Ärzt:innen stehen bei der Prävention an vorderster Front
Angesichts steigender Inzidenzen sogenannter Wohlstandserkrankungen sind die Prävention von Krankheiten und die Gesunderhaltung wahrscheinlich die wichtigsten Maßnahmen für die Zukunft – nicht nur bezüglich der individuellen Gesundheit, sondern auch für das gesamte deutsche Sozialversicherungssystem. Hohe Blutzuckerspiegel, ein hoher Body-Mass-Index, Bluthochdruck, Nikotinabusus und Alkoholkonsum führen durch ihre Folgeerkrankungen zu erheblichen Kosten, unter anderem in der Krankenversorgung, in der Pflege und durch Erwerbsminderung. Sie belasten das Sozialversicherungssystem mit direkten und indirekten Kosten. Daher haben dessen Träger im Jahr 2015 das Präventionsgesetz verabschiedet.
Allerdings haben die Beteiligten diejenigen nicht eingebunden, die bei der Prävention an vorderster Front stehen: Ärztinnen und Ärzte. Expertise gäbe es genug: in der Deutschen Akademie für Präventivmedizin, der Deutschen Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention, der Deutschen Gesellschaft für Prävention und Rehabilitation – und nicht zuletzt bei den Niedergelassenen und bei den klinisch Tätigen!
Zudem wird die tägliche Prävention, die in nahezu jeder Sprechstunde, vor allem durch Hausärztinnen und Hausärzte geleistet wird, nicht ausreichend honoriert. Im Gegenteil, die „sprechende Medizin“ wird in der Vergütung immer noch nahezu negiert. Generelle und wissenschaftlich belegte Präventionsforderungen der Ärzteschaft werden nicht gehört. So werden zu jedem Jahreswechsel die Forderungen der Ärzteschaft nach einem Verbot des privaten Gebrauchs von Pyrotechnik ignoriert, obwohl sich Jahr für Jahr Tausende Menschen vermeidbar verletzen und Rettungskräfte gefährden. Geflissentlich wird auch die Forderung nach einer Zuckersteuer, die sich andernorts als wirksam erwiesen hat und von der WHO empfohlen wird, abgelehnt. Von einem Rauchverbot in der Öffentlichkeit, wie es zuletzt sogar in Frankreich, dem Land der Gitanes, eingeführt wurde, sind wir weit entfernt. Nicht einmal der bestehende Raucherschutz wird adäquat umgesetzt.
So ist zu befürchten, dass leichter und kontinuierlich zugängliche Angebote die „Gesundheitserziehung“ übernehmen. Neben seriösen Medfluencer:innen haben auch viele Influencer:innen ohne medizinische oder ernährungsphysiologische Expertise teilweise Tausende Follower:innen.
Zwar wurde der Nutri-Score auf Lebensmitteln – auch auf Drängen der Ärzteschaft – etabliert, doch die Praxis lässt der Lebensmittelindustrie zu viele Lücken. Wie lässt es sich sonst erklären, dass Pommes und Pizza teilweise mit einem grünen A oder B versehen sind? In Schweden, Belgien und Irland gibt es bereits ein Werbeverbot für Nahrungsmittel in Kindersendungen und in Australien gilt ab Dezember 2025 eine Altersbegrenzung für „soziale“ Medien. Hierzulande werden gesetzlich verankerte präventive Maßnahmen zum Medienkonsum bei Kindern und Jugendlichen (noch) abgelehnt. Paradoxerweise wird aber gleichzeitig gefordert, dass Ärzt:innen ihre jungen Patient:innen über die Gefahren des stundenlangen Bildschirmgebrauchs für den Bewegungsapparat, die Psyche und das Gewicht beraten. Abrechnen können sie diese Beratung jedoch kaum.
So ist zu befürchten, dass leichter und kontinuierlich zugängliche Angebote die „Gesundheitserziehung“ übernehmen. Neben seriösen Medfluencer:innen haben auch viele Influencer:innen ohne medizinische oder ernährungsphysiologische Expertise teilweise Tausende Follower:innen. Sie versprechen einfache Lösungen durch Nahrungsergänzungsmittel, strikte Ernährungsregimes oder einseitige Trainingsanleitungen – gern unter dem Hashtag #longevity. Diese schaden oftmals mehr, als sie nutzen. Unterstützung beim „gesunden Altern“ ist zudem die primäre, ureigenste ärztliche Präventionsleistung.
Zwar sehen die Krankenkassen zur Prävention Gesundheitschecks und Krebsfrüherkennungsuntersuchungen vor, doch dabei fallen in Deutschland (zu) viele Menschen durchs Raster. Dagegen fallen Nichtteilnehmende in England, Australien oder den Niederlanden übrigens auf, da alle Bürger:innen fest einer Praxis zugeteilt sind.
Wie viele der gefährdeten, aber noch nicht symptomatisch Kranken haben hierzulande eine feste Hausärztin bzw. einen festen Hausarzt? Beratungen zur Verhaltensprävention, wenn schon die Verhältnisprävention stockt, sind aufwändig und erfordern kontinuierliche motivierende Überzeugungsarbeit. Ein Primärarztsystem könnte da Abhilfe schaffen.
Ein elementarer Aspekt des Präventionsgesetzes ist die Verminderung sozialer oder geschlechtsbezogener Ungleichheit von Gesundheitschancen sowie der Zugang für alle zur Primärprävention und zur Gesundheitsförderung. Sichtbar ist jedoch, dass etwa die von den Krankenkassen angebotenen Präventionskurse gut angenommen werden, allerdings vorwiegend von Bevölkerungsschichten, die ohnehin ein hohes Gesundheitsbewusstsein haben. Orte, an denen alle erreicht werden können, nämlich die Praxen und Kliniken, werden im Präventionsgesetz jedoch nicht berücksichtigt.