Kein Arztroman
Die Autorin Eva Mirasol hat früher Kolumnen für „Berliner Ärzt:innen“ geschrieben, die so gewitzt und humorvoll waren, dass ich immer noch gerne an sie zurückdenke. Daher habe ich mit Spannung ihren Debütroman „Staying Alive“ erwartet. Darin wirft sie einen umfassenden Blick auf unser Gesundheitswesen und die Arbeit in deutschen Krankenhäusern. Diese ist geprägt von Hierarchie, viel Arbeit – und vor allem von den Menschen, die sie umsetzen. Mirasol gelingt es auf unnachahmliche Art und Weise, den Alltag in diesen Krankenhäusern und die Menschlichkeit darin zu verdeutlichen.
„Ich bin Ärztin. Das ist so etwas Ähnliches wie Arzt.“
Nicki ist die Hauptperson, die als Ärztin arbeitet, und das Buch beginnt fulminant mit einem Zitat: „Ich bin Ärztin. Das ist so etwas Ähnliches wie Arzt.“
Was als kurzweiliges, stellenweise urkomisches Lesevergnügen beginnt, entpuppt sich bald als präzise gesellschaftspolitische Analyse unseres deutschen Gesundheitssystems.
Die Stärke des Buches liegt in seiner Erzählweise: Es ist zugänglich, pointiert und durchdrungen von einem feinen Gespür für die Absurditäten des medizinischen Alltags. Dabei verliert es seine zentrale Botschaft nie aus dem Blick: Im Zentrum des Gesundheitssystems stehen Menschen – Patientinnen ebenso wie Ärztinnen und Ärzte –, deren Verhältnis zunehmend durch strukturelle Belastungen und institutionelle Zwänge verzerrt wird.
Themen wie Abhängigkeitsverhältnisse, Sex, die Verbindung von Privatem und Arbeit sowie medizinische Aufklärung finden sich in dem Buch. An einer Stelle sagt Nicki: „Bitte zwei Ampullen Rocuronium.“ Dann folgt die Erwähnung weiterer Narkosemittel. Als Patientin kann man aus dem Buch viel lernen – dafür sorgen die Fußnoten zu medizinischen Details –, als Ärztin kann man sein Wissen über fachfremde Details auffrischen.
Das Gesundheitssystem wird treffend beschrieben, zum Beispiel die häufige Frequentierung von Notaufnahmen durch Patienten ohne Notfälle: „Neben Ihnen liegt eine Patientin mit Herzinfarkt, hinter Ihnen einer mit Lungenentzündung, und der, der gerade im Schockraum stirbt, hat eine Magenblutung. Seit wann kribbelt nochmal Ihr Knie?“
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Idealismus, Systemdruck, Grenzerfahrung
Mit klarem Blick enthüllt das Buch die wahren Umstände, unter denen medizinisches Personal tagtäglich arbeitet: zwischen Idealismus, Systemdruck und zwischenmenschlichen Grenzerfahrungen. Gerade dieser ehrliche Blick hinter die Kulissen eröffnet den Leserinnen und Lesern ein neues Verständnis für das Verhältnis zwischen Ärztin bzw. Arzt und Patientin bzw. Patient. Dieses Verhältnis ist nicht nur von medizinischem Wissen geprägt, sondern auch von Machtverhältnissen, Erwartungen – und sehr oft von einer leicht tragischen Komik.
Doch „Staying Alive“ bleibt nicht bei der Kritik stehen. Es zeigt auch Wege auf, wie Patientinnen und Patienten ein Stück mehr Verständnis für das Medizinsystem entwickeln können. Denn wer versteht, dass in diesem System Menschen mit guten Absichten wirken, die aber oft durch Bürokratie, Zeitmangel oder emotionale Überforderung „menscheln“, kann eine klarere Sicht auf das medizinische Personal entwickeln: auf Augenhöhe und mit Empathie.
Als Resultat könnten wir beginnen, uns von Hybris und Überhöhung zu verabschieden und uns darauf besinnen, dass Ärztinnen Expertinnen für Medizin und Patientinnen Expertinnen für den eigenen Körper sind. Eine hierarchiefreie, respektvolle Interaktion ermöglicht es uns, uns als Team zu begreifen, das gemeinsam mehr Gesundheit für die Patientin schafft.
Dieses Buch bietet einen humoristischen Blick auf das deutsche Gesundheitssystem und kann die Beziehung zwischen Patientinnen und medizinischem Personal verbessern. Es ist ein leicht zu lesendes, dabei tiefgründig ehrliches Werk, das lange nachhallt. Für Medizinerinnen und Mediziner ebenso wie für Patientinnen und Patienten ein gleichermaßen erkenntnisreiches wie vergnügliches Buch. Ich lache immer noch.
Das Buch
Eva Mirasol
Staying Alive
Kein Arztroman
Ullstein Taschenbuch, 2025
14,99 €
Link zum Buch: Staying Alive – kein Arztroman