Redaktion: Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) weist auf den begrenzten Aussagewert seiner Daten im zeitlichen Verlauf hin. Dennoch scheinen Arzneimittelengpässe zu einem immer größeren Problem zu werden. Sie beobachten den Markt schon lange: Teilen Sie den Eindruck, dass Arzneimittelengpässe in Deutschland zugenommen haben?
Prof. Dr. med. Wolf-Dieter Ludwig: WDL In der Datenbank des BfArM waren Ende September vergangenen Jahres 298 Lieferengpässe angegeben, Ende Februar 2023 waren es 439. Dies belegt eindeutig die Zunahme der Lieferengpässe in Deutschland. Etwa ein Drittel beruht auf Problemen in der Herstellung.
Abgesehen von Reserveantibiotika und Onkologika scheinen sich die Engpässe vor allem auf Generika zu beziehen. Kann man daraus schließen, dass im Bereich der Arzneimittelinnovationen alles in Ordnung ist?
Ja, von den Lieferengpässen sind häufig Generika betroffen, wohingegen bei nicht-generischen Onkologika, insbesondere wenn es sich um neue, sehr teure Arzneistoffe handelt, bisher nur selten Lieferengpässe aufgetreten sind.
Wie diskutiert die AkdÄ diese Engpässe und Entwicklungen? Was bedeuten sie konkret für Ärzt:innen?
Wenn die Lieferengpässe Arzneistoffe betreffen, für die zahlreiche – hinsichtlich Wirksamkeit und Sicherheit vergleichbare – Alternativen verfügbar sind, ist dies für die medikamentöse Versorgung der Patient:innen meist nicht relevant. Leider gibt es aber inzwischen zunehmend Engpässe auch bei versorgungsrelevanten Arzneistoffen, sodass eine optimale Behandlung mitunter nicht mehr gewährleistet werden kann. Dies führt einerseits bei der Suche nach geeigneten alternativen Arzneistoffen zu einem deutlichen Mehraufwand für Ärztinnen und Ärzte, aber auch in Apotheken, etwa bei der Auswahl, Erklärung und Verordnung des neuen Arzneistoffes. Darüber hinaus verunsichert es möglicherweise die Patient:innen, da sie dem für sie noch unbekannten Arzneistoff eventuell weniger vertrauen. Das kann die Therapietreue oder Adhärenz beeinträchtigen.
Aufgrund der im vergangenen Jahrzehnt zugenommenen Abhängigkeit von vielen ausländischen Zulieferern sowie der Zunahme des Drucks auf dem Weltmarkt wird sich (...) ohne kurz- und mittelfristige Maßnahmen das Problem der Lieferengpässe eher zuspitzen.
Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) hat nun einen Referentenentwurf vorgelegt, der dieser Entwicklung entgegenwirken soll. Wie bewerten Sie die darin vorgesehenen Maßnahmen?
Grundsätzlich befürworten wir die vom BMG vorgeschlagenen Regelungen, wie beispielsweise die Einführung eines Frühwarnsystems zur Erkennung von drohenden versorgungsrelevanten Lieferengpässen, vereinfachte Austauschregelungen für versorgungsrelevante und -kritische Arzneimittel bei einer kritischen Versorgungslage, die Pflicht zur mehrmonatigen Lagerhaltung bei rabattierten Arzneimitteln sowie die Beibehaltung des bei Markteinführung anerkannter Reserveantibiotika von pharmazeutischen Unternehmen gewählten Abgabepreises über einen Zeitraum von sechs Monaten hinaus.
Reicht das aus Sicht der AkdÄ?
Prinzipiell sollten Verteilungsprobleme als Ursache von Lieferengpässen relativ einfach lösbar sein. Aufgrund der im vergangenen Jahrzehnt zugenommenen Abhängigkeit von vielen ausländischen Zulieferern sowie der Zunahme des Drucks auf dem Weltmarkt wird sich jedoch ohne kurz- und mittelfristige Maßnahmen das Problem der Lieferengpässe eher zuspitzen. Solche Vorschläge für kurz- und mittelfristig wirksame Lösungsansätze existieren, müssen jedoch nun rasch umgesetzt werden.
Welche Vorschläge sind das?
Diese Vorschläge umfassen neben einer größeren Lagerhaltung vor allem die gründliche Analyse von Lieferanten- beziehungsweise Lieferketten bei lebenswichtigen Arzneimitteln und eine erhöhte Transparenz in der Fachinformation, um neben den pharmazeutischen Unternehmen auch die Arzneiform- und Wirkstoffhersteller zu erreichen.
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Der Referentenentwurf sieht unter anderem eine Stärkung der Position des BfArM und seines Beirats vor. Die AkdÄ ist Mitglied im Beirat. Wie effektiv und sinnvoll ist das Gremium aus Ihrer Sicht?
Der Beirat unter Beteiligung aller für das Thema relevanten Akteur:innen ist zweifelsfrei ein wichtiges Gremium. Allerdings konnten dadurch die in den vergangenen Jahren immer häufiger aufgetretenen, mitunter auch für die Versorgung relevanten Lieferengpässe nicht immer verhindert werden. Dies liegt natürlich auch an deren vielseitigen, mitunter auch komplexen Ursachen. Dazu zählen produktionsbedingte Gründe wie Rohstoffengpässe in der Herstellung oder die Bündelung der Produktion an wenigen Standorten in Niedriglohnländern wie China und Indien. Es gibt aber auch „hausgemachte Probleme“ wie ungünstige Marktbedingungen für Generika in Deutschland. Hier führen sehr niedrige Festpreise und Rabattverträge dazu, dass die Zahl der Anbieter derartiger Generika deutlich gesunken ist.
Welche Maßnahmen sind aus Ihrer Sicht außerdem nötig, um eine verlässliche und gute Arzneimittelversorgung in Deutschland zu gewährleisten?
Die EU-weiten Liefer- und Versorgungsengpässe verdeutlichen die Notwendigkeit, verstärkt Anreize für die Herstellung und den Vertrieb wenig profitabler, aber versorgungsrelevanter Arzneistoffe in der EU zu schaffen. Ansonsten werden die pharmazeutischen Hersteller vermutlich auch künftig wenig motiviert sein, notwendige Investitionen zu tätigen, um höhere Produktionskapazitäten auch in Deutschland vorzuhalten.
Müssen uns Arzneimittel mithin auch deutlich mehr Geld wert sein oder gibt es sogar ein Sparpotenzial?
Natürlich gibt es ein beträchtliches Sparpotenzial bei Arzneimitteln auch in Deutschland, insbesondere bei den neu eingeführten Arzneistoffen mit Patentschutz, zum Beispiel Onkologika. Dies belegt eindrucksvoll die 2011 in Deutschland eingeführte frühe Nutzenbewertung bei neuen Arzneistoffen, die bei dem nicht selten fehlenden Zusatznutzen im Vergleich zu einer zweckmäßigen Vergleichstherapie zu deutlichen Einsparungen bei den Ausgaben von Arzneimitteln geführt hat.