Gleich zu Beginn zwei Sätze, die es in sich haben: „Der ärztliche Beruf ist kein Gewerbe. Er ist seiner Natur nach ein freier Beruf.“ Das steht in Paragraf 1 Absatz 1 der Präambel der Berufsordnung der Ärztekammer Berlin, und dieselbe Formulierung findet sich in der (Muster-)Berufsordnung der Bundesärztekammer.
Auch die „Essener Resolution für Freiheit und Verantwortung in der ärztlichen Profession“, beschlossen beim 127. Deutschen Ärztetag im Mai 2023, beginnt ganz bewusst mit diesen Sätzen. Dass Ärztinnen und Ärzte einen „freien Beruf“ ausüben, ergebe sich aus dem Selbstverständnis ihrer Profession, namentlich aus ihrem Berufsethos, ihrer Fachkompetenz, ihrer Orientierung am Gemeinwohl, insbesondere am Wohl ihrer Patient:innen, und nicht zuletzt aus ihrer Unabhängigkeit „von kommerziellen Erwartungshaltungen Dritter“, heißt es in der Erklärung.
In der Debatte, die der Abstimmung über die Resolution voranging, wurde aber auch konkret gefragt: Wissen Ärztinnen und Ärzte eigentlich genug darüber, was „Freiberuflichkeit“ bedeutet? Ob nun in einem Berufsleben als Angestellte in einem Krankenhaus oder als Mitglieder einer Kassenärztlichen Vereinigung, die in ihrer Praxis klar definierte Leistungen erbringen? Als Berufstätige also, die sich in ihrem Alltag oftmals nicht als sehr „frei“, sondern eher als eingeengt empfinden?
Da Ärzt:innen nicht die einzigen Angehörigen eines freien Berufes sind, lohnt sich der Blick ins Gesetzbuch, um den allgemeineren Merkmalen der Freiberuflichkeit auf die Schliche zu kommen: Das deutsche Recht definiert die freiberufliche Leistung in § 1 Absatz 2 Satz 1 des Gesetzes über „Partnerschaftsgesellschaften Angehöriger Freier Berufe“ (kurz PartGG) als „im Allgemeinen auf der Grundlage besonderer beruflicher Qualifikation oder schöpferischer Begabung erbrachte persönliche, eigenverantwortliche und fachlich unabhängige Dienstleistungen höherer Art im Interesse der Auftraggeber und der Allgemeinheit.“ In Satz 2 der genannten Vorschrift wird sodann ausdrücklich die selbstständige Berufstätigkeit der „Ärzte, Zahnärzte, Tierärzte, Heilpraktiker, Krankengymnasten, Hebammen, Heilmasseure, Diplom-Psychologen, Mitglieder der Rechtsanwaltskammern, Patentanwälte, Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, beratenden Volks- und Betriebswirte, vereidigten Buchprüfer (vereidigte Buchrevisoren), Steuerbevollmächtigten, Ingenieure, Architekten, Handelschemiker, Lotsen, hauptberuflichen Sachverständigen, Journalisten, Bildberichterstatter, Dolmetscher, Übersetzer und ähnlicher Berufe sowie der Wissenschaftler, Künstler, Schriftsteller, Lehrer und Erzieher“ genannt.
Schaut man im Anschluss an diese erschöpfende Aufzählung nach, wer sich im Bundesverband der Freien Berufe e. V. (BFB) zusammengeschlossen hat, stößt man auf Vereinigungen von Apotheker:innen, Architekt:innen, Landschaftsarchitekt: innen, Anwält:innen, Steuerberater:innen, Wirtschaftsprüfer: innen, Vermessungsingenieur:innen, Dolmetscher:innen und Übersetzer:innen sowie Restaurator:innen.
Was verbindet all diese Berufe – auch über Landesgrenzen hinweg? Wieder lohnt der Blick in einen juristischen Text: In einem Urteil vom 11. Oktober 2012 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) versucht, es auf den Punkt zu bringen. Hiernach gehören zu den Freien Berufen Tätigkeiten, die „ausgesprochen intellektuellen Charakter haben, eine hohe Qualifikation verlangen und gewöhnlich einer genauen und strengen berufsständischen Regelung unterliegen. Hinzu kommt, dass bei der Ausübung einer solchen Tätigkeit das persönliche Element besondere Bedeutung hat und diese Ausübung auf jeden Fall eine große Selbstständigkeit bei der Vornahme der beruflichen Handlungen voraussetzt.“
„Artes liberales“: Die Beschäftigung des freien Mannes
„Der Begriff des ‚Freien Berufes‘ kann auf den Begriff der ‚artes liberales‘ zurückgeführt werden“, erläutern die Autor:innen der Studie zur „Lage der freien Berufe in ihrer Funktion und Bedeutung für die europäische Zivilgesellschaft“. Bei diesen „freien Künsten“, die in der Antike als eines „freien Mannes“ (von Frauen war nicht die Rede) würdig galten, handelte es sich um das sprachliche „Trivium“ Grammatik, Rhetorik und Logik sowie das naturwissenschaftliche „Quadrivium“ Arithmetik, Musik, Geometrie und Astronomie. Im Mittelalter galten diese sieben als eine Vorbereitung auf das Studium der Theologie, der Jurisprudenz und der Medizin. Eine Art Propädeutikum zur Allgemeinbildung.
Interessanterweise wurden im ersten vorchristlichen Jahrhundert von einzelnen Denkern auch die Medizin und die Architektur zu den freien Künsten gezählt – in Abgrenzung zu Tätigkeiten in der Landwirtschaft oder im Handwerk.
Die Philosophin Hannah Arendt hat in ihrem Buch „Vita activa“* deutlich gemacht, dass Menschen in Ausübung dieser „freien Künste“ auch damals schon Geld verdienen konnten, wollten und natürlich oft auch mussten. Die „Zwecke“ und das Wesen der freien Berufe liegen für sie aber allein in der Arbeit an ihrem Gegenstand, also dem Heilen von Kranken oder dem Bauen von Häusern. Allerdings habe man, um diese Künste auszuüben, außer der Kunst des Heilens oder der des Bauens auch noch „die Kenntnis einer zusätzlichen, sie alle begleitenden Kunst, durch die man auch noch zu seinem Gelde kam“ gebraucht. Arendt betrachtet diese „Erwerbskunst“ also als eine eigene Kunst, die mit „der Gesundheit, dem Gegenstand der Medizin, oder der Errichtung von Gebäuden, dem Gegenstand der Architektur“, nicht das Geringste zu tun habe. „So wie der Zweck der Medizin die Gesundheit ist, ist Zweck der Erwerbskunst die Freiheit von Existenzsorgen.“ Ärztinnen und Ärzte sollten beide Künste beherrschen – getrennt voneinander.
Hannah Arendt:
Vita activa oder Vom tätigen Leben
Piper, 1981, Seite 152
Die „Vertrauensberufe“
Die freien Berufe sind längst auch Gegenstand der Forschung. Vom Europäischen Zentrum für Freie Berufe der Universität zu Köln wurde 2014 eine groß angelegte Studie zur Bedeutung der freien Berufe für die europäische Zivilgesellschaft veröffentlicht. Darin wird die Bedeutung dieser Professionen hervorgehoben: „Die Freien Berufe spielen für die gesellschaftliche und die wirtschaftliche Entwicklung vieler europäischer Staaten eine wichtige Rolle. Sie stellen Arbeitsplätze bereit, tragen zum Wirtschaftswachstum bei und erfüllen wichtige Gemeinwohlfunktionen.“ Ganz typisch für diese Berufe sei, dass sie Dienstleistungen erbringen, „die von hoher Bedeutung für die Erfüllung staatlicher Kernaufgaben sind.“
Und noch etwas ist entscheidend: Als wichtiges Merkmal der menschlichen Beziehungen, die bei der Ausübung dieser Dienstleistungen entstehen, heben die Kölner Wissenschaftler: innen die „Informationsasymmetrie“ hervor. Da die Anbieter: innen der Leistungen einen großen Wissensvorsprung haben, können deren „Kund:innen“ die Qualität der Dienstleistung nicht umfassend beurteilen. „Die Bevölkerung setzt in ihre gemeinwohlorientierte Tätigkeit ein hohes Maß an Vertrauen, sodass die Freien Berufe auch als Vertrauensberufe bezeichnet werden können.“
Auf den Arztberuf passt das besonders gut: Auch wenn mündige Patient:innen und ihre Angehörigen sich noch so gut informieren, wenn Therapieentscheidungen heute gemeinsam getroffen und zuvor Zweitmeinungen eingeholt werden, der Arztberuf bleibt genau das: ein Vertrauensberuf. Zumal die Menschen, die bei Ärzt:innen Hilfe suchen, nicht nur in fachlicher Hinsicht unterlegen sind, sondern sich auch aufgrund ihrer aktuellen Situation als Kranke in einer geschwächten Position befinden.
„Die Freiheit, für das Wohl der Patientinnen und Patienten zu handeln, ist das Fundament der besonderen Vertrauensbeziehung zu ihren behandelnden Ärztinnen und Ärzten“, heißt es denn auch weiter in der „Essener Erklärung“. Freiberuflichkeit finde ihren Ausdruck deshalb in der „persönlichen Verantwortung“.
Freiheit und Verantwortung
Dass der Begriff der Freiheit untrennbar mit Begriffen verbunden ist, die sie präzisieren und ihr eine Richtung geben, haben im Verlauf der Jahrhunderte viele Denker:innen in markanten Formulierungen festgehalten. Für den ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck ist Verantwortung sogar ganz generell das Merkmal eines gereiften Freiheitsverständnisses: „Die Freiheit der Erwachsenen heißt Verantwortung.“ Und um nicht nur einen Theologen, sondern auch einen großen Mediziner zu zitieren: Schon der große Rudolf Virchow stellte fest: „Die Freiheit ist nicht die Willkür, beliebig zu handeln, sondern die Fähigkeit, vernünftig zu handeln.“
Der organisatorische Rahmen, der der Ärzteschaft dafür – ähnlich wie anderen freien Berufen – gesteckt ist, heißt Selbstverwaltung. „Die freiberufliche Selbstverwaltung vermittelt zwischen dem Freiheitsrecht der Berufsangehörigen gegenüber staatlicher Einwirkung auf die Berufsausübung und dem Regelungsanspruch des Staates, die Gemeinwohlbindung der Freien Berufe sicherzustellen“, fasst die genannte Studie des Europäischen Zentrums für Freie Berufe kurz und knapp zusammen.
Mit ihrem Engagement in der Selbstverwaltung üben Ärztinnen und Ärzte aber nicht nur ihr „Freiheitsrecht“ gegenüber staatlicher Einwirkung aus. Sie sorgten damit zugleich für ein Stück „schlanken Staat“, lobte der damalige Bundespräsident Roman Herzog in seiner Ansprache beim 100. Ärztetag im Jahr 1997 in Eisenach.
Die 17 Ärztekammern der Bundesländer (darunter zwei in Nordrhein-Westfalen) übernehmen Verantwortung in Sachen Weiterbildung und Fortbildung, kümmern sich um die Qualitätssicherung der Berufsausübung sowie um ethische und berufsrechtliche Pflichten und organisieren Ethikkommissionen für die Beurteilung von Forschungsvorhaben. Zudem bringen sie sich auf Länderebene oder gemeinsam im Rahmen der Bundesärztekammer und der jährlichen Ärztetage in gesellschaftliche und politische Meinungsbildungsprozesse sowie mit ihrer Expertise auch gezielt in Formulierungen für Gesetzesvorhaben ein. Das ehrenamtliche Engagement in den Kammern kostet die Mediziner:innen viel von ihrer ohnehin meist knappen Freizeit.
Eine wichtige Motivation ist für viele sicher der Gedanke, den Dr. med. Marion Charlotte Renneberg von der Ärztekammer Niedersachsen in der Zeitschrift „Ärztin“ im Dezember 2018 so formulierte: „Wenn wir nicht über uns selbst bestimmen, tun das irgendwann andere, insbesondere diejenigen mit partikularen wirtschaftlichen oder politischen Interessen.“ So betrachtet ist die Möglichkeit, als Angehörige oder Angehöriger eines freien Berufes mit der Selbstverwaltung zum „schlanken Staat“ beizutragen, auch ein Privileg.
Immer auf dem Laufenden bleiben. Melden Sie sich hier für unseren Newsletter an.
Vom „Collegium Medicum“ zu den Ärztekammern
Holt man historisch weit aus, bleibt geografisch aber in unserer Region, so geht dieses Recht auf die Regierungszeit des Kurfürsten Friedrich Wilhelm I. im 17. Jahrhundert zurück: Angesichts der herrschenden Missstände bei der Patientenversorgung übertrug er den besten Ärzten seiner Zeit in Form eines „Collegium Medicum“ die Aufsicht über ihre Kollegen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wünschte sich der Medizinprofessor Prof. Dr. med. Hermann Eberhard Richter dann, „nachdem ganz Deutschland zu einem Reichskörper geeinigt ist“, auch eine einheitliche Körperschaft für das gesamte Land. 1873 wurde der Deutsche Ärztevereinsbund gegründet und bald fanden jährlich Ärztetage statt, bei denen sich bevollmächtigte Delegierte der lokalen Ärztevereine trafen.
Zwei Anliegen durchzogen diese Treffen: In Gesundheitsfragen – wie etwa bei Impfgesetzen oder dem Apothekenwesen, aber auch in der „Kurpfuscherfrage“ – mitzureden und staatliche Befugnisse durch Organe ärztlicher Selbstverwaltung zu übernehmen. 1887 kam es dann in allen preußischen Provinzen zur flächendeckenden, gesetzlich legitimierten Einführung von Ärztekammern. Für Berlin und Brandenburg gab es zunächst eine gemeinsame „Ärztekammer für die Provinz Brandenburg und die Stadtgemeinde Berlin“. 1926 erhielten die Ärztekammern in Preußen den Status von Körperschaften des öffentlichen Rechts, was mit einer Pflichtmitgliedschaft aller Ärzt:innen in einer Kammer des jeweiligen Zuständigkeitsbereichs verbunden war.
Zu einer landesweiten, alle Ärzt:innen verpflichtend einbeziehenden Organisation auf Reichsebene kam es jedoch nicht. Von der NS-Führung wurde sie später zwar versprochen, fiel aber der Gleichschaltung zum Opfer. Nach dem Zweiten Weltkrieg bildete sich in den drei Westzonen 1947 die „Arbeitsgemeinschaft der Westdeutschen Ärztekammern“, die Vorläuferin der heutigen Bundesärztekammer. Dass es die Länder sein sollten, die für die gesetzliche Regelung der ärztlichen Selbstverwaltung zuständig sind, legte das Grundgesetz fest. Berlin war wegen seines Sonderstatus „Nachzügler“ bei der Gründung einer Ärztekammer, diese kam erst im Jahr 1963, und erst seit 1990 ist sie für die gesamte Stadt zuständig.
Ausreichend, zweckmäßig, wirtschaftlich
Ist von Selbstverwaltung im Gesundheitswesen die Rede, dann werden vor allem Niedergelassene an die Tücken der vertragsärztlichen Versorgung denken. Denn auch Kassenärztliche Vereinigungen (KVen) und Gesetzliche Krankenkassen sind Körperschaften des öffentlichen Rechts. Begriffe wie Gesamtvergütung, Kollektivverträge, einheitlicher Bewertungsmaßstab oder Budgets vermitteln das Gefühl von „Freiheit“ auf den ersten Blick aber eher weniger. Was im Sozialgesetzbuch (SGB) V § 72 Absatz 2 dazu zu lesen ist, klingt dröge: „Die vertragsärztliche Versorgung ist im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften und der Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses durch schriftliche Verträge der Kassenärztlichen Vereinigungen mit den Verbänden der Krankenkassen so zu regeln, dass eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten unter Berücksichtigung des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse gewährleistet ist und die ärztlichen Leistungen angemessen vergütet werden.“
Ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich: Kaum einer weiß, dass die allseits bekannten Begriffe sich schon in der am 8. Dezember 1931 unter der Kanzlerschaft Heinrich Brünings verabschiedeten Notverordnung finden lassen, in der erstmals von Gesamtverträgen der Vereinigungen der Krankenkassen und der „beteiligten kassenärztlichen Vereinigungen“ die Rede ist. „Für das Zustandekommen des Einzelvertrages ist die schriftliche Erklärung des Kassenarztes, dass er dem Gesamtvertrag beitritt, erforderlich und genügend“, heißt es dort. Auch von „Gesamtvergütung“ und „Kopfpauschalen“ ist in dieser Verordnung bereits die Rede. Der für seine Sparpolitik bekannte Reichskanzler wollte auch hier Ordnung schaffen und üppige Einzelhonorare verhindern. Der Ärzteschaft sei die Bildung der KVen „als öffentlich-rechtliche Kollektivvertretung der Ärzteschaft gegenüber den gesetzlichen Krankenkassen“ aber so gelegen gekommen, dass sie dafür Einkommensverluste in Kauf genommen habe, schreibt Thomas Gerst.
Unterschiedliche Grundmodelle in Europa
Und heute? Ist der Arztberuf überall in Europa wie in Deutschland organisiert? Im Prinzip lassen sich nach der Kölner Studie drei Modelle unterscheiden: Während in den skandinavischen Ländern ein staatliches Gesundheitssystem besteht und staatliche Behörden auch für die Einhaltung des Berufsrechtes zuständig sind, existiert in Großbritannien und in Frankreich (siehe Kasten) ein „Council“-Modell: Das Gesundheitssystem ist weitgehend staatlich, doch alle Ärzt:innen müssen im „Council“ oder im privatrechtlich organisierten „Conseil“ ihres Berufsstandes registriert sein und ihre Registrierung in regelmäßigen Abständen erneuern. Das Kammer-Modell wiederum findet sich traditionell in Deutschland und Österreich, aber auch in einigen anderen Ländern, etwa in Portugal.
Einen „freien Beruf“ üben Ärzt:innen in all diesen Ländern unabhängig von der Organisationsform aus. Denn dafür sind bereits genannte Kriterien wie das hohe Qualifikationsniveau und die persönliche Unabhängigkeit bei Behandlungsentscheidungen maßgeblich. Ohne Selbstverwaltung können Mediziner:innen sich allerdings an der Ausgestaltung ihrer Tätigkeit wesentlich weniger beteiligen. Ob es nun um die Berufsordnung oder die Regelungen für die Weiterbildung geht oder um die Mitgestaltung von neuen Gesetzen: Die ärztliche Selbstverwaltung macht dies hierzulande möglich.
Frankreich: Liberté – und ihre Grenzen
Während in Deutschland der Staat zwar die gesetzlichen Rahmenbedingungen (etwa in Gestalt des SGB V) vorgibt, die Träger des Gesundheitssystems sich auf dieser Grundlage aber selbst organisieren, ist die Gesundheitspolitik in unserem Nachbarland Frankreich stärker vom Zentralstaat gelenkt.
Vergleichbar ist, dass einen Großteil der Kosten für Behandlungen ein Sozialversicherungssystem übernimmt, das allerdings einen Selbstbehalt vorsieht und die Patient:innen im ambulanten Bereich zudem zunächst in Vorleistung gehen lässt. Die „Assurance Maladie“ übernimmt im Regelfall nur rund 70 Prozent der Arztkosten, weshalb 95 Prozent der Versicherten eine Zusatzversicherung abschließen. Nur chronisch und schwer Kranke bekommen ihre Kosten voll erstattet.
Neben den tariflich gebundenen niedergelassenen Ärzt:innen gibt es „Médecins non conventionnés“, die bei der Gestaltung der Honorare mehr Freiheit genießen. Seit einigen Jahren gibt eine Allgemeinmedizinerin oder ein Allgemeinmediziner, die oder den die Patient: innen für sich wählen, als erste Anlaufstelle („médecin traitant“) den Behandlungspfad und Zugang zu Spezialist:innen vor. Niedergelassene, frei praktizierende Ärzt:innen werden in Frankreich auch als „médecins libéraux“ bezeichnet.
Mit wenigen Ausnahmen müssen alle im Land tätigen Ärzt:innen in einer Organisation mit privatrechtlichem Status Mitglied sein, dem „Conseil National de l’Ordre des Médecins de France“. Sie werden dafür in dem Département registriert, in dem sie – ob in einem Krankenhaus, als Inhaberin oder Inhaber oder angestellt in einer ambulanten Einrichtung – ihren Beruf ausüben. Der Conseil wacht über das Berufsethos seiner Mitglieder, berät sie in Karrierefragen, nimmt Einfluss auf die Politik und stützt mit einem Fonds in Not geratene Kolleg: innen. Er ist aber auch immer wieder dem Unmut von Mediziner:innen ausgesetzt, die sich teilweise weigern, den vollen Mitgliedsbeitrag zu zahlen, da sie Haltungen des Gremiums nicht teilen.
Strukturen für kommende Generationen verbessern
Einer aus der Reihe der jüngeren Berliner Ärztinnen und Ärzte, die sich dafür entschieden haben, diese Möglichkeit zu nutzen, ist Dr. med. Axel Moysich, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin mit Schwerpunkt Kinderkardiologie. Er engagiert sich im Weiterbildungsausschuss II der Ärztekammer Berlin. „In meiner Weiterbildung gab es noch Mentoren, die mich gefördert und gefordert haben, um so ihr Wissen und ihre Erfahrung weiterzugeben“, berichtet der Pädiater. „Durch die seit Jahren progrediente Personalverknappung und Arbeitsverdichtung im Gesundheitswesen gelingt das immer schlechter, es leidet spürbar die ärztliche Weiterbildung. Also muss diese inhaltlich besser strukturiert, die Rahmenbedingungen optimiert werden.“ Grund genug, sich im Weiterbildungsausschuss zu engagieren.
Auch für Kristina Schulz, Ärztin in Weiterbildung Allgemeinmedizin, ist es ein wichtiges Anliegen, sich für eine gute Weiterbildung zu engagieren. Durch den Stammtisch Weiterbildung Allgemeinmedizin Berlin (WABe) hörte sie von sehr unterschiedlichen Erfahrungen. „Ich wollte verstehen, wie Weiterbildende ausgewählt und welche Anforderungen an sie gestellt werden. Durch die Möglichkeit, online an den Sitzungen des Weiterbildungsausschusses teilzunehmen, lässt sich dies gut in den Arbeits- und Familienalltag integrieren.“
„Ich habe persönlich und in meinem kollegialen Umfeld viele Missstände während der Weiterbildungszeit erlebt“, berichtet Anna Krüger vom Weiterbildungsausschuss I. Sie findet: „Nur wenn wir gemeinsam aus diesen Erfahrungen Konsequenzen ziehen, können die Strukturen für die kommenden Generationen verbessert werden.“
„Die Weiterbildung anderer hat mir sehr viel Spaß gemacht und deswegen habe ich Lust gehabt, die Weiterbildung mehr mitzugestalten“, berichtet Stefan Linnig, inzwischen in einer Praxis für Arbeits- und Präventivmedizin tätig. Seit elf Jahren ist er Prüfer und seit vier Jahren Prüfungsvorsitzender. Das Arbeiten an der neuen Weiterbildungsordnung empfindet er als interessant. „Man muss aber auch einen langen Atem haben, da die Prozesse in der Selbstverwaltung teilweise sehr lange dauern.“ Doch er sieht auch einen fachlichen Nutzen, der sich aus dieser geduldigen Arbeit ergibt: „Wer sich in der Weiterbildung junger Ärzt:innen engagiert, ist immer auf dem neuesten Stand des Wissens.“
Sein Kollege Dr. med. Ben Schacher, Facharzt für Orthopädie, Unfallchirurgie und Handchirurgie, schlägt zusätzlich einen berufspolitischen Bogen: „Ökonomisierung und Ambulantisierung der Versorgungsstrukturen sind eine Herausforderung für die Qualität der Weiterbildung. Aus meiner Sicht kann nur die Selbstverwaltung hier sinnvoll unterstützen und weiterentwickeln. Durch die Mitarbeit im Ausschuss möchte ich helfen, dass zukunftsorientierte Perspektiven und deren Umsetzung zugunsten der Weiterzubildenden möglich sind.“
Als eine der Gremien-Erfahrenen, „Etablierten“, berichtet Dr. med. Christiane Groß, die sich seit Jahren unter anderem im Vorstand des Deutschen Ärztinnenbundes engagiert, aber auch freimütig, dass die Detailarbeit in den Gremien oft mühsam sei. Man müsse die ganz großen Erwartungen herunterschrauben, dann gewinne man den Blick für die kleinen Erfolge: „Ab und zu wirft man eine Hand voll Sand in die Luft, wenn man genau hinsieht, gerät ein Sandkorn zwischen die Räder, dann hat man etwas geschafft.“ Neben dem Willen zum Gestalten besteht ein ganz starker Antrieb für sie persönlich darin, dass sie bei der ehrenamtlichen Tätigkeit immer wieder neue Leute kennenlernt, dass sie sich vernetzen kann und oft anregende Gespräche führt. „Das muss man mögen, dann ist man hier richtig.“