Herr Professor Baumann, in der Krebsmedizin ist eine Menge passiert. Lässt sich diese Entwicklung anhand harter Fakten wie der Überlebenszeit oder höherer Lebensqualität messen?
Heute liegt in Deutschland die Überlebensrate nach fünf Jahren bei Krebserkrankungen insgesamt bei 62 Prozent für Männer und bei 67 Prozent für Frauen. Das ist eine deutliche Steigerung im Vergleich zu der Zeit, als ich noch ein junger Assistenzarzt war. Krebs kann heute in vielen Fällen zu einer chronischen Erkrankung gemacht werden. Auch wenn er nicht heilbar ist, sind heute doch viele Jahre bei guter Lebensqualität möglich.
Welche Tumorentitäten haben besonders profitiert?
Viele Lymphomen und Leukämien zählen dazu, auch Bronchialkarzinome, Prostatakarzinome und Mammakarzinome sowie einige kolorektale Tumoren. Hier hat die Überlebenszeit bei guter Lebensqualität selbst in späten Stadien zugenommen.
Was war aus Ihrer Sicht der größte Fortschritt in den vergangenen 10 bis 15 Jahren?
Eine der wichtigsten Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte war, dass Krebs unglaublich heterogen ist. Ein Tumor an derselben Stelle im Körper unterscheidet sich nicht nur zwischen zwei Patienten, sondern auch die Krebszellen innerhalb einzelner Tumore unterscheiden sich voneinander. Auf diesen Erkenntnissen bauen neue Therapien auf, die an die individuelle Erkrankung angepasst sind. Diese kommen jetzt flächendeckend beim Patienten an. Die Sequenzierung des Tumorerbguts ist heute eine etablierte Technik, um die molekularen Abweichungen des individuellen Tumors im Detail zu erfassen. Auch die Proteomik spielt zunehmend eine Rolle. Diese Analysen sind die Grundlage für zielgerichtete medikamentöse Therapien sowie für neue Ansätze der Immuntherapie.
Die Immuntherapien zählen übrigens auch zu den epochemachenden Entwicklungen. Sie sind mittlerweile eine tragende Säule der Krebsbehandlung. Dahinter steckt eine jahrzehntelange Entwicklung mit vielen Rückschlägen – bis es auf einmal funktioniert hat. Einer der wichtigsten Durchbrüche war dabei die Entdeckung der Immun-Checkpoint-Inhibitoren (ICI).
Sie sagen, diese Fortschritte kommen im klinischen Alltag bereits bei den Patientinnen und Patienten an.
Bei einigen Tumorarten ist das ganz unbestritten. Zum Beispiel konnte beim nicht-kleinzelligen Bronchialkarzinom das mediane Überleben durch die Kombinationen von zielgerichteten Medikamenten erheblich gesteigert werden. Auch beim metastasierten Melanom lassen sich teilweise langfristig stabile Ansprechraten erreichen. Unter ICI sehen wir bei diversen soliden Tumoren ein verbessertes progressionsfreies Überleben und auch Gesamtüberleben in der fortgeschrittenen Erkrankungssituation. Das gilt, sofern der Tumor auf die Therapie anspricht, für das Melanom sowie für Plattenepithelkarzinome im Kopf-/Hals-Bereich oder für Nierenzellkarzinome.
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Und wo sind die Limitationen?
Viele Tumoren sprechen nicht auf die ICI an, die Gründe dafür sind nur teilweise bekannt. Bei den zellulären Immuntherapien haben wir die Schwierigkeit, dass sie bislang nicht gegen solide Tumoren wirken, weil sie schlichtweg nicht in den Tumor eindringen können und sich schnell erschöpfen. Es wird intensiv daran geforscht, hier Verbesserungen zu erreichen. Ein großes Problem ist die Resistenzentwicklung unter dem Selektionsdruck zielgerichteter Medikamente. Intelligente Kombinationen, auch mit Immuntherapien, können hier hilfreich sein. Insgesamt besteht in diesem Bereich sehr großer Forschungsbedarf. Das Bundesforschungsministerium fördert große Forschungskonsortien in ganz Deutschland, die genau diese Fragen adressieren.
Lassen Sie uns über Künstliche Intelligenz sprechen. Hat der Einsatz von KI bereits zu nennenswerten Verbesserungen in der Versorgung von Krebspatient:innen geführt?
Erste KI-Anwendungen halten gerade Einzug in die Klinik, doch die meisten Einsatzgebiete in der Onkologie befinden sich noch in der klinischen Prüfung. Wenn wir über KI-Unterstützung in der Medizin sprechen, dürfen wir den Vorteil für die Ärzte nicht unterschlagen: KI kann zum Beispiel die Auswertung bildgebender Diagnostik erleichtern, bei pathologischen Befundungen helfen oder, wie bei uns im DKFZ gezeigt wurde, bei der Hautkrebsdiagnostik unterstützen. Das kann viel ermüdende Routinearbeit einsparen und ist in Zeiten des Fachkräftemangels ein echter Gewinn.
Zu guter Letzt: Welche Rolle wird KI in Zukunft spielen?
Ich gehe davon aus, dass KI in allen Bereichen, die mit Bildauswertung zu tun haben, in Zukunft eine dominierende Rolle spielen wird. Auch die Chirurgie wird in wenigen Jahren völlig anders aussehen: Ärzte werden bei Operationen zunehmend durch intelligente Systeme und Datenwissenschaft unterstützt werden. Gleiches gilt für die Strahlentherapie, die mithilfe von KI-Systemen und ausgefeilter Technologie immer präziser auf den Patienten abgestimmt wird. KI wird außerdem bei der Entwicklung neuer Medikamente immer wichtiger. Sie kann Zusammenhänge in sehr großen, flächendeckenden Datensätzen aufdecken und dadurch beispielsweise Risikofaktoren für Erkrankungen identifizieren. Wir stehen also am Beginn einer spannenden Entwicklung.