und anzusprechen. Zudem sollte sie Netzwerkpartner: innen sowie deren Zugangswege kennen. In der Praxis werden lediglich in zehn Prozent der Fälle wirksame Interventionen zum Schutz der Betroffenen aus dem Gesundheitswesen heraus angestoßen. Es hängt damit vom Zufall ab, ob Hinweisen auf körperliche, sexualisierte oder emotionale Gewalt nachgegangen wird, das heißt vom persönlichen Engagement der beteiligten Fachkräfte, von deren Erfahrung, Ausbildung und Wissen. Wissen, das bislang noch nicht in allen Bereichen systematisch vermittelt wird.

Welche Möglichkeiten gibt es, sich zu informieren oder auszutauschen?

In den vergangenen Jahren wurden im Gesundheitswesen zahlreiche Projekte und Versorgungsstrukturen etabliert, um gewaltbetroffene Patient:innen und ihre ärztlichen, aber auch nichtärztlichen Ansprechpersonen zu unterstützen. Dazu gehört zum einen die Medizinische Kinderschutzhotline, die ärztliche und nicht-ärztliche Mitarbeitende rund um die Uhr – auch anonym – beraten kann. Zum anderen gibt es die Möglichkeit, Kinder und Jugendliche in den Berliner Kinderschutzambulanzen vorzustellen. Von dort aus können sie zur psychotherapeutischen Erst-Versorgung an die Traumaambulanz der Charité weitergeleitet werden. Insofern hat sich sowohl die Beratung von beteiligten Fachkräften als auch die Diagnostik und Therapie von Gewaltbetroffenen in den vergangenen Jahren verbessert.

Anlaufstellen in Berlin

Kinderschutz ist eine interdisziplinäre Daueraufgabe

Viele Kinder und Jugendliche sind Gewalt ausgesetzt. Dabei geht es häufig um emotionale Gewalt und/oder Vernachlässigung. Dies bedeutet, dass Eltern in schwierigen Erziehungssituationen ihre Kinder ängstigen oder ihre Bedürfnisse nicht ausreichend berücksichtigen. Manche Kinder erleben zudem körperliche oder sexualisierte Gewalt.

Der Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung kann nur in gemeinsamer Verantwortung getragen werden. Voraussetzung ist die Kooperation aller am Hilfeprozess Beteiligten. 

Trotzdem scheinen das Thema und die Möglichkeiten noch nicht hinreichend bekannt zu sein. Wie lässt sich das Ihrer Meinung nach ändern?

Ich denke, dass es unsere Pflicht als Ärzteschaft ist, den Schutz unserer Patient:innen in allen Altersgruppen, aber natürlich so früh im Leben wie nur möglich als unsere professionelle präventive Aufgabe zu begreifen und alle Anstrengungen zu unternehmen, um unsere ärztlichen Kolleginnen und Kollegen so gut auszubilden, dass sie diesen wichtigen Aspekt der Versorgung von Patient:innen kompetent und sicher meistern. Positiv lässt sich beispielsweise hervorheben, dass im Modellstudiengang Humanmedizin an der Charité bereits ab dem 2. Semester verschiedene Formate vorgesehen sind. Die Schwerpunkte liegen dabei auf Prävention und Intervention bei körperlicher und sexualisierter Gewalt, aber auch bei emotionaler Gewalt und Vernachlässigung. Insgesamt gibt es zehn Unterrichtseinheiten Pflichtlehre und bei Interesse über 100 Unterrichtseinheiten weiterführende Vertiefung des Themas. Außerdem könnten strukturierte Weiterbildungsinhalte für die Weiterbildungsordnungen aller Fachdisziplinen und integrierte Fortbildungen zu allen Themen des Gewaltschutzes entwickelt werden. Wünschenswert wäre zudem die Einführung einer Zusatzbezeichnung „Medizinischer Kinderschutz“ auf der Grundlage des Zertifikates der Deutschen Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin.

Welche Inhalte müsste eine solche Fortbildung aufgreifen?

Das Netzwerk der Berliner Kinderschutzambulanzen hat bereits ein Curriculum zum Medizinischen Kinderschutz entwickelt und möchte dieses in Kooperation mit den Kinderschutzambulanzen gern jährlich anbieten. Folgende Themen würden auf dem Programm stehen: Definition, Epidemiologie, Psychologische Diagnostik, Neurobiologische und psychische Folgen, Transgenerationale Weitergabe und Präventiver Kinderschutz unter der Berücksichtigung der aktuellen Leitlinie. Schwerpunktmäßig sollten die Indikatoren für körperliche, emotionale und sexualisierte Gewalt sowie Vernachlässigung, einschließlich Diagnostik und Differenzialdiagnostik thematisiert werden. Ein erstes Curriculum ist für Herbst 2024 geplant.

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