Frau Thiemann, Sie haben Ihre Schulzeit bereits nach der 11. Klasse beendet. Wie kam es zu dieser Entscheidung?
Das lag an einem Kreuzbandriss und der anschließenden Operation. Dadurch hatte ich in der 11. Klasse so viel versäumt, dass ich mich am Schuljahresende gegen das Abitur entschied. Das ist jetzt 24 Jahre her; damals gab es nur wenige Ausbildungsplätze für Krankenschwestern. Glücklicherweise konnte ich über eine Bekannte einen dieser raren Plätze bekommen. Diese Chance wollte ich mir nicht entgehen lassen.
Wo absolvierten Sie damals die Ausbildung zur Krankenschwester?
In einem kirchlichen Krankenhaus in Berlin. Dort herrschte damals eine strenge Hierarchie mit enormem Druck. Mehrere von uns haben die Ausbildung deshalb abgebrochen. Besonders belastend waren die Machtspielchen zwischen den examinierten Krankenschwestern und uns Auszubildenden. Hatte sich beispielsweise ein Patient eingekotet, war klar, dass die Auszubildende die Reinigung übernehmen musste. Klingelte während der Pause die Patientenglocke, mussten wir aufspringen. Wir saßen sogar an einem separaten Tisch, um jederzeit verfügbar zu sein – von echter Pausenzeit konnte keine Rede sein.
Paradoxerweise waren die theoretischen Inhalte der Ausbildung sehr modern, denn sie war gerade umstrukturiert worden und sogar fortschrittlicher als das damalige Medizinstudium. Wir lernten bereits in Modulen, was später auch für den Modellstudiengang Medizin eingeführt wurde.
Da es sich um ein konfessionelles Krankenhaus handelte, gehörten auch christliche Elemente zur Ausbildung. So mussten wir beispielsweise das Vaterunser auswendig lernen – das war für mich als Agnostikerin nicht ganz einfach. Dafür schätzte ich die jährlichen Themenfahrten, die sogenannten Rüstzeiten. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir die Fahrt zum Thema „Tod und Leben“. Emotional sehr fordernd, aber eine gute Vorbereitung auf die Begegnung mit dem Sterben.
Warum haben Sie anschließend nicht dort als Krankenschwester angefangen?
Vor knapp zwanzig Jahren herrschten völlig andere Verhältnisse als heute – ich wurde schlicht nicht übernommen. Von über 20 Auszubildenden schaffte es nur eine einzige in die Festanstellung.
Nach meinem Abschluss ging ich zu einem Hauskrankenpflegedienst in München, da meine Schwester in Bayern lebte und ich anfangs kostenfrei bei ihr wohnen konnte. Allerdings waren die Arbeitsbedingungen suboptimal: zehn Tage am Stück arbeiten, dann ein freier Tag – der oft auch noch gestrichen wurde. Täglich fuhr ich durch den Berufsverkehr nach München, bis ich 2005 einen schweren Autounfall hatte. Da wurde mir klar: So geht es nicht weiter. Ich wollte nicht mehr so weit zur Arbeit fahren müssen.
Danach wechselte ich zu einem anderen ambulanten Pflegedienst bei Freising. Dort waren die Bezahlung und die Arbeitsbedingungen viel besser: Zwar musste ich auch zehn Tage am Stück arbeiten, dann hatte ich aber fünf Tage frei. In diesen zehn Arbeitstagen deckte ich zwei Schichten ab, die erste von 6 bis 13 Uhr und die zweite von 16 bis 23 Uhr. In der Pause saß ich bei Kaufland an der Kasse, um mir mein Auto finanzieren zu können.
Nach dem Autounfall haben Sie die Arbeitsstelle gewechselt. Hat der Unfall etwas an Ihrer Lebenseinstellung verändert?
Definitiv. Mir wurde noch deutlicher bewusst, wie schnell das Leben zu Ende sein kann. Deshalb wollte ich das Beste daraus machen. Umsetzen konnte ich das aber nur, weil meine Chefin mich sehr unterstützt hat. Im Jahr 2006 fragte sie mich, ob ich nicht die Weiterbildung zur Wundmanagerin machen möchte – sie würde die Hälfte der Kosten übernehmen. Da habe ich nicht lange gezögert! Als ich diese nach einem Jahr abgeschlossen hatte, bot sie mir bereits die nächste Weiterbildung zur Praxisanleiterin an. Danach dachte ich: „Jetzt kann ich auch irgendwann ein eigenes Pflegeunternehmen leiten – jetzt bin ich gut gerüstet.“
Mit dieser Perspektive fühlte ich mich sehr wohl. Die Bayern akzeptierten mich schließlich auch und glaubten mir, dass auch eine Preußin aus der ehemaligen DDR nett sein und sie gut versorgen kann. Das ging sogar so weit, dass mich ein Bauer in einem schneereichen Winter mit seinem Traktor zu den Patient:innen fuhr. Anders kam man gar nicht voran. Vermutlich würde ich immer noch in der bayerischen Hauskrankenpflege arbeiten, wenn meine Schwester nicht schwer erkrankt wäre. Zunächst versorgte ich sie in meiner Mittagspause, statt bei Kaufland zu arbeiten. Doch als sich ihr Zustand nicht verbesserte, holte mein Vater sie und meinen Neffen nach Berlin zurück, um sich um sie kümmern zu können. Ich vermisste beide so sehr, dass auch ich wieder in den Norden zurückkehrte.
Wie haben Sie den Unterschied zwischen Bayern und Berlin in der Pflege erlebt?
In Berlin als Schwester zu arbeiten, fühlte sich an, als wäre ich in die Steinzeit zurückversetzt worden: Hier durfte man die Materialien für die Wundversorgung nicht selbst auswählen, die Ärzt:innen wandten teilweise völlig veraltete Methoden an und ließen sich von den Schwestern nichts sagen.
Auch in diesem Moment dachte ich: So geht es nicht mehr weiter. Es muss sich etwas in meinem Leben ändern.
Wie kam es zu der Entscheidung, das Abitur nachzuholen und Medizin zu studieren?
Mein Schlüsselerlebnis war, dass ein Arzt von mir verlangte, auf eine offene Wunde Eiswürfel zu legen und diese trockenzuföhnen. Das ist aber ein Pflegefehler – heute wie damals. Als examinierte Pflegekraft bin ich dafür haftbar, schließlich trage ich die Durchführungsverantwortung. Deshalb weigerte ich mich.
Wie hat der Arzt reagiert?
Der war fuchsteufelswild, schrie herum und fragte, was ich mir als Krankenschwester erlauben würde. Er sei schließlich der Arzt. Der Pflegedienst war auch nicht besser: Da man weiterhin mit dem Arzt zusammenarbeiten wollte, unterstützte mich die Chefin überhaupt nicht, obwohl seine Anweisung tatsächlich ein Pflegefehler war. Ich wurde regelrecht gemobbt und bekam beispielsweise nur noch Patient:innen zugeteilt, zu denen man sehr weit fahren musste. Dabei wurde nur die Zeit bei den Patient:innen bezahlt, nicht die Fahrtzeit. Dann hatte ich wieder einen Autounfall, bei dem ich mir zwei Wirbel anbrach. Die Pflegedienstleiterin wollte, dass ich bereits anderthalb Wochen nach dem Unfall wieder arbeite. Auch in diesem Moment dachte ich: So geht es nicht mehr weiter. Es muss sich etwas in meinem Leben ändern.
Kurz darauf saß ich mit einer guten Freundin zusammen, das war im Jahr 2008. Wir überlegten, was wir ändern könnten und beschlossen, gemeinsam das Abitur nachzuholen. Das zogen wir am Berlin-Kolleg auch wirklich durch – und es war eine großartige Erfahrung! Während mir in der Schule von den Lehrer:innen vermittelt worden war, dass ich nicht gut genug sei und das Abitur nicht schaffen würde, behandelten uns die Lehrer:innen am Berlin-Kolleg ganz anders. Sie sprachen auf Augenhöhe mit uns und gaben uns immer das Gefühl, dass wir es schaffen würden. Wir lernten wirklich gemeinsam, statt alleine vor den Büchern zu hocken. Nach drei Jahren legte ich mein Abitur ab und wollte eigentlich auf Lehramt studieren – ich dachte, für Medizin würde es nicht reichen. Aber der Notenschnitt war so gut, dass ich doch Medizin an der Charité studieren konnte.
Welche Fachrichtung wollten Sie ursprünglich einschlagen?
Eigentlich wollte ich Unfallchirurgin werden. Ich arbeite sehr gerne handwerklich und durch meine Berufserfahrung als Krankenschwester und Wundmanagerin konnte ich gut mit Wunden umgehen. Die Allgemeinmedizin fand ich auch interessant, aber die Unfallchirurgie schien mir die größere Herausforderung zu sein.
Im Jahr 2020 kam mir jedoch ein Bandscheibenvorfall dazwischen. Während der Reha entwarf ich einen Plan B: „Wenn ich jetzt schon Probleme mit der Bandscheibe habe, werde ich nicht lange am OP-Tisch stehen können.“ Also musste ich mir etwas anderes ausdenken.
So kamen Sie also zur Allgemeinmedizin?
Zunächst wurde ich von einer kardiologischen Oberärztin aus der Reha-Einrichtung angesprochen. Sie bot mir an, ein Jahr bei ihr die Weiterbildung zu machen – mit dem Ziel, Internistin oder Allgemeinmedizinerin zu werden. Anschließend absolvierte ich noch ein halbes Jahr in der Neurologie, weil ich dachte, dass mir das vielleicht auch Spaß macht. Außerdem war der neurologische Chefarzt fantastisch. Im Jahr 2023 legte ich schließlich meine Facharztprüfung für Allgemeinmedizin ab.
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Dabei blieb es aber nicht. Sie sind im Vorstand des Hausärzteverbandes Berlin und Brandenburg sowie in mehreren Ausschüssen der Ärztekammer Berlin aktiv. Was genau machen Sie dort?
Das hat sich Schritt für Schritt entwickelt: Im Jahr 2022 bin ich in den Hausärzteverband Berlin und Brandenburg (BDA) eingetreten. Einen Monat später wurde ich zunächst als Delegierte und dann direkt als Beisitzerin in den Vorstand gewählt. 2024 kam es zu vorgezogenen Neuwahlen des Vorstandes, bei denen ich zur stellvertretenden Schatzmeisterin gewählt wurde.
Im Hausärztinnen- und Hausärzteverband bin ich stellvertretende Sprecherin für den „Ausschuss Angestellte“ und Berliner Vertreterin im „Forum Hausärztinnen“. Dieses wurde bewusst gegründet, weil Frauen in den oberen Etagen der Hausarztmedizin unterrepräsentiert sind. Das ändert sich aber langsam. Im Berliner Vorstand des Hausärzteverbandes gibt es beispielsweise nur einen Mann, ansonsten sind wir alles Frauen. Außerdem bin ich in mehreren Ausschüssen der Ärztekammer Berlin aktiv.
Worum geht es im „Ausschuss Angestellte“?
Wir versuchen, Antworten auf zentrale Fragen zu finden. Was zeichnet eine gute Anstellung aus? Welche Aufgaben hat eine angestellte Ärztin bzw. ein angestellter Arzt? Wie viele Urlaubstage sind angemessen? Und was muss eine Ärztin oder ein Arzt leisten, um am Ende eine bestimmte Summe zu erzielen? Der Ausschuss stellt sogar einen Rechner zur Verfügung, mit dem sich dies kalkulieren lässt: Wie viele Patient:innen muss ich versorgen, damit am Ende die Summe X herauskommt?
Ihnen scheint nie die Energie auszugehen. Woher nehmen Sie die Motivation, neben Ihrer Arbeit als Ärztin in so vielen Ausschüssen aktiv zu sein?
Ich glaube, ich bin einfach froh, dass ich das machen kann, was ich möchte und was mir Spaß macht. Das finde ich keineswegs selbstverständlich! Ich stamme aus der ehemaligen DDR, wo der Bildungsweg und die berufliche Position nicht nur von der eigenen Leistung, sondern auch von der Herkunftsfamilie, der politischen Einstellung oder dem Glauben abhingen.
Mein Großvater war in der Kirche aktiv und durfte deshalb das Chemielabor, in dem er arbeitete, nicht leiten, obwohl er die entsprechende Qualifikation hatte. Meine Mutter wollte Abitur machen, durfte dies aber nur über das Fachabitur zur Chemielaborantin, da ihre Eltern kirchlich engagiert waren. Diesen Weg schlug sie dann auch ein, aber sie hatte große Angst, sich im Labor zu verletzen – die Zeit dort war furchtbar für sie! Mein Vater durfte nicht Chemie studieren, weil sein Bruder bereits Chemie studiert hatte. Vor diesem Hintergrund fühle ich mich privilegiert, einfach das machen zu können, was ich will.
Ärztliche Berufspolitik mitgestalten
Als Mitglied der Ärztekammer Berlin können Sie sich ehrenamtlich in verschiedenen Bereichen engagieren. Die Listensprecher:innen der Delegiertenversammlung informieren Sie gerne über konkrete Einstiegsmöglichkeiten und Aufgabenbereiche. Bringen Sie Ihre Perspektive ein – die Ärzteschaft braucht vielfältige Stimmen!
Hier erhalten Sie Kontakt zu den berufspolitischen Listen der Ärztekammer Berlin.