Dr. Adelheid Müller-Lissner: Herr Dr. Girth, Sie sind seit über 20 Jahren Menschenrechtsbeauftragter der Landesärztekammer Hessen. Vor drei Jahren kamen die Titel „Rassismus- und Diskriminierungs-beauftragter“ hinzu. Was hat sich in Ihrer Arbeit dadurch verändert?
Dr. med. Ernst Girth: Als die Landesärztekammer mich gefragt hat, ob ich für diese Erweiterung zur Verfügung stehe, habe ich ehrlich gesagt insgeheim gedacht: Das ist doch überflüssig. Wer sich rassistisch behandelt fühlt, weiß doch, dass das zu den Menschenrechten gehört, und wendet sich an die Kammer. Ich war ganz überrascht, dass meine Auffassung falsch war. In den drei Jahren seit der Umbenennung gab es jedenfalls einen rasanten Anstieg der zu bearbeitenden Fälle. Knapp die Hälfte der 70 Beschwerden bezieht sich auf rassistische Diskriminierung. Meine Erklärung ist, dass der Begriff „Menschenrechte“ möglicherweise zu abstrakt ist, wohingegen der Begriff „Rassismus“ völlig klar ist. Das könnte der Grund dafür sein, dass sich seither mehr Menschen angesprochen gefühlt haben. Allerdings war auch das Medienecho groß, sodass meine Funktion mehr Aufmerksamkeit bekam.
Steckt wirklich immer Rassismus hinter problematischen Äußerungen gegenüber „anders aussehenden“ Menschen?
Zu Beginn meiner Tätigkeit dachte ich öfter, ich verstehe die Klage, aber es handelt sich hier nicht um „Hard-Core“- Rassismus, sondern eher um Gedankenlosigkeit. Paradebeispiel ist die Frage nach der Herkunft. Da kommt es allerdings immer auf den Kontext an, es ist ein Graubereich. Wenn Sie dreimal gefragt werden, woher Sie denn stammen und wie lange Sie schon hier sind, und wenn dazu noch moniert wird, dass Sie in der Zeit nicht anständig Deutsch gelernt haben, wenn der Arzt oder die Ärztin nicht fragen, was Ihnen denn fehlt und warum Sie in die Praxis gekommen sind, obwohl er oder sie doch sehen müsste, dass Sie inzwischen den Tränen nahe sind, dann ist das mehr als Gedankenlosigkeit.
Mit zunehmender Arbeit habe ich umdenken müssen: Das, was wir Gedankenlosigkeit nennen, ist für die Betroffenen sehr schmerzhaft. Der Behandlungsraum in einer Arztpraxis ist schließlich ein Vertrauensraum. Deshalb nimmt es mich besonders mit, dass ich feststellen muss: Eine kleine Gruppe von Ärzt:innen meint nach dem Motto „My Home is my Castle“, dort könne man sagen, was man will. Dahinter steht ein Machtanspruch. Wenn wir darüber nachdenken, dann ist das Vertrauen, das uns entgegengebracht wird, aber doch ein großes Geschenk. Das sollten wir mit Dankbarkeit und Empathie beantworten.
Wie gehen Sie vor, wenn es zu einer Beschwerde von Patientinnen oder Patienten kommt?
Wenn ich eine Beschwerde bekomme, leite ich das an die betroffene Ärztin oder den betroffenen Arzt weiter und sie müssen dann darauf antworten. Diese Art Post von der Ärztekammer zu bekommen, ist schon eine Art „Strafe“. Ich möchte, wann immer möglich, Einsicht und Bitten um Entschuldigung im direkten Kontakt zwischen Ärztin bzw. Arzt und Patientin bzw. Patient erreichen.
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Können Ärzt:innen sich nach solchen Vorfällen gut entschuldigen? Oder haben sie eher Angst, dass ihnen „ein Zacken aus der Krone bricht“, wenn sie Fehlverhalten eingestehen?
Die meisten versuchen, ihr Verhalten zunächst einmal zu rechtfertigen. Das heißt aber noch lange nicht, dass sie völlig uneinsichtig wären. Ich denke da an einen Kollegen, der zunächst auf die Beschwerde über sein Verhalten, die vom Vater eines kranken Kindes kam, sehr unwirsch reagiert hat. Er denke nicht daran, sich zu entschuldigen, teilte er mir im ersten Gespräch mit. Einen Tag später rief er wieder an und sagte: „Das Gespräch mit Ihnen hat mich so aufgewühlt, ich habe danach den Vater angerufen.“ Die Familie werde weiter zu ihm in Behandlung kommen. Das ist so ein Fall, bei dem einem das Herz aufgeht. Ich möchte ja Nachdenklichkeit und Einsichten anstoßen. Wenn mir das gelingt, ist es erfreulich.
Wie erleben Sie die Reaktion der Patient:innen auf Ihre Arbeit?
Ich erlebe eine erstaunliche Dankbarkeit bei den Patient:innen, die oft nicht erwarten, dass die Kammer im Grundsatz auf ihrer Seite ist. Vielen ist das genug. Sie möchten einfach die Anerkennung, dass es so nicht geht. Allein die Tatsache, dass es dieses Amt gibt, trägt zu Vertrauen bei den Patient:innen bei.
Gab es auch Fälle, in denen Ihnen umgekehrt das Verhalten der Patient:innen, die sich bei Ihnen gemeldet haben, unangemessen erschien?
Ich sehe meine Rolle als die eines möglichst neutralen Schlichters, beide Seiten sind in meinen Augen gleichberechtigte Partner. In fünf bis sieben der bisherigen Fälle habe ich entschieden, dass nicht die Ärztin oder der Arzt, sondern die Patientin oder der Patient den Konflikt verursacht hat. Ein Beispiel: Während der Corona-Zeit wurde in einer Kinderarztpraxis ein Vater mit seinem Kind schon einmal ins Behandlungszimmer geschickt, wo sie auf den Arzt warten sollten. Das Kind hat während der Wartezeit mit Buntstiften den Schreibtisch des Arztes bemalt und dessen Computer mit Metallgegenständen traktiert. Das Entsetzen des Pädiaters, der Vater und Sohn daraufhin aus der Praxis warf, hat der Vater als rassistische Diskriminierung angeprangert. Solche Fälle gibt es auch, und natürlich gibt es Patient:innen, die sich schlecht benehmen. Grundsätzlich würde ich aber meinen: Es gehört zu meinen Aufgaben als Arzt, mit Unterschieden im Verhalten umsichtig und überlegt umzugehen.
Erreichen Sie Beschwerden von Patient:innen eher aufgrund von Erfahrungen in Praxen oder in Kliniken?
99 Prozent der bisherigen Beschwerden beziehen sich auf Vorfälle in Praxen. Meine Erklärung dafür ist zunächst, dass in den Kliniken die soziale Kontrolle stärker ist. Selten sind dort zwei Personen allein in einem Behandlungsraum. Außerdem spielt wahrscheinlich eine Rolle, dass es in den Krankenhäusern selbst teilweise Stellen gibt, an die man sich wenden kann.
Gehen bei Ihnen auch Beschwerden von Kolleg:innen ein, die sich von anderen Mediziner:innen oder von Patient:innen diskriminiert fühlen?
Bisher war ich fast nur mit Fällen befasst, in denen sich Patient:innen an mich gewandt haben. Es gab aber auch die Beschwerde eines Arztes, der sich auf eine Oberarztstelle beworben hatte und als Antwort vom Chefarzt nur die Nachricht „Nix Pakistani“ erhielt. Das habe ich gleich an die Rechtsabteilung weitergegeben. Unabhängig davon hat die Klinikleitung dem Arzt sofort eine Entschädigung nach dem Antidiskriminierungsgesetz angeboten.
Was lässt sich in der Ausbildung von Mediziner:innen verbessern, damit es zu all diesen Vorfällen nicht mehr kommt?
Ein Eid ist abstrakt, doch angehende Ärzt:innen müssen Gleichbehandlung praktisch lernen. Es geht darum, wie ich frage und wie ich mit Angehörigen umgehe. Und darum, Wertungen aufgrund von Erfahrung zu verändern. Nicht zuletzt ist es wichtig, zusammen mit den Mitarbeitenden in der eigenen Praxis oder der Abteilung des Krankenhauses ein freundliches Klima zu schaffen, in dem Diskriminierung keinen Platz hat.