Eine Schwarze Patientin kommt ins Behandlungszimmer. Sie schildert ihre Beschwerden in differenzierter Art und Weise, spricht schnell, ohne Akzent. Woher sie so gut Deutsch könne, fragt der Arzt, das sei doch erstaunlich. Der Mediziner kommt vom Thema Sprache nicht mehr los, auf die Symptome der Patientin geht er vor lauter Erstaunen nicht ein. Und das, obwohl die junge Frau ihm schon vor einer geraumen Weile mitgeteilt hat, dass sie in Kassel aufgewachsen ist, mit Deutsch als Muttersprache. Und dass sie Schmerzen hat.
Eine andere Praxis: Begleitet von ihrer Tochter und mit einem Kopftuch bekleidet, betritt eine ältere Patientin den Behandlungsraum. Ihre Mutter spreche kein Deutsch, berichtet die Angehörige, deshalb sei sie zum Übersetzen mitgekommen. Wie lange die Mutter denn schon in Deutschland lebe, fragt die Ärztin. 20 Jahre? Da werde es doch langsam mal Zeit, die Landessprache zu beherrschen. Es folgt ein längerer Vortrag über die Notwendigkeit, sich umfassend zu integrieren. Zeit für Fragen nach dem Befinden der Patientin bleibt auch in diesem Fall kaum. Die Beispiele mögen plakativ wirken. Sie stellen Ausnahmen dar und nicht die Regel. Aber sie sind aus dem Leben gegriffen.
So gegenteilig die beiden Fälle gelagert sind: Die Sprache ist beide Male ein Thema. Dabei gibt es im ersten Beispiel damit gar kein Problem. Und im zweiten Fall gibt es für das Problem eine Lösung: Seit Jahrzehnten wird wieder und wieder darauf hingewiesen, wie wichtig es für die gesundheitliche Versorgung vieler Menschen mit Migrationsgeschichte ist, dass Arztpraxen und Kliniken ihnen bei Bedarf Dolmetscher:innen an die Seite stellen. Doch oftmals fehlt es an der Finanzierung. „Sprachvermittlung ist weiterhin eines der ganz großen Themen“, bestätigt dementsprechend der Kardiologe Matthias Marschner, derzeit Vorsitzender des 1998 gegründeten Ausschusses für Menschenrechtsfragen der Ärztekammer Berlin.
Rassismus gibt es – Rassen nicht
In dem Papier, das eine Gruppe von Wissenschaftler:innen anlässlich der Jahrestagung der Deutschen Zoologischen Gesellschaft im Jahr 2019 veröffentlichte, stehen Sätze, die an Klarheit nichts zu wünschen übrig lassen. „Das Konzept der Rasse ist das Ergebnis von Rassismus, nicht dessen Voraussetzung“, ist in dieser Jenaer Erklärung zu lesen. Dieses Konzept, das von Anfang an mit Bewertungen verbunden war, habe zumindest beim Menschen keinerlei biologische Begründung. Nur im Fall der Haustierrassen, die das Ergebnis menschlicher Züchtung sind, sei die Homogenität innerhalb einer Rasse größer als die zwischen Rassen.
Unter den 3,2 Milliarden Basenpaaren im menschlichen Genom finde sich kein einziger fixierter Unterschied, der zum Beispiel Afrikaner:innen von Nicht-Afrikaner:innen trennt. Rasse als „Konstrukt des menschlichen Geistes“ diene dazu, „offenen und latenten Rassismus mit angeblichen natürlichen Gegebenheiten zu begründen und damit eine moralische Rechtfertigung zu schaffen.“ Kurz: „Rassismus macht Rassen.“ Das Wort „Rasse“ in diesem Kontext nicht zu gebrauchen, sollte deshalb „heute und künftig zur wissenschaftlichen Redlichkeit gehören“. Die Autor:innen geben sich allerdings nicht der Illusion hin, die bloße Streichung des Wortes werde Intoleranz und Rassismus verhindern. Auch Begriffe wie „ethnisch“ können schließlich mit völkischen Vorstellungen von Homogenität verbunden werden. „Sorgen wir also dafür, dass nie wieder mit scheinbar biologischen Begründungen Menschen diskriminiert werden.“
Dass es nicht das einzige Thema ist, belegt wiederum der aktuelle Bericht Rassismus und seine Symptome mit dem Schwerpunkt „Rassismus in der Gesundheitsversorgung“ des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors (NaDiRa). Ende vergangenen Jahres wurden die Ergebnisse der vom Bundesfamilienministerium geförderten und vom Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung e. V. (DeZIM) herausgegebenen Untersuchung veröffentlicht, für die zwischen Juni und November 2022 rund 21.000 repräsentativ ausgewählte Personen befragt worden waren. Dabei zeigte sich, dass sich besonders Menschen, die in der Gesellschaft aufgrund ihrer Hautfarbe „rassistisch markiert“ werden, vom Gesundheitssystem schlechter behandelt fühlen. Sie nehmen, ebenso wie Menschen mit asiatischem oder arabischem familiären Hintergrund, Behandlungsoptionen seltener wahr. Viele berichten, ihre Beschwerden würden nicht ernst genommen.
Die Autor:innen des Berichtes führen das auf Vorurteile über eine angeblich größere Wehleidigkeit von Menschen „südlicher“ Herkunft zurück, die schon vor Jahren zu despektierlichen Begriffen wie „Mamma-mia-Syndrom“ oder „Morbus Mediterraneus“ führten. Die Diskriminierung nehme hier die Form des „Othering“, der Distanz zur „Krankheit der anderen“ und des Ausgrenzens aus der Mehrheitsgesellschaft an. Mit der Folge, dass die Symptome der Betroffenen nicht für vollgenommen und ihnen notwendige Therapien vorenthalten werden. Die Forschergruppe warnt nicht zuletzt auch vor den Folgen für die Gesellschaft, wenn ganze Gruppen von Bürger:innen das Gesundheitssystem verzögert – oder im Fall von Psychotherapie oftmals überhaupt nicht – in Anspruch nehmen.
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Wenn Namen über Termine entscheiden
Beklemmend ist in diesem Zusammenhang ein experimenteller Teil der Untersuchung, für den Patient:innen unter in Deutschland, in Nigeria und in der Türkei geläufigen Nachnamen in Praxen angemeldet wurden. Diejenigen, die unter „fremdländischen“ Namen Hilfe suchten, bekamen deutlich später einen Termin.
Eine rühmliche Ausnahme bildeten in dieser Untersuchung die pädiatrischen Praxen. Dort hatten die Nachnamen keinen Einfluss auf die Terminvergabe. Zu Beginn dieses Jahres hat sich die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) als eine der Ersten mit einer eindringlichen Pressemitteilung an die Öffentlichkeit gewandt, aus „Entsetzen über rechtspopulistische und rechtsextreme Positionen“, die auch die Flure der Krankenhäuser erreichten. „Mitunter haben unsere Patientinnen und Patienten Familiengeschichten, die die politische Weltlage widerspiegeln. Sie und ihre Familien brauchen unseren besonderen Schutz, auch vor menschenverachtenden und diskriminierenden Parolen und Ablehnung“, hieß es dort.
Die Sorge der Pädiater:innen galt nicht allein den minderjährigen Patient:innen, sondern auch dem Gesundheitssystem und den Menschen, die darin arbeiten: „Die Krisen der letzten Jahre haben auch gelehrt, wie sehr die Funktionsfähigkeit und Resilienz unseres Gesundheitssystems von den Menschen abhängt, die es mittragen – und welch immense Rolle diese Menschen bei der Bewältigung von Herausforderungen, insbesondere in Zeiten globaler Gesundheitskrisen, innehaben."
Auf die Folgen von Rechtsextremismus, der auch vor Plänen für die massenhafte Ausweisung von Menschen mit Einwanderungsgeschichte nicht zurückschreckt, für das Gesundheitswesen und die gesamte Gesellschaft, wies Mitte Januar 2024 die Ärztekammer Berlin in einer Pressemitteilung hin. Fast zehn Prozent der derzeit in Berlin tätigen Mediziner:innen sind „Ausländer:innen“, viele weitere haben eine familiäre Migrationsgeschichte. „Ihre Expertise bereichert uns und macht unsere Arbeit täglich besser“, betonte Kammerpräsident PD Dr. med. Peter Bobbert.
Diskriminierung kann es jedoch erschweren, sich mit dieser Expertise voll einzubringen. „Die sehr ernste Funktion von Rassismus ist Ablenkung. Er hält dich davon ab, deine Arbeit zu tun. Er lässt dich immer und immer wieder erklären, warum du da bist.“ So hat es die Schwarze US-amerikanische Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison auf den Punkt gebracht. Sie sprach von einer Ablenkung, die sich die Gesellschaft nicht leisten kann. Von einer Ablenkung, mit der sich auch Ärzt:innen auseinandersetzen müssen.
Die sehr ernste Funktion von Rassismus ist Ablenkung. Er hält dich davon ab, deine Arbeit zu tun. Er lässt dich immer und immer wieder erklären, warum du da bist.
Die Berliner Ärztin Dr. med. Sara Arewa arbeitet derzeit als Weiterbildungsassistentin in einer Moabiter Allgemeinmedizinischen Praxis. Als Person of Color sei sie ebenfalls von Diskriminierung betroffen, berichtet Arewa: Patient:innen fragen die gebürtige Lübeckerin nach ihrer „tatsächlichen“ Herkunft; Vorgesetzte lobten ihr „exzellentes Deutsch“. Der Ärztin ist jedoch bewusst, dass ihr sozioökonomischer Status ihr das Leben erleichtert. Diesen Vorteil haben viele Menschen nicht – im Gegenteil: „Die Diskriminierungsmerkmale, die sie in sich tragen, verstärken sich gegenseitig. Entsprechend geht es den Menschen umso schlechter, je mehr Faktoren zusammenkommen“, so Arewa. Genau dieses Phänomen beschreibt der soziologische Begriff der „Intersektionalität“.
Wenn Patient:innen aufgrund mehrerer Merkmale Diskriminierung erfahren, ist das auch deshalb hart, weil sie sich als Kranke und Hilfesuchende ohnehin in der schwächeren Position befinden. Ihre Beziehung zu Ärzt:innen und Pflegekräften ist selten vollkommen symmetrisch. Sie ist aber typischerweise von einer Nähe geprägt, die besonders verletzlich macht. „Es gibt nicht viel Intimeres als die Arzt-Patienten-Beziehung“, so der Internist und Menschenrechts-, Rassismus- und Diskriminierungsbeauftragte der Ärztekammer Hessen, Dr. med. Ernst Girth.
Schutzlos im geschützten Raum
Gegen Rechtsextremismus und für unsere Demokratie sind in den vergangenen Wochen in Deutschland Millionen Menschen auf die Straße gegangen, darunter zahlreiche Angehörige der Gesundheitsberufe. Stehen sie nicht in besonderem Maß für Menschlichkeit, für Hilfsbereitschaft ohne Ansehen der Herkunft und anderer Merkmale einer Person, die ihren Beistand sucht? Wie aber kann es dann zu Befunden, wie denen aus dem NaDiRa-Bericht kommen? In ihrem Artikel Rassismus im Gesundheitssystem: Schutzlos im geschützten Raum, der am 6. März 2021 in der „taz“ erschienen ist, brachte die Journalistin Gilda Sahebi die ungläubigen Reaktionen von Ärzt:innen und Pflegenden auf den Vorwurf, diskriminierende Verhaltensweisen zu zeigen, gut auf den Punkt: „Der Ausdruck ‚struktureller Rassismus‘ führt bei vielen schnell zu Abwehrreaktionen. Denn jene vielen Ärzt*innen, Pflegenden, Hebammen und andere, die im medizinischen Bereich arbeiten, die Menschen nach bestem Wissen und Gewissen behandeln, fühlen sich dadurch an den Pranger gestellt.“
In der NDR-Doku Rassismus in der Medizin vom 7. November 2023 sagt eine Hebamme: „Das Wort ‚Rassismus‘ macht es so schwer.“ Wer kann und will die geballte Ladung Kritik, die ein solches Wort enthält, auf sich beziehen? „Es gehört ja zu unserem Selbstbild, dass wir alle gleichbehandeln, dass wir tolerante, offene Personen sind“, bekräftigt auch die angehende Internistin Dr. med. Helene Michler, die derzeit in der internistischen Notaufnahme der Charité – Universitätsmedizin Berlin auf dem Campus Virchow-Klinikum arbeitet. Umso schmerzlicher sei die Erkenntnis, dass man als Ärztin durch eine Gesellschaft geprägt ist, in der eine kritische Auseinandersetzung mit Rassismus und anderen Diskriminierungsformen gerade erst beginne. Genau deshalb findet es taz-Autorin Sahebi wichtig, den Blick zu weiten. Man dürfe nicht vergessen, „dass ein System rassistisch sein kann, ohne dass eine einzige Person in diesem System rassistische Einstellungen hat.“
„Not only minding the gap but bridging it too“
Ist es zudem nicht eher Unsicherheit angesichts des nicht Gelernten, nie Gesehenen, wenn ein Hautarzt einem Patienten sagt, mit dunklerer Haut könne er „nichts anfangen“, wenn eine Hausärztin es schwierig findet, bei einer Schwarzen Patientin eine gute Vene zum Blutabnehmen zu finden oder wenn um den Biss einer Zecke herum die Rötung, die einen Hinweis auf eine beginnende Borreliose sein könnte, für sie kaum sichtbar ist? Fehlen in solchen Fällen oft nicht einfach das geeignete Instrumentarium und das notwendige Wissen? Etwa darüber, dass die Sauerstoffsättigung des Blutes bei Patient:innen mit dunkler Hautpigmentierung mit gängigen Pulsoxymetern weniger zuverlässig gemessen wird?
„Not only minding the gap but bridging it too“ – die Lücke nicht nur bemerken, sondern auch eine Brücke darüber bauen, so heißt die Devise des aus Großbritannien stammenden Portals Black and Brown Skin, das mit Fotos die Diagnostik häufiger dermatologischer Erkrankungen bei Menschen mit dunkler Hautfarbe erleichtern will.
Selbstverständlich müssen Ärzt:innen auf dem Schirm haben, dass bestimmte Krankheiten für andere Weltgegenden typisch sind oder dort gehäuft auftreten, etwa das familiäre Mittelmeerfieber (FMF). Weit häufiger als angeborene, auf die ethnische Herkunft zurückzuführende Unterschiede sei aber Ungleichbehandlung die Ursache für ungleiche Outcomes, betont der New Yorker Public Health-Forscher Dave A. Chokshi in einem Beitrag, der 2022 im JAMA Health Forum der American Medical Association erschienen ist (How to Act Upon Racism—not Race—as a Risk Factor). Chokshis Beispiele dafür – von der höheren COVID-19-Sterblichkeit Schwarzer bis hin zu Unterschieden im Outcome der Geburtsmedizin – sind sicher nicht ohne Weiteres von den USA auf Deutschland zu übertragen. Lehrreich sind sie dennoch. „Die Antwort liegt darin, Rassismus – und nicht die sogenannte ‚Rasse‘ – als Risikofaktor zu begreifen“, erklärt der Gesundheitsforscher.
Ausgangspunkt von Diskriminierung sind Kategorisierungen von Menschen, mit denen besondere Stereotypen verbunden werden.
Benachteiligung ohne sachliche Rechtfertigung
Das lateinische Verb „discriminare“ meint eigentlich nicht mehr als das schlichte „Unterscheiden“. Im „Diskriminieren“ hat es jedoch eine Bedeutungsverschiebung erfahren: „Ausgangspunkt von Diskriminierung sind Kategorisierungen von Menschen, mit denen besondere Stereotypen verbunden werden“, heißt es in einer informativen Bestandsaufnahme, die im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes erstellt und im Januar 2022 unter dem sperrigen Titel „Diskriminierungsrisiken und Diskriminierungsschutz im Gesundheitswesen – Wissensstand und Forschungsbedarf für die Antidiskriminierungsforschung“ veröffentlicht wurde.
Wichtig ist, wie die Definition des Begriffes hier fortgesetzt wird: „Unter Diskriminierung verstehen wir in dieser Studie die Benachteiligung von Menschen ohne sachliche Rechtfertigung anhand ihrer (vermeintlichen) Zugehörigkeit zu einer sozial konstruierten Kategorie von Personen.“ Diskriminierung ist also mehr als einfaches Sortieren oder Unterscheiden, es führt zur Bildung von Klischees, Stereotypen und Vorurteilen und resultiert in Benachteiligung. Also in einem Umgang mit anderen Menschen, den sich Ärzt:innen durch das Ablegen des Genfer Gelöbnisses selbst verbieten: „Ich werde nicht zulassen, dass Erwägungen von Alter, Krankheit oder Behinderung, Glaube, ethnischer Herkunft, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, politischer Zugehörigkeit, Rasse, sexueller Orientierung, sozialer Stellung oder jeglicher anderer Faktoren zwischen meine Pflichten und meine Patientin oder meinen Patienten treten.“
Die meisten der hier genannten Merkmale tauchen auch im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) auf, das in Deutschland ganz allgemein Bürger:innen vor Benachteiligung schützen soll. Dass ausgerechnet im Gesundheitswesen Faktoren wie Alter, Krankheit oder Behinderungen zu Diskriminierungen führen könnten, erstaunt zunächst. In der Fachliteratur zum Thema werden neben negativen Bildern von Alter – „Elderspeak“, „Ageism“ – oder Behinderung – „Ableism“, Bevorzugung der vermeintlich „Leistungsfähigeren“ – wiederum vor allem strukturelle Gründe für Ungleichbehandlung genannt.
An erster Stelle steht hier der Druck, innerhalb kurzer Zeit viele Patient:innen versorgen zu müssen. Erst in einer Situation, in der begrenzte Ressourcen an Zeit und Zuwendung zu verteilen seien, womöglich sogar Engpässe in der Versorgung entstünden, „wirken sich Altersbilder und altersbezogene Vorurteile auf das Verhalten aus“, schreiben Dr. Peggy Voss und Prof. Dr. Klaus Rothermund von der Universität Jena in einem Beitrag zur Altersdiskriminierung in Institutionen.
Dass eine von der biologisch vorgegebenen „Normalität“ abweichende geschlechtliche Identität oder eine von der heterosexuellen „Normalität“ abweichende sexuelle Orientierung zu Diskriminierungen führt (Ratgeber für Ärzt:innen der Schwulenberatung Berlin), ist allein mit Zeitdruck und Stress des medizinischen Personals nicht zu erklären. Und wie kann es sein, dass die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft im Behandlungsraum einer Arztpraxis oder eines Krankenhauses überhaupt eine Rolle spielt? Das läuft offensichtlich immer wieder über das äußere Merkmal Kleidung, und es trifft auch Mediziner:innen und Pflegekräfte: Die Influencerin Dr . med. Hatun Karakaş berichtet im Netz, dass sie von den Patient:innen oft für eine Reinigungskraft gehalten wird. Dass eine Ärztin Kopftuch trägt, erwarten sie nicht.
Abfärbeeffekt
Eine Form der Diskriminierung richtet sich beispielsweise gegen psychiatrische Patient:innen. Trotz intensiver Bemühungen und Anti-Stigma-Kampagnen gibt es in dem Bereich nur geringe Veränderungen. Dabei sei es, so Dr. med. Roland Urban, Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie in Berlin-Moabit, besonders bedauerlich, dass die Diskriminierung – sicher unbewusst – auch von Ärzt:innen ausgehe und durch einen „Abfärbeeffekt“ mitunter dazu führe, dass es auch zu Vorurteilen gegenüber Psychiater:innen kommt.
Thema auf dem Ärztetag
Auf dem 125. Deutscher Ärztetag 2021 in Berlin stand das Thema auf der Agenda, und zwar in Form des dort angenommenen Antrages „Diskriminierungen im Gesundheitserkennen und verhindern“, für den unter anderem mehrere Berliner Delegierte verantwortlich zeichneten. In Anerkennung der Tatsache, dass derzeit „Diskriminierungen aufgrund rassistischer Zuschreibungen, der geschlechtlichen oder sexuellen Identität, Alter, Behinderung, Religion oder des sozioökonomischen Status den Zugang zum Gesundheitssystem und die Inanspruchnahme von medizinischer Versorgung erschweren“, wurde 2021 in Berlin beschlossen, Strukturen zu entwickeln, um Diskriminierung im Gesundheitswesen zu verhindern. Die Abgeordneten sprachen sich für eine Stärkung der Antidiskriminierungsarbeit im Gesundheitswesen auf institutioneller und individueller Ebene aus. Die Bundesärztekammer möge zudem darauf hinwirken, dass bei den Landesärztekammern Antidiskriminierungsstellen entstehen. In der anschließenden Beratung der Ständigen Konferenz „Vertreter der Geschäftsführungen der Landesärztekammern“ (SKO GF) kam man überein, dass keine eigenen Anlaufstellen bei den Ärztekammern eingerichtet werden sollen. Dafür sollen Ärzt:innen im Rahmen von Fortbildungen für Diskriminierung im Gesundheitswesen sensibilisiert werden. In Berlin wurde im Jahr darauf etwa die maßgeblich von Dr. med. Johanna Winkler, ebenfalls Mitglied im Ausschuss für Menschenrechtsfragen der Ärztekammer Berlin, vorbereitete und vom Vorstandsmitglied Dr. med. Yüksel König geleitete Veranstaltung „Kulturelle Unterschiede in Behandlung und Diagnostik“ angeboten. In Hessen wurde zur gleichen Zeit der dort schon länger tätige Menschenrechtsbeauftragte zusätzlich mit den Titeln Rassismus- und Diskriminierungsbeauftragter versehen (zum Interview).
Eine Allianz für Gleichbehandlung
„Diskriminierung und Rassismus im Gesundheitswesen gehen zu Lasten der Patientinnen und Patienten, aber auch zu Lasten der Selbstwahrnehmung von Medizinerinnen und Medizinern, die ihrer Aufgabe nicht gerecht werden können“, urteilt Dr. Theda Borde, die viele Jahre als Professorin für Sozialmedizin und medizinsoziologische Grundfragen der Sozialen Arbeit an der Alice Salomon-Hochschule (ASH Berlin) tätig war. Nach Jahrzehnten intensiver Forschungstätigkeit, in der sie viele Missstände im Bereich der Gesundheitsversorgung von Migrant:innen identifiziert hat, will sie nun praktisch zu Verbesserungen beitragen. Das von ihr mit angestoßene Projekt „Interprofessionelles und interkulturelles Arbeiten in der Klinik“ (IPIKA) ist inzwischen fest im Ausbildungs-Curriculum der Gesundheitsakademie der Charité – Universitätsmedizin Berlin verankert.
Zudem leitet Borde seit März 2023 zusammen mit Prof. Dr. med. Jalid Sehouli, Direktor der Klinik für Gynäkologie der Charité –Universitätsmedizin Berlin, das Projekt „Empowerment für Diversität – Allianz für Chancengleichheit in der Gesundheitsversorgung“. Das Projekt wird von der Stiftung Mercator gefördert und will einerseits in partizipativen Prozessen Strukturen in Kliniken identifizieren und verändern, die der gleichermaßen guten Versorgung für alle in einer von Migration und Diversität geprägten Gesellschaft entgegenstehen. Mit der von Sehouli geleiteten Klinik sind daran insgesamt sieben Kliniken in Großstädten, aber auch in kleineren Orten beteiligt. Für das zweite Ziel, die Qualifizierung von Studierenden und Mitarbeitenden der Gesundheitsberufe, wurden zehn Bildungs- und Weiterbildungseinrichtungen als „Empowerment“-Partner ausgewählt. Diversitätsorientierte und rassismuskritische Lehrmodule, die während der Laufzeit des Projektes entwickelt werden, sollen über eine Online-Plattform überregional zugänglich gemacht und mittelfristig in den Curricula der Studiengänge, Fachschulen und in der Weiterbildung verankert werden. „Wir setzen auf Nachhaltigkeit und auf Kooperation mit anderen, die in dem Bereich tätig sind“, betont Borde.
So redet im Praxisbeirat beispielsweise der Berliner Lesben- und Schwulenverband mit; eine Vertreterin bringt zudem das Thema Diskriminierung aufgrund von Körpergewicht ein. Auch die Diskriminierung von Gesundheitspersonal will man im Blick haben. Die politische und berufspolitische Ebene ist im Projektbeirat vertreten, unter anderem durch den Präsidenten der Ärztekammer Berlin.
Diskriminierung und Rassismus im Gesundheitswesen gehen zu Lasten der Patientinnen und Patienten, aber auch zu Lasten der Selbstwahrnehmung von Medizinerinnen und Medizinern, die ihrer Aufgabe nicht gerecht werden können.
Fragt man die Sozialwissenschaftlerin nach den Veränderungen, die es aus ihrer Sicht in den vergangenen 30 Jahren gab, dann zeichnet sie ein vielschichtiges Bild: „In den Gesundheitsberufen spiegelt sich inzwischen die Diversität der Gesellschaft wider. In der Ausbildung im Studium ist es aber immer noch vom Engagement Einzelner abhängig, wie darauf reagiert wird; bei den Curricula gibt es großen Handlungsbedarf. Zwar gibt es inzwischen einerseits mehr Bewusstsein für diskriminierende Praktiken, andererseits droht derzeit schon das Thema diskriminierungsfreie Sprache die Gesellschaft zu polarisieren.“ Man wolle mit der Allianz verschiedene Teile der Bevölkerung erreichen, betont Borde. Dabei wolle man aber auf keinen Fall „mit dem Holzhammer vorgehen“.
Die Zielsetzung ist so klar wie einfach: ein Gesundheitssystem, in dem weder Hilfesuchende noch Helfende diskriminiert werden und in dem allen ein gerechter und gleicher Zugang zu medizinischer Versorgung gewährt wird. Ein Menschenrecht.