Die Erforschung und Optimierung des heterosexuellen Sexuallebens

Als die Nationalsozialisten im Einvernehmen mit ihren Verbündeten 1933 die Sexualreformbewegung zerschlugen, raubten sie allen Akteuren die Möglichkeit, auf die Entwicklung in Deutschland Einfluss zu nehmen. Die Sexualforscher zerstreuten sich, viele flohen, viele starben in den Konzentrationslagern. Nur einer kehrte insgeheim über die Ratgeberliteratur zurück und half in den 1960er-Jahren, das Feuer der sexuellen Revolution neu zu entfachen. Es ist Zeit, sich an Max Marcuse zu erinnern.

Max Marcuse

Der deutsche Dermatologe und Sexualwissenschaftler Max Marcuse war Mitgründer des Bundes für Mutterschutz.

Zur Erinnerung an Max Marcuse (14. April 1877–27. Juni 1963)

Geboren 1877 in Berlin als Sohn eines aus der Neumark zugezogenen jüdischen Kaufmanns besuchte der junge Max Marcuse das Friedrich-Wilhelms-Gymnasium, schloss dieses 1895 mit dem Abitur ab und studierte Humanmedizin. Alsbald konzentrierte er sich auf die Dermatologie, arbeitete ein Jahr in Bern und promovierte 1901 in Berlin. Hier ließ er sich als praktischer Arzt nieder und begründete 1905 eine Familie.

Neue Ethik des Zusammenlebens

Im selben Jahr tat er sich mit der Feministin Helene Stöcker (1869–1943) zusammen und gründete den „Bund für Mutterschutz“, um so die Arbeit der Sexualreformbewegung zu koordinieren. Stöcker und Marcuse einten die Überzeugung, dass es einer neuen Ethik des menschlichen Zusammenlebens bedürfe und die Forderungen von Konservativen und Vertretern der Kirchen nach einer strikten vorehelichen Abstinenz nicht mehr zeitgemäß seien. Darüber hinaus störten sich Stöcker und Marcuse an der herrschenden Doppelmoral, die Männern den Gang ins Bordell gestattete, Frauen aber auf die Rolle der loyalen Ehefrau reduzierte. Marcuse warb für Sexualaufklärung in der Schule, förderte Informationskampagnen über Geschlechtskrankheiten und engagierte sich für eine Reform des Wohnungsbaus. Alsbald schlug ihm schrille Kritik seitens wütender Geistlicher entgegen. Aber anstatt diesen Angriffen direkt zu begegnen, veröffentlichte er 1912 einen Aufsatz, in dem er die sexuellen Begierden eines katholischen Priesters bis ins letzte Detail auswalzte und hieraus generelle Schlüsse ableitete (Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, Bd. 9, 1912, S. 269–300). Den Kirchenvertretern verschlug es derartig die Sprache, dass sie Marcuse in den folgenden Jahren nicht weiter attackierten. Sie beschränkten sich darauf, sein Werk, wozu auch Veröffentlichungen über die uneheliche Mutterschaft und die Ablehnung der Euthanasie zählten, schlichtweg totzuschweigen – was dieses für rebellische junge Christen noch interessanter machte.

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Gesellschaft für Sexualforschung

Während seine zeitgenössischen Kollegen Magnus Hirschfeld (1868–1935) und Iwan Bloch (1872–1922) die sexuellen Variationen abseits der Heterosexualität untersuchten und zu entkriminalisieren hofften, setzte Marcuse voll und ganz auf Erforschung und Optimierung des heterosexuellen Sexuallebens. Eugenische Aspekte spielten von Anfang an in seine Forschungen hinein, aber niemals eine dominierende Rolle. Marcuse war vielmehr bemüht, die zahlreichen Bestrebungen zur Sexualreform zu synthetisieren und die Kollegenschaft unter einem Dach zu vereinen. Hierzu begründete er gemeinsam mit einigen anderen Ärzten 1913 die „Internationale Gesellschaft für Sexualforschung“ und koordinierte eine Schriftenreihe. Wirkmächtige Bedeutung erlangte Marcuse aber mit dem von ihm erdachten und herausgegebenen „Handwörterbuch der Sexualwissenschaft“, das 1923 erstmals erschien. 1927 folgte der nicht weniger bedeutsame Sammelband „Die Ehe, ihre Physiologie, Psychologie, Hygiene und Eugenik“. Marcuse vertrat offensiv seine Kernthesen: Er bestritt die Existenz eines naturgewollten Fortpflanzungstriebes beim Menschen und bewarb die Sexualaufklärung in Schule und Öffentlichkeit bis hin zur Bereitstellung von Verhütungsmitteln. Der Psychoanalyse stand er freundlich, aber eher zurückhaltend gegenüber. Politisch konservativ, hatte er für die Entkriminalisierungsbestrebungen Hirschfelds hinsichtlich der Homosexualität nichts übrig.

Im Jahr 1931 verärgerte Marcuse seine Gegner erneut, diesmal mit einer umfänglichen Studie über die allgemeinen gesundheitlichen und psychosomatischen Vorteile des „Präventivverkehrs“ vor der Ehe. Politisch aber stand er seinen sexualpolitischen Gegnern oftmals weit näher als viele Kollegen. Dies bewahrte ihn dennoch nicht vor der Verfolgung durch die Nazis, der er sich bereits 1933 durch den Weg ins Exil nach Palästina entzog. Er blieb wissenschaftlich tätig und verfolgte kritisch die repressive Sexualpolitik in der frühen Bundesrepublik.

Verbreitung via Versandhandel

Früh erkannte Marcuse, dass es einen Weg gab, die Kontrollen zu umgehen: den Versandhandel. So veröffentlichte er 1962 im Stephenson-Verlag, der zum Konzernimperium Beate Uhses (1919–2001) gehörte, einen „ABC-Führer durch Sexualität und Erotik“. Darin wiederholte er seine Konzepte aus den 1920er-Jahren, die nichts von ihrem Charme eingebüßt hatten. Und wieder waren es die Vertreter der Kirchen, die seine Feder fürchteten. Als Marcuse im Jahr 1963 starb, begann sich die „Pille“ allmählich durchzusetzen. Gleichwohl geriet er rasch in Vergessenheit und wurde erst in den 1990er-Jahren wieder entdeckt. Sein „Handwörterbuch“ wurde 2001 neu aufgelegt. Marcuses Sohn Hans Renatus (1920–2006), der in Israel den Namen Yohanan Meroz annahm, diente seinem Land 1974 bis 1981 als Botschafter in der Bundesrepublik Deutschland und der Schweiz.

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