Immanuel Kant steht stellvertretend für die Zeit der „Aufklärung“ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Sein berühmtes Mantra der Anforderung an seine Zeitgenoss:innen, sich ihres Verstandes zu bedienen und sich aus selbst verschuldeter Unmündigkeit zu befreien, korrelierte mit den Bemühungen von Ärzten seiner Zeit, den eigenen Wissensstand zu definieren und zu vervollständigen.
Kant verlangte von seinen Zuhörer:innen, sich klar zu werden, dass man nicht ein „Ding an sich“ erkenne, sondern nur das, was es für den Betrachtenden zu sein scheint. Er stellte den Menschen in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen und betonte das Primat der Ethik, die an die Würde, aber auch an die Freiheit des Menschen gebunden war. Kant erhob damit das Individuum zum Herrn seiner selbst, verlangte aber auch, dass jene Gelehrten, die sich dem Menschen zuwandten, diesen als gleichwertig akzeptierten. Damit stellte er die Arzt-Patient-Beziehung auf ein neues Fundament und legte zugleich die Grundlage für die moderne Philosophie der Medizin.
„Medicinische Policey“
Die Ärzte seiner Zeit griffen ganz offensichtlich auf ihn zurück, denn in den Büchern der „Medizin der Aufklärung“ finden sich zahllose Schlagworte und Begriffe aus Kants Publikationen wieder. Dachte man Kant weiter, so bedeuteten seine Studien, dass es nicht nur darauf ankam, mündige Patient:innen zu kurieren, sondern ihnen auch die Mittel an die Hand zu geben, ihre Gesundheit zu erhalten. Als äußeren Rahmen für ärztliche Handlungen bestimmte er das „Sittengesetz“ und unterwarf damit den Forschergeist einem moralischen Bewusstsein. Auch ermahnte Kant seine Kollegen, die Welt nicht nur aus der Binnenperspektive heraus zu betrachten. So schrieb er, Gelehrte würden zu häufig annehmen, „es sei alles um ihretwillen da“. Umgekehrt waren Ärzte angehalten, Gesundheitsprävention zu betreiben – zeitgenössisch unter dem Begriff der „Medicinischen Policey“ zusammengefasst.
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Das soziale Elend als Ursache für Krankheiten zu begreifen, wäre ohne die diskursiven Empfehlungen Kants nicht so schnell ein Thema für Ärzte geworden. Die Rezeption seiner Werke durch ärztliche Gelehrte war jedoch nicht einseitig. Schon als Student und junger Dozent wurde der später so berühmte Philosoph von dem Arzt und Universitätsprofessor Johann Christoph Bohl (1703–1785) gefördert. In Kants Werk finden sich zahlreiche Begriffe aus dem medizinischen Sprachgebrauch, etwa „Krisis“ oder „Diätetik“. Er tauschte sich mit Ärzten aus, beispielsweise mit Christoph Wilhelm Hufeland (1762–1836) über dessen Makrobiotik. Darüber hinaus war Kants Temperamentenlehre von der Humoralpathologie beeinflusst.
Die Medizin seiner Zeit
Kant selbst hatte allen Grund, der Medizin seiner Zeit kritisch zu begegnen: So litt er zeitlebens unter Thoraxschmerzen und war zudem durch eine Skoliose körperlich eingeschränkt. Er entwickelte für sich eine eigene Diätetik und penible Lebensordnung, um zu erkennen, welche Nahrung, Raumtemperatur oder wie viel Schlaf sich positiv auf seinen Organismus auswirkte. Darüber tauschte er sich in seinem umfänglichen
Briefwechsel mit Kollegen und Freunden, unter anderem dem Arzt Johann Gerhard Trummer (1729–1793) aus.
So bietet sich sowohl den Lesenden als auch Forschenden ein umfängliches Bild von Kants eigener Einschätzung über die Medizin seiner Zeit, die er vor allem als (unzufriedener) Patient erlebte. Ärztliche Gelehrte egal welcher Konfession orientierten sich zunächst ganz erheblich an ihm. Jedoch setzte der Vatikan Kants Schriften im Jahr 1827 auf den Index und erschwerte damit die Rezeption in der katholischen Welt ganz erheblich. Gleichwohl spielte Kant für die Entwicklung einer ärztlichen Moralphilosophie und Erkenntnistheorie eine wichtige Rolle. Auch heute ist er nicht aus der medizinischen Ethik wegzudenken.
Zum Weiterlesen
- Manfred Geier: Kants Welt: Eine Biografie, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2005
- Arno Schubbach: Immanuel Kant zur Einführung, Hamburg: Junius, 2022