Sensible Anamnese
Sexualität betrifft alle Menschen – doch kaum jemand spricht offen darüber, auch nicht im ärztlichen Gespräch. Dabei ist die Sexualanamnese ein essenzieller Bestandteil der medizinischen Versorgung, beispielsweise bei Infektionen, chronischen Beschwerden, psychischen Belastungen, Kinderwunsch, Verhütung oder in der Prävention. Sie gehört zur hausärztlichen Basisversorgung – wird jedoch nach wie vor selten strukturiert und professionell umgesetzt.
Warum? Weil Sexualität im ärztlichen Kontext noch immer als heikel gilt. Viele Ärzt:innen fürchten, zu weit zu gehen, und Patient:innen haben gelernt, dass Gespräche über Sexualität selten respektvoll oder hilfreich waren. Genau deshalb braucht es einen neuen Zugang zur Sexualanamnese – einen, der nicht nur Symptome, sondern auch Scham, Rollenbilder, Körpererleben und Beziehungsdynamiken einbezieht. Einen Zugang, der auf Beziehung statt auf Routine setzt. Einen Zugang, der Mut macht zur Offenheit – auf beiden Seiten.
Wann ist eine Sexualanamnese sinnvoll?
Sexualität betrifft viele Bereiche der Medizin und sollte daher gezielt thematisiert werden, etwa:
- bei unklaren urogenitalen Beschwerden
- bei auffälligen Laborwerten (zum Beispiel Leukozytose, Leberwerte, HIV)
- im Rahmen von Check-ups und bei der Überprüfung des Impfstatus
- bei psychischen Symptomen mit möglichem Bezug zu Beziehung, Trauma oder Körperbild
- bei Kinderwunsch, Verhütung und Schwangerschaft
- bei chronischen Erkrankungen mit Einfluss auf die Sexualität (zum Beispiel Diabetes, Depressionen oder koronare Herzkrankheit)
Eine gute Sexualanamnese ist kein Pflichtprogramm – sondern ein Angebot. Und genau darin liegt ihre Stärke: Sie schafft Vertrauen, wenn sie sensibel, achtsam und dialogisch geführt wird. Anhand von drei Beispielen aus meiner sexualmedizinischen Sprechstunde möchte ich zeigen, wie eine sensible Sexualanamnese gelingen kann.
Wenn Fragen mehr verraten als Antworten
Eine 42-jährige Patientin kommt nach ihrer Scheidung zum ersten Mal in die Praxis. Sie wirkt angespannt und bemüht, Fassung zu bewahren. Sie hat einen kleinen Zettel mit handgeschriebenen Fragen dabei: „Ich war letzte Woche das erste Mal mit einer Frau intim. Ist das eigentlich Sex? Kann ich mich dabei anstecken? Auch wenn ich sie mit der Hand berühre und danach ablecke?“
Solche Fragen werden selten laut gestellt, aber in einer Großstadt wie Berlin sicherlich häufig gedacht. Sie sind Ausdruck tiefer Unsicherheit, die sich hinter sachlich klingenden Worten verbirgt. Eine standardisierte Sexualanamnese, die beispielsweise mit den Fragen „Wie viele Partner:innen? Schutzverhalten? Beschwerden?“ beginnt, würde an ihrem Anliegen vorbeigehen. Hier geht es nicht nur um Informationsbedarf, sondern auch um Scham, Selbstzweifel und das Bedürfnis, ernst genommen zu werden. Wer nur medizinisch antwortet, ohne das emotionale Anliegen wahrzunehmen, verfehlt das Ziel.
Mögliche Gesprächsstrategie
„Danke, dass Sie das so offen ansprechen. Was beschäftigt Sie gerade am meisten?“
Mit dieser Haltung wird der Zettel nicht zum Beichtzettel, sondern zur Brücke. Es geht nicht darum, sofort eine richtige Antwort zu liefern, sondern Raum zu schaffen: für Unsicherheiten, für intime Themen, für Nachfragen. Wer hier mit Respekt und Interesse reagiert, signalisiert: Alles, was Sie mitbringen, hat hier Platz. Die Sexualanamnese beginnt mit Zuhören – nicht mit Laborwerten.
Zwischen Vertrauen und Versorgungslücken
In der Sprechstunde berichtet ein 23-jähriger Mann offen von seinem Alltag in einer polyamor lebenden Wohngemeinschaft: Betten, Mahlzeiten, Beziehungen – alles wird geteilt. Auf die Frage nach Schutzmaßnahmen wie PrEP oder Kondomen reagiert er gelassen: „Wir kennen uns alle gut. Wenn jemand was hat, wird das gesagt. Funktioniert total.“
Das ist keine Naivität, sondern ein bewusster Lebensstil. Doch medizinisch bleiben Fragen offen, etwa zu STI-Risiken, Testfrequenz oder individuellen Schutzkonzepten. Unsere Aufgabe ist es, diese Bedürfnisse weder zu bewerten noch zu ignorieren, sondern sie offen zu erfragen, präzise einzuschätzen und passende Informationen und Unterstützungsangebote zu geben. Moderne Sexualität sprengt klassische Beziehungskonzepte. Wer nur fragt: „Haben Sie eine:n Partner:in?“, greift zu kurz. Die Vielfalt an Lebensmodellen, Beziehungsformen und sexuellen Praktiken verlangt eine ärztliche Haltung, die zuhört, statt zu urteilen, und sich an der Realität orientiert.
Mögliche Gesprächsstrategie
„Danke für Ihre Offenheit. Wäre es für Sie in Ordnung, wenn wir gemeinsam besprechen, welche medizinischen Risiken in Ihrem Fall bestehen könnten und welche Schutzmöglichkeiten sinnvoll wären?“
Oft erzählen Menschen in solchen Momenten mehr, als sie ursprünglich vorhatten. Diese Offenheit ist ein Vertrauensbeweis und ein entscheidender Moment ärztlicher Verantwortung. Sie eröffnet die Möglichkeit, mehr über Lebensweise, Dynamiken und Schutzbedarfe zu erfahren und die Patientin oder den Patienten passgenau aufzuklären. Ziel ist es nicht, das Verhalten zu bewerten, sondern gemeinsam die Risiken einzuschätzen und bedarfsorientiert zu informieren. Eine gute Sexualanamnese stellt Wissen, Sicherheit und Wahlmöglichkeiten in den Mittelpunkt.
Wenn die Begrüßung zum Abschied wird
Eine trans Person Anfang 30 reagierte sichtlich wütend, als ich sie im Wartezimmer mit dem Namen „Frau Müller“ aufrief, obwohl sie mehrfach mitgeteilt hatte, dass sie keine Pronomen verwendet. Seither meidet sie ärztliche Untersuchungen – nicht wegen der Diagnosen, sondern wegen der Sprache, der Unsicherheit und falscher Zuschreibungen. Schon kleine Irritationen am Empfang können darüber entscheiden, ob sich ein Mensch medizinisch gut aufgehoben fühlt – oder die Praxis wieder verlässt.
Mögliche Maßnahme
Fragen Sie im Anamnesebogen aktiv nach der gewünschten Anrede und den verwendeten Pronomen, zum Beispiel: „Wie möchten Sie aufgerufen werden?“ oder „Welche Pronomen verwenden Sie?“ Fügen Sie anschließend in der Akte einen sichtbaren Hinweis hinzu, beispielsweise im Begrüßungsfeld oder in den Stammdaten. Das stärkt das Vertrauen, zeigt Aufmerksamkeit und fördert einen respektvollen Umgang.
Mögliche Gesprächsstrategie
„Wie darf ich Sie ansprechen?“ – Diese einfache Frage kann alles verändern. Sie zeigt Respekt, ohne Annahmen zu treffen, und signalisiert: Ihre Identität wird ernst genommen.
Wenn Sie sich nicht sicher sind, welche Genitalien eine Person hat, sprechen Sie nicht automatisch von „Penis“ oder „Scheide“. Verwenden Sie stattdessen den neutralen Begriff „Genitalien“ und fragen Sie sensibel nach: „Gab es bei Ihnen geschlechtliche Anpassungen?“ oder „Welche Begriffe verwenden Sie für Ihren Körper?“ Wenn körperliche Untersuchungen notwendig sind, holen Sie das Einverständnis ein. Werten Sie nicht, was Sie sehen, und stellen Sie offene Fragen. Meist berichten die Menschen selbst, was für die Untersuchung wichtig ist.
Später im Gespräch können Sie fragen: „Gibt es etwas, das ich beim Thema Sexualität oder Körper berücksichtigen sollte, damit Sie sich sicher fühlen?“ Solche Formulierungen laden ein, über Erfahrungen, Wünsche oder Grenzen zu sprechen – ohne Zwang, aber mit ehrlichem Interesse. Solche Fragen schaffen eine Atmosphäre, in der Vertrauen wachsen kann. Sie sind kein Extra, sondern ein notwendiger Bestandteil moderner, diskriminierungssensibler Medizin.
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Fazit
Bei einer Sexualanamnese geht es nicht um Technik, sondern um Intimität, Sicherheit, Körperwahrnehmung und Identität. Sie verlangt keine perfekten Worte, aber eine klare Haltung: respektvoll, offen und empathisch. Und sie beginnt immer mit dem Satz: „Wenn Sie möchten, können wir auch darüber sprechen.“
Weitere Fallbeispiele und Impulse für eine gelungene Sexualanamnese finden Interessierte in dem Buch Keine Diagnose durch die Hose – Fallgeschichten aus der Sexualmedizin.
Fachtag 2025 „Lust auf Reden."
Die kostenfreie Fachtagung Fachtag „Lust auf Reden. Sprechen über Sexualität in der medizinischen Versorgung und der Aus-, Fort- und Weiterbildung“ wird vom Projekt „Let’s talk about Sex – reloaded“ in Kooperation mit dem Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit (BIÖG) und dem Verband der Privaten Krankenversicherung e. V. (PKV) ausgerichtet.
Es erwarten Sie Diskussionsrunden, Präsentationen, Workshops und Gespräche zu folgenden Themen:
- Bedeutung von Sexualität und die offene Kommunikation darüber in der Arzt-Patient:innen-Beziehung
- Sexualität als Tabu in der medizinischen Aus-, Fort- und Weiterbildung – aktueller Stand und zukünftige Perspektiven
- Intersektionalität in der medizinischen Kommunikation über Sexualität
- Lehr- und Praxisbeispiele für ein inklusives, diskriminierungs- und vorurteilsfreies Sprechen über Sexualität
Wann: 21. und 22. November 2025
Wo: Seminaris Campus Hotel Berlin Dahlem
Informationen: Fachtagung 2025
Anmeldung: Fachtag: Lust auf Reden