Steht man allerdings vor dem Gebäude, am Rand des Campus Mitte der Charité – Universitätsmedizin Berlin, in unmittelbarer Nähe zu Hauptbahnhof, Hamburger Bahnhof und Museum für Naturkunde, dann kann man nicht übersehen, dass sich hier etwas getan hat: Aus den unscheinbaren Fenstern im Erdgeschoss und des ersten Stocks wurden große, über zwei Stockwerke gehende Fenstervitrinen. Jetzt sind die altehrwürdigen verglasten Vitrinen für Feucht- und Trockenpräparate auch von außen sichtbar. „Dieses neue architektonische Element versteht sich als Einladung, offen und ohne Berührungsängste einzutreten“, betont Schnalke. Das ist nun durch einen großzügig gestalteten, attraktiven und lichtdurchfluteten zentralen Eingangsbereich möglich, der sich auch als Sammelpunkt vor Gruppenführungen eignet, zum Beispiel vor den beliebten Führungen von Schulklassen.
Transparenz für eine ungetrübte Einblicknahme
Dagegen konnte das „Pathologische Museum“, das Rudolf Virchow sich für seine riesige Sammlung von über 20.000 Präparaten gewünscht hatte, im Jahr 1899 seine „Tore“ nur bescheiden am Seiteneingang des neu zu errichtenden Instituts für Pathologie auf dem Gelände der Charité eröffnen – und so blieb es bis zur Renovierung. Die neue Sichtbarkeit und Offenheit des Eingangsbereiches wäre wohl ganz im Sinne Virchows gewesen, beabsichtigten die voll verglasten Seitenvitrinen im Inneren des Museums doch von Anfang an nach Schnalkes Worten „Transparenz für eine ungetrübte Einblicknahme“.
Die Büste des großen Wissenschaftlers, Sozialmediziners, Stadthygienikers und Politikers, der den neu geschaffenen Lehrstuhl für Pathologie schon 1856 übernommen hatte, steht denn auch in der behutsam umgestalteten Dauerausstellung „Dem Leben auf der Spur“ im Mittelpunkt des zentralen Raums: Ehre, wem Ehre gebührt.
Es ist auch für uns als Charité wichtig zu wissen, woher wir kommen, und unsere Geschichte im Guten wie im Schlechten zu kennen. Das BMM ist in diesem Sinne für uns ein Ort der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte.
Geschichte im Guten wie im Schlechten
Man kann den Besuch der Dauerausstellung als Reise durch die Geschichte der „naturwissenschaftlich begründeten Medizin westlicher Prägung“ betrachten, so Schnalke: vom Anatomischen Theater über den Krankensaal, Laborraum und Seziersaal, zur Präparate-Sammlung bis hin zu einem Einblick ins Depot, in dem weitere Schätze schlummern. „Es ist auch für uns als Charité wichtig zu wissen, woher wir kommen, und unsere Geschichte im Guten wie im Schlechten zu kennen. Das BMM ist in diesem Sinne für uns auch ein Ort der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte“, betonte Charité-Dekan Joachim Spranger anlässlich der Eröffnung.
Auch die Gefährdungen und Abgründe einer Medizin, die ihren ethischen Kompass nicht mehr nach dem Wohl des Einzelnen ausrichtet, werden unübersehbar deutlich dargestellt. In einem nachdenklich machenden Text wird zudem mit Dankbarkeit der vielen anonymen Patient:innen gedacht, von denen die Präparate stammen, an denen angehende Ärtz:innen oder Angehörige anderer Heilberufe über Generationen lernen konnten und können.
Kunst und Wissenschaft
Gleich zur (Wieder-)Eröffnung des Museums zeigt eine Wechselausstellung „Das Gehirn in Wissenschaft und Kunst“. In größerem Rahmen und mit deutlichem Akzent auf der Kunst wurde sie zuvor in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, kurz: Bundeskunsthalle in Bonn gezeigt. Neurowissenschaftler:innen der Charité hatten sich damals maßgeblich mit ihrer wissenschaftlichen Expertise eingebracht.
Im BMM geht es naturgemäß nun stärker um die Wissenschaft als um die Kunst, Forscherinnen und Forscher aus der Charité präsentieren ihre aktuellen Projekte und zeigen, welche diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten es bereits gibt. Thematisiert werden unter anderem Methoden und Möglichkeiten der Bildgebung, operative Eingriffe an wachen Patient:innen, Schnittstellen zwischen Gehirn und Computer, aber auch einzelne Krankheitsbilder, die ganz besonders das Gehirn betreffen, von Sucht über Schlaganfall bis zu Parkinson und Alzheimer.
„Da ist etwas“
Ab dem 12. Juli 2023 wird eine weitere Ausstellung zu sehen sein, die sich dem vielschichtigen und extrem alltagsrelevanten Thema Krebs und Emotionen widmet. Der Titel nimmt so lakonisch wie vielsagend einen Satz auf, den Menschen im Rahmen einer Krebsdiagnose oft hören: „Da ist etwas“. Wie geht es ihnen, wenn die Ärztin oder der Arzt „etwas“ bei ihnen entdeckt, das da nicht hingehört? Selbstverständlich muss es in einer solchen Ausstellung um Emotionen wie Angst, aber auch Wut, Verzweiflung und Scham gehen.
Diesen Gefühlen wollen die Ausstellungsmacher:innen mit ihren Mitteln nachspüren, dabei zugleich aber auch verdeutlichen, dass sie durch gesellschaftliche Normen geprägt sind und sich verändern können. Eine Ringvorlesung, die ab September 2023 in der Hörsaalruine des BMM stattfinden soll, wird die Ausstellung ergänzen. Sie soll neue Forschungsansätze vorstellen, wird sich aber auch mit der Geschichte der Palliativmedizin und mit dem Sterben beschäftigen.
Auch wenn das Museum mehr als 120 Jahre alt ist, ist es nun absolut fit für die Gegenwart und die Zukunft.
Verbindung von Geschichte und Modernität
Alt und Neu, Auflagen des Denkmalschutzes und technische Ertüchtigung des Hauses waren mit der Renovierung des alten Museumsgebäudes unter einen Hut zu bringen. „Auch wenn das Museum mehr als 120 Jahre alt ist, ist es nun absolut fit für die Gegenwart und die Zukunft“, freut sich Museumsdirektor Thomas Schnalke über das Ergebnis. Die Verbindung von Geschichte und Modernität, die optisch auf jeden Fall gelungen ist, zeigt sich punktuell auch immer wieder inhaltlich: „Unser alter musealer Objektbestand kann hochaktuell werden“, berichtet Schnalke.
Ein Beispiel ist die in Formalin eingelegte Lunge eines an Masern verstorbenen Kleinkindes aus dem Jahr 1912. Eine Probe davon wurde im 21. Jahrhundert mit den Methoden der Molekularen Medizin untersucht. Die Sequenzierung des Virus-Genoms ergab, dass sich der Masern-Erreger schon im sechsten vorchristlichen Jahrhundert aus einem gemeinsamen Vorfahren, einem Rinderpest- und Masernvirus, entwickelt haben muss, das zunächst bei Tieren auftrat.
Die Aufsehen erregenden Ergebnisse eines internationalen Teams wurden im Juni 2020 in der Fachzeitschrift „Science“ veröffentlicht – kurz nachdem in Deutschland im März 2020 die Masern-Impfpflicht eingeführt worden war. Aber das ist eine andere (medizinhistorische) Geschichte.