„ErwiN“ oder die „Kiezschwester“
Impulse für mehr sektorenübergreifende Versorgung gehen seit Jahren von sogenannten Arztnetzen aus. Diese gibt es in ganz Deutschland, sieben davon in Berlin. Fünf der Berliner Arztnetze werden von der AGBAN – der Arbeitsgemeinschaft Berliner Arztnetze – betreut. Einer ihrer Gründer und Leiter, Albrecht Römpp, will handeln und nicht auf die Umsetzung politischer Vorhaben warten. Deshalb setzt er mit seinem Team Projekte um, die Impulse für eine sektorenübergreifende Versorgung geben sollen.
Dazu gehören zum Beispiel die innovativen Projekte „ErwiN“ und „Kiezschwester“: „ErwiN“ steht für „Erweiterte Übertragung von arztentlastenden Tätigkeiten in ArztNetzen“, läuft bis Dezember 2026 und wird vom Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) gefördert. Das Projekt „Kiezschwester“ orientiert sich am Prinzip der Gemeindeschwester Agnes in der ehemaligen DDR an und wird von der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin (KV Berlin) finanziell unterstützt.
Modellprojekte in Arztnetzen
Ziel beider Projekte ist es, die ambulante Versorgung multimorbider Patient:innen sicherzustellen, für die Ärzt:innen in der Regel immer weniger Zeit haben. Während die Kiezschwestern dabei nur organisatorische und koordinierende Aufgaben übernehmen dürfen, sind die „ErwiN“-Fachkräfte – sogenannte Spezialisierte Pflegefachpersonen (SPFP) – ausdrücklich befähigt, auch ärztliche Aufgaben zu übernehmen.
Das Projekt ErwiN startete am 1. Juli 2023 unter Federführung des MEDIS Ärztenetzes in Elsterwerda in seine dreieinhalbjährige Erprobungsphase. Gemeinsam mit dem Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen e. V. (DZNE) und der Universität Greifswald wurden insgesamt neun SPFP ausgebildet. Diese übernehmen nach ihrer sechsmonatigen Zusatzausbildung in vier Regionen – zwei in Brandenburg, eine in Berlin und eine in Mecklenburg-Vorpommern – ärztliche Tätigkeiten im häuslichen Umfeld. Die SPFP handelt dabei immer im Auftrag der Ärztin oder des Arztes, kann aber eigenverantwortlich tätig werden. Eine Besonderheit dieses Projektes ist die teilweise Übertragung der Heilkunde auf die SPFP, für die die Ärzt:innen aber nicht haftbar sind. Das Projekt wird von den gesetzlichen Krankenkassen AOK Nordost und BARMER unterstützt und vom Berliner Institut AGENON (Gesellschaft für Forschung und Entwicklung im Gesundheitswesen mbH) umfassend evaluiert.
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Im Projekt „Kiezschwester“ werden Medizinische Fachangestellte (MFA) sowie Gesundheits- und Krankenpfleger:innen der Arztnetze zu mobilen Case Manager:innen und betreuen in dieser Funktion seit 2021 chronisch kranke Patient:innen mit hohem Betreuungsbedarf, die ihnen von den Hausärzt:innen des Netzes zugewiesen werden. Dabei suchen sechs Kiezschwestern aus sechs Praxisnetzen die Betroffenen aktiv auf, kontrollieren ihre Vitalwerte und überwachen, wie sie zu Hause mit ihrer Krankheit zurechtkommen. Die Kiezschwestern setzen damit ein Monitoring-Programm um, damit die Patient:innen seltener und kürzer in die ärztliche Sprechstunde kommen und seltener wegen einer Dekompensation ins Krankenhaus eingeliefert werden müssen. Derzeit nehmen circa 120 Hausärzt:innen an dem Projekt teil und haben schon über 1.500 Patient:innen an die Kiezschwestern vermittelt. Voraussetzung für die Anbindung einer Kiezschwester an eine Praxis ist die aktive Mitgliedschaft in einem Arztnetz.
Hausarztpraxen als Lotsen – die Pilotierung des HÄPPI-Konzepts in Baden-Württemberg
Um eine stärkere, aber etwas andere Vernetzung geht es auch bei einem Projekt in Baden-Württemberg: Hier sollen vor allem ärztliche und nichtärztliche Berufe intensiver zusammenarbeiten und traditionelle Praxisstrukturen weiterentwickeln. Dazu hat der Hausärztinnen- und Hausärzteverband das Konzept „Hausärztliches Primärversorgungszentrum – Patientenversorgung Interprofessionell“ (HÄPPI) entwickelt, dessen Pilotphase Ende Dezember 2024 abgeschlossen wurde.
Wie „Berliner Ärzt:innen“ bereits im Dezember 2024 berichtete, soll sich mit HÄPPI nicht nur die Arbeitsweise und Rolle der Hausarztpraxen verändern, sondern auch die Rolle der Patient:innen. Auf dem 23. Baden-Württembergischen Hausärztinnen- und Hausärztetag Mitte März 2025 wurden die Ergebnisse der Pilotphase präsentiert.
Weiterführende Informationen
Neue Strukturen und Prozesse zur besseren Versorgung
Das wichtigste Ergebnis der Pilotphase: Mit HÄPPI können sich Hausarztpraxen in einer Weise verändern, wie es die Primärversorgung in Deutschland braucht. Denn durch die neuen Strukturen und Prozesse, die im Rahmen des HÄPPI-Konzepts umgesetzt werden, können mehr Patient:innen besser versorgt werden. Dazu gehören der Umbau des Teams mit einer klareren und veränderten Aufgabenverteilung sowie die stärkere Einbindung von digitaler Technik und der Perspektive der einzelnen Patient:innen.
Zunächst führte jede HÄPPI-Praxis regelmäßige und strukturierte Teambesprechungen ein. Diese sorgten für eine bessere Zusammenarbeit des Teams – zum einen lag das vermutlich an der besseren Kommunikation, zum anderen an einer gestiegenen Wertschätzung der einzelnen Teammitglieder untereinander. Die Mitarbeitenden der teilnehmenden Praxen berichteten auch, dass sie ihrer Arbeit motivierter nachgingen, da die Aufgaben durch die neue Rollenverteilung klarer abgegrenzt waren. Beispielsweise wurde bei Infekten die Anamnese zunächst von Arztassistent:innen aufgenommen und erst dann die Ärztin oder der Arzt dazu geholt. Das sparte Arzt-Zeit, in der diese sich um komplexere Fälle kümmern konnten. Dadurch fühlten sich neun von zehn teilnehmenden Praxen entlastet.
Digitalisierung: der Schlüssel zu mehr Zeit
Durch die Digitalisierung im Rahmen des HÄPPI-Projekts – etwa Telefonassistenten und neue Softwaretools, die den Zeitdruck in den meisten Praxen reduzieren konnten – haben alle teilnehmenden Praxen Ressourcen gewonnen. Als Herausforderung wurde jedoch die Zusammenarbeit mit anderen Akteuren des Gesundheitssystems beschrieben, die in der Digitalisierung noch nicht so weit fortgeschritten sind. So konnten etwa in einem Altenheim keine Videosprechstunden angeboten werden, da die Computer dort die technischen Voraussetzungen nicht erfüllten. Auch die Auswahl von passenden Systemen mit geeigneten Schnittstellen und die Installation dieser Systeme war anspruchsvoll. Damit die neue Technik tatsächlich gewinnbringend eingesetzt werden konnte, mussten ausreichend finanzielle Mittel und Personalstunden zur Verfügung stehen.
Um die Perspektive der Patient:innen stärker zu berücksichtigen, wurden spezielle Fragebögen eingesetzt, die in der Pilotphase sehr gut angenommen wurden. Dabei ging es in den Praxen vor allem darum, wie die Erfassung der Erfahrungen der Patient:innen in die eigene Arbeit integriert werden konnte. Es musste sichergestellt werden, dass das Personal auch nach zwei Wochen noch daran dachte, die Patient:innen auf die Fragebögen aufmerksam zu machen. Auch hier war die Bilanz positiv: Eine regelmäßige Befragung der Patient:innen kann in den Praxisablauf integriert werden.
Transformationsprozess kann und muss angestoßen werden
Die Co-Vorsitzenden des Hausärztinnen- und Hausärzteverbands Baden-Württemberg, Prof. Dr. med. Nicola Buhlinger-Göpfarth und Dr. med. Susanne Bublitz, sind sich einig, dass das HÄPPI-Konzept die Versorgungskrise im hausärztlichen Bereich lösen kann. Die Ergebnisse zeigten, dass in Praxen aller Größen und Strukturen ein Transformationsprozess angestoßen werden kann, der auch im Praxisalltag umsetzbar ist: durch die Integration akademischer Gesundheitsberufe, mithilfe digitaler Konzepte und durch die Einbeziehung der Perspektive der Patient:innen.
Aber neue Technik, mehr Besprechungen und Fragebögen für Patient:innen würden aus keiner Praxis automatisch eine HÄPPI machen. Dieser Wandel erfordere Veränderungen auf allen Ebenen der Praxisorganisation. Um Angebote schaffen zu können, die den Praxen diesen Wandel ermöglichen, seien jetzt auch die Krankenkassen und die Politik gefragt, stellte Bublitz daher bei der Präsentation der Ergebnisse fest. Gemeinsam mit den Vertragspartnern wolle der Hausärztinnen- und Hausärzteverband nun nach Wegen suchen, wie HÄPPI in den gemeinsamen Verträgen zur Hausarztzentrierten Versorgung (HZV) umgesetzt werden kann.