Von Fanfaren und Höllenglocken: Bericht vom 128. Deutscher Ärztetag 2024 in Mainz

Der 128. Deutsche Ärztetag vom 7. bis 10. Mai 2024 in Mainz bot eine breite Klaviatur an Themen. Neben den Klassikern wie ärztliche Weiterbildung und Fortbildung tauschten sich die Abgeordneten auch zur Zukunft der medizinischen Versorgung aus. Der Gesundheitssektor befindet sich in einem historischen Umbruch und bedarf richtungsweisender Entscheidungen. Dass dies nicht geräuschlos geht und besondere Sorgfalt erfordert, wurde in vielen Situationen deutlich.

128. Deutscher Ärztetag vom 7. bis 10. Mai 2024 in Mainz

Der diesjährige Deutsche Ärztetag fand vom 7. bis 10. Mai 2024 in der Rheingoldhalle in Mainz statt.

128. Deutscher Ärztetag 2024 in Mainz

Mit einer Fanfare wurde der Deutsche Ärztetag (DÄT) im Gutenberg-Saal der Rheingoldhalle eröffnet. Hier wird Großes erwartet, gab einem das Musikstück unmissverständlich zu verstehen. Auch die vorherrschende Garderobe ließ daran keinen Zweifel. Wo man auch hinsah: volles Ornat. Die Granden des deutschen Gesundheitswesens, rund 250 Abgeordnete aus 17 Landesärztekammern sowie Vertreter:innen aus dem Hauptamt, Pressevertreter:innen und internationale Gäste gaben sich die Ehre. Die Protagonisten des regnerischen Vormittags: Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. med. Karl Lauterbach und Dr. med. (I) Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer (BÄK). Der erste Eindruck: Kostüme und Anzüge der deutschen Ärzt:innenschaft sitzen zuverlässig, doch wie steht es um die Stimmung?

Bevor jedoch die Berichterstattung zum Deutschen Ärztetag beginnt, spulen wir einen Tag zurück. Denn das Prélude zum großen mehrtägigen Konzert der Standespolitik oblag abermals den jungen Ärzt:innen. Mit dem Dialogforum mit jungen Ärztinnen und Ärzten (Was wünschen sich junge Ärzt:innen in Weiterbildung?), organisiert von der Bundesärztekammer, begann die gesundheitspolitische Woche bereits am Montag. Der Moderator der Veranstaltung, Dr. med. Pedram Emami, Präsident der Ärztekammer Hamburg, eröffnete mit einer rhetorischen Frage: „Warum reden wir noch immer über Weiterbildung? Handelt es sich etwa um ein strukturelles Problem?“ Trotz aller Bemühungen, so ergänzte er – die Kernprobleme der ärztlichen Weiterbildung scheinen weiterhin zu bestehen.

Dr. med. Hans-Albert Gehle, Präsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe, wertschätzte die Arbeit der Ärzt:innen in Weiterbildung im Zuge eines kurzen Vortrages mit den Worten: „Ohne Sie wäre Versorgung in Deutschland nicht möglich.“ In der anschließenden Diskussionsrunde konstatierte Constanze Weber, Ärztin in Weiterbildung aus Dresden und Mitglied im „Bündnis Junger Ärztinnen und Ärzte“, es seien mehr Frauen als Männer in Weiterbildung. In Führungspositionen liege ihr Anteil allerdings nur bei 13 Prozent. Die bestehenden Strukturen ließen vergleichbare Karrieren für Frauen oft nicht zu. Mit Blick auf den demografischen Wandel fragte sie: „Wer soll die Positionen denn zukünftig besetzen, wenn wir den Frauen nicht entgegenkommen?“

In der weiteren Diskussion zeigte sich, wie wichtig es auch für die Weiterbildungsbefugten ist, gute Weiterbildung zu realisieren – nicht zuletzt in Zeiten hoher Arbeitsverdichtung. Dies sei aber viel zu selten möglich, so die einhellige Meinung. Eine Abfrage im Publikum verdeutlichte, dass nicht einmal die Hälfte der anwesenden Ärzt:innen in Weiterbildung einmal im Jahr die Gelegenheit zu einem strukturierten Feedback-Gespräch mit den sie weiterbildenden Ärzt:innen erhält. Eigentlich, so der Eindruck, könnten die Voraussetzungen für einen Wandel nicht besser sein. Die junge Generation ist gebildet, eloquent und hat ein zunehmend gesundes Bewusstsein für die eigenen Bedürfnisse. Für diese auch mutig einzustehen, darin wurden sie bestärkt. Den eingangs von Dr. med. Lujain Alqodmani, Präsidentin des Weltärztebundes, in ihrem Vortrag ausgerufenen Appell „Speak up!“ nahm Emami auf und gab ihn den Anwesenden mit auf den Weg zurück in den Mainzer Regen.

Feierliche Eröffnung des 128. Deutschen Ärztetages

„Die Welt befindet sich in einer schlechten Verfassung“, stellte der Gastgeber Dr. med. Günther Matheis, Präsident der Landesärztekammer Rheinland-Pfalz, gleich zu Beginn seiner Eröffnungsrede in der Rheingoldhalle am Dienstag fest. Er erinnerte an das anstehende 75. Jubiläum des Grundgesetzes und rief den Anwesenden emphatisch zu, die freiheitlich demokratische Grundordnung sei für die Ärzteschaft nicht verhandelbar. Lange und deutliche Akklamation folgte. „Wir alle müssen Farbe bekennen“, fuhr Matheis fort. Demokratie müsse aktiv gelebt und verteidigt werden. Man müsse sich von allen distanzieren, die diese Werte missachten, denn „die ärztliche Arbeit dient dem Erhalt des sozialen Friedens“.

Mit seiner Rede setzte Matheis ein starkes Zeichen für Demokratie, Pluralismus und Menschenrechte. Die Selbstvergewisserung der deutschen Ärzt:innenschaft war so eindringlich und nachdrücklich, dass allen Anwesenden deutlich wurde: Es sind Zeiten des Umbruchs, die es gebieten, sich zu besinnen, zu verorten, sich gemeinsam einzuschwören.

Danach richtete Clemens Hoch, Gesundheitsminister des Landes Rheinland-Pfalz, einige Worte an die Anwesenden. Für Heiterkeit sorgte anschließend der ehemalige Rugbyspieler und Oberbürgermeister von Mainz, Nino Haase, mit einer frischen und launigen Rede, in der er gegen alle Erwartungen nicht Goethe selbst, sondern dessen Mutter mit den Worten zitierte: „Wenn mein Sohn von Frankfurt nach Mainz reist, so bringt er mehr Kenntnis heim als andere aus Amerika.“

Es folgte die traditionelle Totenehrung. Die andachtsvolle Stimmung wurde gegen Ende von einem anwesenden Baby unterbrochen, das lautstark auf sich aufmerksam machte. Ein unfreiwillig hoffnungsvoller Moment, in dem sich Tod und Leben, Tradition und Gegenwart die Hand reichten.

An Dr. med. Astrid Bühren, Prof. Dr. Dr. med. René Gottschalk und Prof. Dr. med. Dr. h.c. Hans Lippert wurde anschließend die Paracelsus-Medaille der Ärzteschaft verliehen. Die höchste Auszeichnung der deutschen Ärzteschaft wird traditionell am Dienstagvormittag im Rahmen der Eröffnung des Deutschen Ärztetages vom BÄK-Präsidenten überreicht. Reinhardt würdigte in seiner Laudatio an Bühren, Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, deren „jahrzehntelanges Engagement für die Gleichberechtigung der Ärztinnen“.

Als engagierter Mediziner und Visionär wurde René Gottschalk, Facharzt für Innere Medizin mit der Zusatzbezeichnung Infektiologie sowie Facharzt für Öffentliches Gesundheitswesen, gewürdigt. Er habe als Leiter des Gesundheitsamtes Frankfurt am Main diese „unermüdlich vom Image einer verstaubten Behörde befreit und zu einer modernen Einrichtung gemacht, die weite Anerkennung genießt“, so Reinhardt.

Der Träger der Paracelsus-Medaille Hans Lippert ist Facharzt für Viszeralchirurgie sowie für Gefäßchirurgie mit der Zusatzbezeichnung Transplantationsmedizin. Im Jahr 1979 ging er an die Berliner Charité, wo er das Transplantationszentrum mit aufbaute. In diese Zeit fiel laut Reinhardt die Enthüllung massiver Allokationsskandale in der deutschen Transplantationsmedizin, an deren Aufklärung Lippert intensiv mitgewirkt habe.

Auftritt der Meistersinger

In seiner Eröffnungsrede forderte der Präsident der Bundesärztekammer einen ressortübergreifenden Gesundheitsgipfel im Kanzleramt. Seine Aussage, „man kann nicht über Zeitenwende reden und dann nicht die Zeichen der Zeit verstehen“, wurde mit zustimmendem Applaus aufgenommen. Frage man Menschen, was ihre Lebensqualität bestimme, würden sie Gesundheit an erster Stelle nennen, betonte Reinhardt. Die Politik tue zu wenig gegen den drohenden Mangel an Ärzt:innen. Dabei würden gerade ältere Kolleg:innen gerne weiterarbeiten. Das Durchschnittsalter niedergelassener Ärzt:innen betrage nach Zahlen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) durchschnittlich 54 Jahre. Knapp 13 Prozent von ihnen arbeiten auch noch nach dem 65. Lebensjahr. Um dies stärker zu fördern, solle man steuerrechtliche und andere Anreize schaffen, schlug er vor.

„Wir haben es versäumt, Ärztinnen und Ärzte auszubilden. Uns werden in den nächsten Jahren 50.000 fehlen“, stellte Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. med. Karl Lauterbach zu Beginn seiner Rede fest. Man könne nicht weitermachen wie bisher, die Investitionen in die Ausbildung von Ärzt:innen scheuen und stattdessen diese aus dem Ausland abwerben, fuhr er fort. Schließlich würden sie auch dort dringend gebraucht. Lauterbach wolle sich nun schnell für eine Reform des Medizinstudiums einsetzen. Zudem müsse man über eine zunehmende Ambulantisierung sprechen. Ohne Quellen zu nennen, führte er an, 20 bis 50 Prozent der Leistungen im Krankenhaus könnten ambulant erbracht werden oder seien gar nicht notwendig.

Unter dem Gelächter einiger Zuhörer:innen ergänzte Lauterbach, man bräuchte „so eine Art Hybrid-Arzt“, der sich nicht zwischen Anstellung im Krankenhaus und Niederlassung entscheiden müsse. Zudem versprach er bürokratische Entlastungen, kündigte die Entbudgetierung der Hausärzt:innen an und versicherte, diese auch für weitere Fachgruppen prüfen zu lassen. Generell sagte er zu, vieles „prüfen“ zu wollen, manches sogar „eindringlich“. Insgesamt 15 Gesetzesvorhaben befänden sich derzeit im Bundesgesundheitsministerium in Abstimmung.

Während in der Rheingoldhalle dem „Patienten“ Gesundheitssystem noch die Temperatur abgenommen wurde, zeigte sich vor dieser bereits das Fieber. Hier wurde eine Fanfare anderer Art gespielt: Der Song „Hells Bells“ der Hard-Rock-Band AC/DC eröffnete einen Protest von Ärzt:innen und Medizinischen Fachangestellten. Mehrere Verbände hatten dazu aufgerufen. Die rund 150 Teilnehmenden skandierten lautstark: „Jetzt reicht’s!“ Plakaten waren Losungen wie „Praxen am Limit, Patient in Not“, „Qualität hat ihren Preis“ oder „Für den Erhalt der wohnortnahen ambulanten Versorgung“ zu entnehmen.

Während Matheis in seiner Eröffnungsrede noch „eine gesunde Diskussionskultur“ als Kern der Demokratie hervorhob, erhielt der Bundesgesundheitsminister von den Protestierenden auf sein spontanes Angebot, mit den Demonstrationsteilnehmenden zu sprechen, eine Absage. Ein Schicksal, das er aber mit Reinhardt teile, wie er den Zuhörer: innen im Gutenberg-Saal mitteilte.

Krankenhausreform gestalten

Nach einer kurzen Pause fand man sich im Kongresssaal der Rheingoldhalle zur Plenumssitzung ein. Gleich zu Beginn und noch vor Eröffnung der Tagesordnung wurde eine Resolution verabschiedet, mit der der Tenor der Rede von Matheis aufgegriffen und letztlich manifestiert wurde – im Ablauf eines Ärztetages ein Novum, was nochmals die außergewöhnliche politische Lage unterstrich. Die Resolution „Nie wieder ist jetzt! Die Ärztinnen und Ärzte in Deutschland stehen für Demokratie“ wurde einstimmig und unter großem Applaus von den Abgeordneten beschlossen.

Es folgte eine Aussprache zur Rede des Präsidenten und zum Leitantrag. Matheis wurde unter anderem für sein klares Statement für Demokratie und gegen Rechtsextremismus Dank ausgesprochen. An der Rede des Bundesgesundheitsministers wurde bemängelt, dass das, was er sage und das, was er letztendlich tue, weit auseinanderklaffe. Der Minister lebe in seiner eigenen Blase, konstatierte ein Abgeordneter. Zu der Aussage, 20 bis 50 Prozent aller stationären Fälle könnten ambulant behandelt werden, wünschte sich ein anderer einen Faktencheck.

Im weiteren Verlauf wurde der Antrag von Prof. Dr. med. Jörg Weimann, D.E.A.A. (Marburger Bund), Abgeordneter der Ärztekammer Berlin, „Bürokratieabbau statt Aufbau im Rahmen des Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetzes“ vom DÄT angenommen, ebenso der Antrag „Weiterentwicklung von Leistungsgruppen nur unter echter Beteiligung der Ärzteschaft – wirkliche Parität herstellen“.

Zudem wurde ein Antrag von Julian Veelken (FrAktion Gesundheit), Abgeordneter der Ärztekammer Berlin, vom DÄT beschlossen. Darin wird bemängelt, dass die derzeitige Fassung des Referentenentwurfes des Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetzes (KHVVG) vorsieht, die Finanzierung der geplanten Krankenhausreform in Teilen aus einem Transformationsfonds von 50 Milliarden Euro zu finanzieren.

Dieser wird zur Hälfte, also 25 Milliarden Euro, aus liquiden Mitteln des Gesundheitsfonds und damit von der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) finanziert. „Eine Teilfinanzierung aus dem Gesundheitsfonds, der ja für die Finanzierung der ‚Betriebskosten‘ des Gesundheitssystems vorgesehen ist, wird deshalb strikt abgelehnt, da er eine Zweckentfremdung von Krankenkassenbeiträgen darstellt und eine massive und ungerechtfertigte zusätzliche finanzielle Belastung der Versicherten der GKV darstellen würde“, heißt es weiter.

Im weiteren Verlauf des Nachmittags informierte Dr. med. Susanne Johna, Vizepräsidentin der Bundesärztekammer, die Versammlung über den aktuellen Stand des ärztlichen Personalbemessungstools (ÄPS-BÄK). Bei der kürzlichen Vorstellung im Bundesgesundheitsministerium (BMG) hätten die Bundesbeamt:innen sich mehr Zeit genommen als vorgesehen. Im Ergebnis wolle man im BMG prüfen, ob das ÄPS-BÄK verbindlich eingeführt werden könne, berichtete Johna. Da waren die Delegierten bereits weiter. Sie forderten mit einem mehrheitlich angenommen Antrag, dass das ÄPS-BÄK in der geplanten Krankenhausreform gesetzlich verankert werden solle. Weiter rief der Deutsche Ärztetag mit einem Antrag von Veelken die politisch Verantwortlichen dazu auf, für eine verlässliche Refinanzierung der erforderlichen ärztlichen Personalausstattung im Rahmen der geplanten Vorhaltefinanzierung zu sorgen.

Wir haben es versäumt, Ärztinnen und Ärzte auszubilden. Uns werden in den kommenden 15 Jahren bis zu 50.000 fehlen.

Prof. Dr. med. Karl Lauterbach,
Bundesgesundheitsminister

Wege zu mehr Effizienz

Als Jude, schwuler Mann und Vater zweier Söhne sage er „Danke“ angesichts der klaren Positionierung der deutschen Ärzt:innenschaft für Demokratie und gegen Rechtsextremismus, so Jesse Ehrenfeld, Präsident der American Medical Association (AMA) zu Beginn seines Grußwortes am Mittwochmorgen. In seiner Rede sprach er ferner über die gemeinsamen Herausforderungen von Ärzt:innen in der ganzen Welt: zunehmender Extremismus und eine extreme Arbeitsverdichtung. Der Fachkräftemangel spitze sich weltweit krisenhaft zu. Bürokratieabbau, digitale Anwendungen und vor allem der Einsatz Künstlicher Intelligenz, um Ärzt:innen von den meist ermüdenden Aufgaben zu entlasten, nannte Ehrenfeld als mögliche Maßnahmen.

In das Thema des zweiten Tages, „Gesundheitsversorgung der Zukunft – mehr Koordination der Versorgung und bessere Orientierung für Patientinnen und Patienten“, führten drei Vorträge ein. Es sprachen Prof. Dr. rer. pol. Wolfgang Greiner, Inhaber des Lehrstuhls für Gesundheitsökonomie und Gesundheitsmanagement an der Universität Bielefeld, Prof. Josef Hecken, unparteiischer Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), und Dr. med. Kirsten Kappert-Gonther, MdB, Stellvertretende Vorsitzende des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestages.

Zuvor sprach Reinhardt jedoch einleitende Worte. Die Ärzt:innen arbeiteten bekanntermaßen am absoluten Leistungslimit, die Frustration sei hoch, konstatierte er. Es fehle an Zeit, sich mit den Patient:innen zu beschäftigen. Die Rahmenbedingungen seien herausfordernd: Demografischer Wandel, Fachkräftemangel, ineffiziente Strukturen. Hinzukomme ein Anstieg der Fallzahlen. Man müsse sich daher dringend mit den Strukturen befassen und sich fragen, ob diese angemessen und richtig organisiert seien.

Was könne man für ein Angebot machen, um Redundanzen zu vermeiden, so seine rhetorische Frage. Es bräuchte eine bessere Koordination, Leitplanken müssten gestaltet und Autonomie zugelassen werden. Eine Reduktion des Workloads müsse das Ziel sein. Ein wesentlicher Aspekt sei es weiterhin, die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung zu fördern. Insgesamt müsse die Versorgung koordinierter und passgenauer werden.

Besonders Hecken sorgte mit seinem sehr unterhaltsamen Vortrag für Aufmerksamkeit. Er wies darauf hin, dass man in der gesetzlichen Krankenversicherung bereits jetzt einen historisch hohen Beitragssatz verzeichne – mit steigender Tendenz – und plädierte für mehr Versorgungssteuerung. Ohne Instrumente wie eine Selbstbeteiligung werde man bei der Patientensteuerung keine Fortschritte erzielen, merkte er an. Eine Selbstbeteiligung der Patient:innen lehnten die Abgeordneten als Steuerungsmodell allerdings deutlich ab. Beim kommenden Deutschen Ärztetag in Leipzig soll über ein Konzept für eine „sozial ausgewogene Versorgungssteuerung“ debattiert werden. Dieses Konzept soll der Vorstand der Bundesärztekammer in den nächsten Monaten erarbeiten und den Abgeordneten vorlegen.

Die Bedeutung der sozialen Ausgewogenheit hob auch ein Antrag von Dr. med. Katharina Thiede (FrAktion Gesundheit), Abgeordnete der Ärztekammer Berlin, hervor. Sie forderte, dass Gesundheitseinrichtungen und ärztliche Behandlung für alle Menschen, vor allem aber für Menschen mit geringem Einkommen und vulnerable Gruppen niederschwellig erreichbar sein müssen. Der Antrag wurde angenommen.

Die Rechte der Patient:innen hatte ebenfalls Dr. med. Christian Messer (Allianz Berliner Ärztinnen und Ärzte – MEDI Berlin – Virchowbund) im Blick, indem er Pläne für eine Verknüpfung der Befüllung der elektronischen Patientenakte (ePA) mit ökonomischen Anreizen für Ärzt:innen kritisierte. Eine solche Konfliktsituation dürfe nicht geschaffen werden. Auch dieser Antrag wurde angenommen.

128. Deutscher Ärztetag 2024

Berliner Anträge

Insgesamt wurden auf dem 128. Deutschen Ärztetag 242 Anträge inklusive Änderungsanträge gestellt. Davon wurden 107 Anträge unter Federführung, unter Beteiligung oder mit Unterstützung der Berliner Abgeordneten eingebracht.

Sämtliche Anträge können auf der Website der Bundesärztekammer abgerufen werden: https://128daet.baek.de.

Für eine bessere ärztliche Weiterbildung

Am späten Mittwochnachmittag diskutierten die Abgeordneten ausführlich über die ärztliche Weiterbildung. Wichtigste Ergebnisse der Debatten: eine Verschlankung der (Muster-)Weiterbildungsordnung (MWBO), eine Neuordnung der Zusatz-Weiterbildungen, und das eLogbuch soll benutzerfreundlicher gestaltet und evaluiert werden. Zudem soll eine sektorenübergreifende Weiterbildung ermöglicht werden, insbesondere durch eine Anpassung der Regelungen zur Arbeitnehmerüberlassung. So sollen Arbeitnehmende flexibel eingesetzt werden können, unabhängig davon, in welchem Sektor der Arbeitsvertrag entsteht.

Der Deutsche Ärztetag fordert weiterhin von der Politik, die Weiterbildung vollständig und hinreichend zu finanzieren. Die Abgeordneten folgten damit den Vorschlägen des Vorstandes der BÄK. Veelken kritisierte jedoch, dass die Antwort auf die entscheidende Frage fehle: „Die Grundsatzfrage, woher das Geld für die Finanzierung der Weiterbildung kommen soll, wird nicht diskutiert. Wir sollten hier über unseren Schatten springen und klare Forderungen formulieren.“

Die Abgeordneten forderten die Landesärztekammern auf, künftig Weiterbildungen in Teilzeit von mindestens 50 Prozent „grundsätzlich anzuerkennen, ohne dass dies eine gesonderte Genehmigung erfordert“. Dieser Antrag wurde mit großer Mehrheit angenommen. Weiterhin wurde beschlossen, dass die Bildungssystematik in der MWBO geschärft und verschlankt werden muss. „Wer von der Politik Entbürokratisierung fordert, muss diese selbst vorleben“, sagte PD Dr. med. Peter Bobbert, Präsident der Ärztekammer Berlin und Vorstandsmitglied der Bundesärztekammer. Der Ständigen Konferenz „Ärztliche Weiterbildung“ der BÄK müsse der Auftrag gegeben werden, die MWBO zu entschlacken. „Nehmen wir uns jetzt in die Pflicht“, appellierte Bobbert. Die aktuelle MWBO umfasse 465 Seiten und bilde 53 Facharztbezeichnungen ab, da sei Raum für Verschlankung.

Nach zweiter Lesung beschloss der Deutsche Ärztetag zudem den Antrag „Qualifizierung von Weiterbildungsbefugten“ von Friederike Bennett (Allianz Berliner Ärztinnen und Ärzte – MEDI Berlin – Virchowbund), Abgeordnete der Ärztekammer Berlin, nachdem dieser zunächst abgelehnt worden war. Im Antrag heißt es: „Der 128. Deutsche Ärztetag 2024 fordert die Landesärztekammern auf, alle Weiterbildungsbefugten zur Teilnahme an einem Seminar zur formalen und medizindidaktischen Fortbildung bezüglich der ärztlichen Weiterbildung zum nächstmöglichen Zeitpunkt zu verpflichten (Stichwort „Train the Trainer“).“ Auch der Antrag „Ärztliche Weiterbildung – Quotierung wird abgelehnt“ von Dr. med. Regine Held (Allianz Berliner Ärztinnen und Ärzte – MEDI Berlin – Virchowbund) wurde beschlossen. Begründet wurde dieser damit, dass die freie und selbstbestimmte Berufsausübung von Beginn der Weiterbildungsphase bis nach Erlangen der Facharztanerkennung zum Wesen des Berufes gehöre.

Mehr Unabhängigkeit mit neuer (Muster-)Fortbildungsordnung

Die Unabhängigkeit der ärztlichen Entscheidung ist ein hohes Gut. Mit dem Beschluss einer Neufassung der (Muster-)Fortbildungsordnung (MFBO) wurde diesem Umstand am Donnerstag besonders Rechnung getragen. Damit sollen künftig strengere Regelungen für das Sponsoring von Fortbildungsveranstaltungen gelten. Unter anderem würden bei den Kriterien für die Anerkennung ärztlicher Fortbildungsmaßnahmen die Gebote von Neutralität, Transparenz und Unabhängigkeit stärker zum Tragen kommen. Die Rahmenbedingungen für die Durchführung und Anerkennung von Fortbildungen und die Strukturen in der Fortbildungslandschaft hätten sich seit der Einführung der MFBO 2004 und der letzten Aktualisierung 2013 deutlich verändert, heißt es in dem Beschluss. Zudem habe sich gezeigt, dass die bisherige Fassung der MFBO nicht mehr ausreiche, um dauerhaft die „Neutralität und Transparenz von Fortbildungen im notwendigen Umfang“ sicherzustellen.

In der MFBO heißt es nun konkret: „Die Fortbildungsmaßnahme muss die Unabhängigkeit ärztlicher Entscheidungen wahren und diese darf nicht zugunsten wirtschaftlicher Interessen beeinflusst werden. Dies setzt insbesondere voraus, dass die Fortbildungsmaßnahme weder direkt noch indirekt darauf abzielt oder in Kauf nimmt, medizinische Entscheidungen der Teilnehmenden aufgrund wirtschaftlicher Interessen der Anbietenden, Mitwirkenden oder Dritter zu beeinflussen.“

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Änderung der Satzung der BÄK und der Geschäftsordnung der Deutschen Ärztetage

Die von der Bundesärztekammer vorgesehene Einführung einer Frist zur Antragstellung zum Deutschen Ärztetag stieß bei vielen Abgeordneten auf Unverständnis – auch bei den Berliner Abgeordneten. Vorgesehen war eine Frist, die zwei Tage vor Beginn des DÄT um 18 Uhr enden sollte. Von dieser Maßnahme erhoffte man sich zum einen die Reduzierung der Anträge und wollte zum anderen erreichen, dass sich die Abgeordneten strukturierter und eingängiger mit den Anträgen auseinandersetzen können. Nach einer intensiven Kontroverse wurde der Antrag „Keine Antragsfrist für Anträge auf Deutschen Ärztetagen“ von Veelken, Thiede und Matthias Marschner (FrAktion Gesundheit) mehrheitlich angenommen und eine Antragsfrist damit abgewendet.

Zudem hat der Deutsche Ärztetag mit einem Antrag des Berliner Abgeordneten Marschner und weiterer Unterstützer:innen die Bundesärztekammer aufgefordert, in ihrer Satzung und ihrer Geschäftsordnung künftig gendersensible Formulierungen zu verwenden, statt wie bisher ausschließlich die männliche Form. „Der 128. Deutsche Ärztetag 2024 nimmt mit Bedauern zur Kenntnis, dass in der Satzung der Bundesärztekammer weiterhin nur das generische Maskulinum verwendet wird“, heißt es in dem eingebrachten Beschlussantrag. „Es darf kein Mensch – gleich welcher Geschlechtsidentität – sprachlich ausgegrenzt werden“, betonten die Antragstellenden.

Dem Vorstand der Bundesärztekammer wurde von den Abgeordneten aufgetragen, mögliche Änderungen der Organisation zukünftiger Ärztetage zu erörtern. Insbesondere der Vorschlag einer Verkürzung des Plenums wurde kontrovers diskutiert.

Letzter Tag: Ethische Debatten und eine Forderung zur gesetzlichen Verankerung der Suizidprävention

Teils emotional wurde am letzten Tag über das Thema Schwangerschaftsabbruch debattiert. Vor dem Hintergrund der jüngsten Empfehlung der Expertenkommission der Bundesregierung, eine Liberalisierung des Abtreibungsrechtes vorzunehmen, wurden medizinethische Aspekte, vor allem aber auch eine immer noch bestehende Diskriminierung von betroffenen Frauen sowie Ärzt:innen, die Abbrüche durchführen, diskutiert. Zu diesem Thema wurden mehrere Anträge gestellt. Einige wollen an dem Verbot festhalten, andere fordern eine rasche Legalisierung. Eine ausführliche Debatte soll es im nächsten Jahr auf dem 129. Deutschen Ärztetag in Leipzig geben.

Die Suizidprävention muss dringend gesetzlich verankert werden – dies forderten zwei Anträge von Berliner Abgeordneten, die zur weiteren Befassung an den Vorstand der Bundesärztekammer überwiesen wurden. Demnach müsse die Bundesregierung den Auftrag des Bundestages umsetzen und einen Gesetzentwurf zur Suizidprävention vorlegen. Die Suizidprävention in Deutschland müsse auch auf eine dauerhaft finanziell verlässliche Grundlage gestellt werden. Außerdem bekräftigen die Berliner Abgeordneten nochmals, dass die Mitwirkung bei der Selbsttötung (assistierter Suizid) grundsätzlich keine ärztliche Aufgabe sei.

Die Berliner Abgeordneten beteiligten sich auch in diesem Jahr rege an den Debatten des Deutschen Ärztetages, setzten mit insgesamt 107 Anträgen, inklusive Änderungsanträgen, viele Themen und bezogen Position. Lediglich 4 Anträge wurden abgelehnt, mit 8 Anträgen wurde sich nicht befasst, 3 Anträge sind entfallen und 30 Anträge wurden an den Vorstand der Bundesärztekammer überwiesen. 62 Anträge aus Berlin wurden angenommen. In bewegten gesundheitspolitischen Zeiten war Berlin mit einer starken und geeinten ärztlichen Stimme am Deutschen Ärztetag in Mainz vertreten.

Mehr zum Thema

Und wie realistisch ist es, dass sich ihre Wünsche etwa zu Weiterbildungsregelzeiten oder zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf erfüllen? Darüber wurde im Dialogforum der Bundesärztekammer im Rahmen des 128. Ärztetages 2024 in Mainz diskutiert – und zwar erfreulich aufrichtig.

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