Umgang mit Krebs: Zwischen emotionaler Erschütterung und bahnbrechenden Erfolgen

In ihrem Buch „Krebs fühlen“ zeigt Medizinhistorikerin Bettina Hitzer, wie Fortschritte der Onkologie und gesellschaftliche Entwicklungen sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts auf Ängste und Hoffnungen der Patient:innen, aber auch auf die Haltung und die Sprache von Ärzt:innen ausgewirkt haben. Eine lohnende Lektüre.    

Buch „Krebs fühlen – Eine Emotionsgeschichte des 20. Jahrhunderts“

„Krebs fühlen – Eine Emotionsgeschichte des 20. Jahrhunderts“

„Da ist etwas. Krebs und Emotionen“ – unter diesem Titel läuft noch bis Ende Januar 2024 eine kleine, aber sehr feinsinnige Ausstellung im Berliner Medizinhistorischen Museum der Charité. Initiatorin und wissenschaftliche Beraterin ist die Medizinhistorikerin PD Dr. phil. Bettina Hitzer.

Bettina Hitzer, die seit kurzem an der Universität Magdeburg Geschichte, Ethik und Theorie der Medizin lehrt, hat zuvor unter anderem am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin im von Professorin Ute Frevert geleiteten Forschungsbereich „Geschichte der Gefühle“ gearbeitet. Dass selbst Gefühle, die wir als unmittelbar erleben, weil sie uns spontan heftig überkommen können, nicht „überzeitlich“ und ahistorisch sind, sondern aufgrund von Veränderungen unserer Lebenswelt ihre Gestalt wandeln, ist eine wichtige Erkenntnis dieses Forschungsgebietes und für die Geschichtsschreibung.

Es gibt eine „Geschichte der Gefühle“ 

Als Medizinhistorikerin zeigt Hitzer ihren Leser:innen dies sehr detailliert und überzeugend am Beispiel des emotional besonders belasteten Themas Krebs. „Krebs fühlen. Eine Emotionsgeschichte des 20. Jahrhunderts“ wurde dafür im Frühjahr 2020 mit dem Sachbuch-Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet, was durch die Corona-Pandemie vielleicht nicht ganz die gebührende Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit fand.

Dabei ist das über 500 Seiten dicke Buch, das auf der Grundlage der Habilitationsschrift der Autorin entstand, nicht nur wissenschaftlich absolut vertrauenswürdig, sondern auch für medizinische oder historische Lai:innen gut lesbar.

Für Ärzt:innen aber ist die Lektüre in mehrfacher Hinsicht ein Gewinn: Sie können – auch anhand der eingestreuten Fotos – die Entwicklung der onkologischen Operationstechniken, der Strahlentherapien und schließlich der Chemotherapie vor ihrem geistigen Auge Revue passieren lassen. Parallel dazu werden ihnen die Entwicklungen politischer Präventions- und Früherkennungsinitiativen vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur vergangenen Jahrtausendwende nahegebracht, vor allem aber die innerärztlichen, gesellschaftlichen und juristischen Diskussionen und Entwicklungen bei der Aufklärung über onkologische und hämatologische Diagnosen und Prognosen.

Wie viel Ehrlichkeit vertragen Erkrankte?

Nimmt die Mitteilung einer Krebsdiagnose den Patient:innen nicht die Hoffnung; schürt sie nicht Verzweiflung und Ängste? Wie viel Ehrlichkeit verträgt eine betroffene Person? Die Ansichten zu diesen Fragen änderten sich allmählich, als man begann, Tumorerkrankungen zu operieren, und als Aufklärung auch aus rechtlicher Sicht zum Thema wurde, da die Patientin oder der Patient der – nun erstmals möglichen – Behandlung zustimmen musste. Beschönigungen des Zustands blieben jedoch auch jetzt noch möglich. Angehörige bekamen oft mehr Informationen als die oder der Erkrankte selbst und sahen sich der Zumutung ausgesetzt, dieses Wissen auch im vertrautesten Gespräch für sich zu behalten. Den Erkrankten selbst blieb nur, im Gespräch mit ihren Ärzt:innen und ihren Liebsten auf feinste Zwischentöne zu achten. Oder darauf, was man über die Therapien schon wusste, etwa über die aufkommenden Bestrahlungen.

Hitzer zeigt, wie technische Neuerungen aus dem einstigen „Todesurteil Krebs“ in vielen Fällen eine gut behandelbare onkologische Erkrankung machten, über die es sich leichter sprechen ließ, weil damit nicht alle Hoffnungen zerstört wurden. Die Autorin erspart ihren Leser:innen aber auch nicht den Blick auf ideologisch getriebene Appelle von Mediziner:innen, Betroffenen schonungslos und radikal die Wahrheit zu offenbaren: So wurde in der NS-Zeit propagiert, an Krebs Erkrankte klar und nüchtern mit ihrer Perspektive zu konfrontieren, weil man von ihnen verlangen könne, ihre Angst mutig zu überwinden – hart zu sich selbst wie die Kämpfer an der Front, die ja ihrerseits täglich mit dem Tod konfrontiert waren.

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Schließlich stößt die Medizinhistorikerin in Zeiträume vor, die viele Leser:innen noch aus eigener Erfahrung kennen, und damit in Denkfiguren wie die von der „Krebspersönlichkeit“, bei der ein gehemmter Umgang mit den eigenen Gefühlen und Bedürfnissen zur Erkrankung führe. Sie diskutiert zudem, was es mit den Emotionen der Menschen macht, wenn Behandlungen aussichtsreicher, gleichzeitig aber auch langwieriger werden, wenn Krebs schließlich für viele Menschen zu einer chronischen Krankheit wird.

Von Ekel und Angst im Zeitenwandel

Können Emotionen zu einer bestimmten Zeit „Konjunktur“ haben, während sie später in den Hintergrund rücken oder gar verschwinden? Beim Ekel, so zeigt Hitzer, könnte das durchaus der Fall sein. Im Jahr 1912 hatte der junge Arzt und Dichter Gottfried Benn dazu in seinem aufsehenerregenden Gedicht „Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke“ noch schonungslos seine eigenen Erfahrungen formuliert: „Bett stinkt bei Bett. Die Schwestern wechseln stündlich“ und „Manchmal wäscht sie die Schwester. Wie man Bänke wäscht.“

„Ekel war ein Gefühl der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das verhältnismäßig abrupt in den 1950er-Jahren in den Hintergrund trat“, schreibt Hitzer. Das habe einerseits „therapiehistorische Ursachen“, denn der üble Geruch sich zersetzenden Tumorgewebes sei Dank besserer Behandlungen nun seltener aufgetreten. Zugleich hätten sich nach 1945 aber auch die „Sagbarkeitsregeln“ geändert, da man nun stärker die Schamgefühle der Erkrankten berücksichtigt habe, deren Tumoren die unangenehmen Gerüche absonderten: „Ekelgefühle wurden stumm, aber sie existierten weiterhin.“

Anders bei der Angst: Sie war im gesamten 20. Jahrhundert präsent. Aber, so argumentiert die Historikerin, „diese Angst war nie dieselbe. Die gefühlte Angst veränderte sich ebenso wie die moralische Bewertung von Angst.“ Versuchte man sie um 1900 durch das Verschweigen wichtiger Wahrheiten zu vermeiden, machte man sie in der NS-Zeit zum Gegenstand der erwarteten Mutprobe, so „darf“ man sie heute empfinden, sollte sie nicht verdrängen, sondern – auch aus therapeutischen Gründen - darüber sprechen.

„Emotional Turn“ – eine neue Perspektive

Ihre Ausführungen zum Thema Hoffnung knüpft die Autorin eng an die Entwicklung von Früherkennungskampagnen seit Beginn des 20. Jahrhunderts, die mit dem Motto „Rechtzeitig erkannt, heilbar!“ auch unrealistische Hoffnungen schürten. Zudem habe ein emotionales Konzept gefehlt, wie mit unheilbar Krebskranken umgegangen werden sollte, die kaum noch über ihren Zustand getäuscht werden konnten. Ideen von der Aufhebung der individuellen Existenz in „etwas Größerem, Unzerstörbarem“ boten unheilbar Kranken ja keine „diesseitige Hoffnung“.

Mit der Psychoonkologie, die in den 1970er-Jahren aufkam, wurde Hoffnung dann aber auf kleinere, naheliegende und erreichbare Dinge gerichtet, wie Hitzer überzeugend darlegt: Noch einmal ans Meer fahren, den Frühling erleben, keine Schmerzen haben. „Dieses Hoffnungsmanagement zerlegte das Nicht-Erreichbare in viele kleine Hoffnungsfacetten […].“ Hoffnung wird damit zu einem Gefühl, das sich „fast auf das Gegenwärtige“ richtet und keinen weiten Zeithorizont mehr kennt. „In dieses Konzept der kleinen Hoffnungen des Augenblicks passte sich die Chemotherapie als Praxis der auf lange Sicht immer wieder neu geschöpften Hoffnung auf den Gewinn von Lebenszeit ein.“

Mit dem „Emotional Turn“ Anfang der 1990er-Jahre seien positive Gefühle wie die Hoffnung stärker in den Blick geraten, argumentiert die Historikerin am Ende ihrer detailreichen, präzise formulierten Ausführungen. „Kommunikationstechniken entwerfen zudem die Vision einer rationalen, von Empathie geleiteten Steuerbarkeit von Gefühlen im Gespräch mit Krebspatienten.“

Wie diese bis heute andeuernde Situation später einmal von Historiker:innen eingeordnet werden wird und welche Emotionen Krebs dann auslösen wird – wir wissen es nicht. Doch die Lektüre von „Krebs fühlen“ regt zu solchen Gedanken an.

Ausstellung

„Da ist etwas. Krebs und Emotionen“

Die begleitende Ringvorlesung findet am 19. Oktober 2023 um 18 Uhr auf dem Campus Charité Mitte statt. Mehr dazu unter: www.bmm-charite.de

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