Felix Boenheim: In den Wirren des 20. Jahrhunderts

„Wir haben in vier Jahrzehnten nur Nervenkrieg gekannt und es hat außer in einigen wenigen Jahren für uns keine Pause, kein Ausruhen gegeben. Trotzdem sind wir beide nicht dem Fatalismus verfallen, sondern haben immer wieder für unsere Ziele gekämpft.“ So schrieb der Anwalt Ludwig Barbasch an den Arzt und erst kurz zuvor emeritierten Professor der Leipziger Universität, Felix Boenheim. Heute erinnert kaum mehr etwas an ihn. Zu Unrecht, wie ein Blick auf sein wahrhaftes Jahrhundertleben mit Stationen in Berlin, Paris, Jerusalem, New York und Leipzig zeigt.

Arzt Felix Boenheim

Felix Boenheim während seiner Zeit als Professor in Leipzig.

Prekäre Anfangsjahre in Berlin

Boenheim wurde am 17. Januar 1890 in Berlin in eine jüdische Kaufmannsfamilie geboren. Die Familie war aufgrund der besseren Berufschancen nach Berlin gezogen, aber erst nach einigen gescheiterten Versuchen stellte sich wirtschaftlicher Erfolg ein. Sowohl die prekären Anfangsjahre in Berliner Hinterhöfen als auch der Einfluss seines Onkels Hugo Haase – der ab 1912 Fraktionsvorsitzender der SPD im Reichstag war – beeinflussten Boenheims politische Ansichten stark und so wurde er für den Rest seines Lebens Sozialist. Nach dem Medizinstudium in München, Freiburg und Berlin legte er 1914 das Staatsexamen ab. Im selben Jahr promovierte er „Über den Einfluß einiger Chinolinderivate auf die Harnsäure- und Allantoin­ausscheidung des Hundes“ bei Friedrich Kraus an der Charité. Durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges endete seine Medizinalpraktikantenzeit in Moabit nach wenigen Wochen mit der Notapprobation und er wurde als Militärarzt dienstverpflichtet.

Von Bensheim über Graudenz und Rostock nach Nürnberg und wieder zurück nach Berlin

Aufgrund seiner pazifistischen Einstellung geriet er schnell in Konflikt mit den Militärbehörden. Kritik an der Kriegsführung und insbesondere an den Kriegszielen war nicht nur im konservativ akademischen Milieu geächtet, sondern wurde auch vom Staat verfolgt. Das Kaiserreich hatte sich während des Ersten Weltkrieges faktisch in eine Militärdiktatur unter dem Kommando der Obersten Heeresleitung verwandelt. So folgte der Versetzung aus Bensheim in Hessen nach Graudenz in Westpreußen 1915 schließlich die Eröffnung eines Kriegsgerichtsverfahrens wegen verschiedener „defätistischer Äußerungen“ und „Beleidigung“ des Kriegsministers Erich von Falkenhayn. Boenheim wurde als einfacher Soldat zum Heer abkommandiert.

Wegen einer schweren Erkrankung während der Grundausbildung wurde er 1916 vom Militär beurlaubt und ging zunächst an die Universitätsklinik Rostock. Da er aufgrund seiner Vorgeschichte keine Aussicht auf eine Habilitation hatte, wechselte er am 1. Oktober 1918 nach Nürnberg. Nach der Abdankung des deutschen Kaisers Wilhelm II. am 9. November 1918 geriet er in den Strudel der revolutionären Ereignisse am Kriegsende. Boenheim wurde in den Arbeiter- und Soldatenrat Nürnberg gewählt und beteiligte sich am spartakistischen „Putschversuch“. Nach kurzer Inhaftierung war er Kulturbeauftragter der zweiten Münchner Räterepublik. Nach deren gewaltsamem Ende floh er nach Ostpreußen und lebte einige Zeit im Untergrund. Ab August 1919 arbeitete er wieder als Arzt: Zunächst am Katharinenhospital in Stuttgart, bevor er sich 1921 in Berlin als Internist niederließ.

Von den goldenen Zwanzigern ins politische und persönliche Chaos

Wissenschaftlich arbeitete Boenheim nun wieder an der Charité und es entstand eine Vielzahl von Arbeiten, die ihn zum bekannten Endokrinologen und Spezialisten für Ernährungsfragen machten. Politisch engagierte er sich in einer Reihe von Organisationen des linken politischen Spektrums, etwa im Verein sozialistischer Ärzte. Er war mit vielen linken Intellektuellen und Politikern der Weimarer Republik befreundet und gewährte dem Kommunisten Ernst Thälmann einige Tage Unterschlupf in seiner Wohnung.

1929 wurde Boenheim zum Chefarzt der Inneren Medizin am Berliner Hufeland-Hospital berufen. Hier widmete er sich vor allem sozialmedizinischen Aspekten. So führte er als beratender Arzt der Internationalen Arbeiterhilfe Reihenuntersuchungen von Kindern in Arbeiterbezirken durch. In diesen Untersuchungen stellte er ein erschreckendes Maß von Unterernährung fest, die er in Zusammenhang mit der Sozialpolitik während der Weltwirtschaftskrise brachte.

Im Streit um die Ausrichtung des Hartmannbundes, der damals sehr konservativ war und sich teilweise schon der späteren nationalsozialistischen Gesundheitspolitik annäherte, wurde er 1931 aus diesem ausgeschlossen und verlor damit seine Kassenzulassung.

Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten änderte sich Boenheims Leben radikal. Er wurde als Jude, als Sozialist und auch als unabhängiger Intellektueller verfolgt. Schon am 28. Februar 1933, noch in der Nacht des Reichstagsbrandes, wurde er wie viele seiner Mitstreiter aus dem linken politischen Spektrum verhaftet. Durch die Fürsprache eines befreundeten ungarischen Arztes, der sich bei Hermann Görings Freundin Emmy Sonnemann für Boenheim einsetzte, kam er unter der Maßgabe, Deutschland zu verlassen, am 28. Juli frei. Während seiner Haft war ihm bereits Ende März die Leitung seiner Klinik entzogen worden. Seine Familie hatte Deutschland im Mai Richtung Paris verlassen. Boenheim folgte ihr im September 1933.

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Über Paris, Palästina und New York nach Leipzig

Ein beruflicher Neuanfang gelang ihm aufgrund der restriktiven Bestimmungen in Frankreich nicht, denn ohne Zulassung blieben ihm nur illegale Praxisvertretungen. So zog er im Herbst 1934 nach Palästina und unzufrieden mit den dortigen Lebensbedingungen siedelte er im Dezember 1935 nach New York über. Dort eröffnete er eine Praxis und nahm zum Überleben zeitweise Tätigkeiten in Krankenhäusern an. Zudem engagierte er sich politisch in der von Richtungs- und Grabenkämpfen durchzogenen antifaschistischen Exilgemeinde.

Dies führte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auch dazu, dass er in das Fadenkreuz der Kommunistenjagd unter Senator Joseph McCarthy geriet. War er für das Naziregime „undeutsch“, so wurde er nun „unamerikanischer“ Umtriebe verdächtigt. Im Jahr 1948 erhielt er zwei Rufe aus der damaligen sowjetischen Besatzungszone, zum einen als Leiter der Endokrinologie an die Charité, zum anderen als Professor für Innere Medizin und Leiter der Poliklinik an die Universität Leipzig. Und obwohl er bereits 1941 die amerikanische Staatsbürgerschaft erhalten hatte, entschied sich Boenheim für Leipzig.

Real existierender Sozialismus

Dort wurde er am 1. April 1949 Professor für Innere Medizin und übernahm auch kommissarisch die Leitung des Karl-Sudhoff-Instituts für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften. In Leipzig konnte Boenheim unter großem Einsatz die Poliklinik für Innere Medizin erneut aufbauen und zu einer hoch angesehenen Institution formen. Doch der real existierende Sozialismus ernüchterte den unorthodoxen Sozialisten Boenheim. Er kämpfte mit Material- und Raummangel, kleinlichen Bürokraten und wurde als „Westexilant“ von der SED skeptisch beäugt. Auch sein bürgerlicher Lebensstil, den er in der DDR mit Maßanzug und Fliege beibehielt, wurde kritisch betrachtet. Zudem passte sein sozialistisches Ideal der Rätedemokratie so gar nicht zur praktizierten Parteidiktatur.

Unmittelbar nach seinem 65. Geburtstag wurde er als Professor für Innere Medizin emeritiert und quasi als Entschädigung zum Direktor des Karl-Sudhoff-Instituts ernannt. Dieses hatte sich von den Verwüstungen des Krieges noch nicht erholt. Das seinerzeit erste Institut für Geschichte der Medizin mit weltweitem Ruf hatte nicht einmal mehr einen funktionierenden Telefonanschluss. Doch auch hier bewies der bereits schwer herzkranke Boenheim noch einmal sein Organisationstalent und begann mit dem Wiederaufbau des Instituts.

Wissenschaftlich richtete er es nach dem von Marx postulierten dialektischen Materialismus aus. Er suchte in der Medizingeschichte nach fortschrittlichen Ärztinnen und Ärzten und Ideen, denn diese waren für ihn trotz der erlebten Ausgrenzung durch die Mehrheit unabdingbare Voraussetzung zur fachlichen Weiterentwicklung. Eine seiner Hauptbeschäftigungen war die Auseinandersetzung mit Virchow, dessen politischen Werdegang vom liberalen Demokraten und Sozialreformer zum Teil des wilhelminischen Establishments Boenheim genau untersuchte.

Keine Rückkehr nach Berlin

Am 1. Februar 1959 ließ  sich Boenheim emeritieren. Den gewünschten Umzug in seine Heimatstadt Berlin gewährte ihm die DDR-Bürokratie nicht mehr, dennoch schien sich gegen Ende seines Lebens das Verhältnis zum SED-Staat zu entspannen. Er erhielt eine Reihe von Auszeichnungen und auch sein 70. Geburtstag wurde von offizieller Seite gewürdigt. Kurz danach, in der Nacht zum 1. Februar 1960, starb Felix Boenheim in Leipzig.

 

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