„Für uns sind die ‚Babylotsen‘ Teil des medizinischen Gesundheitssystems“

Seit Ende 2019 gibt es in allen Berliner Geburtsstationen Babylots:innen. Die Mitarbeitenden informieren und beraten werdende Mütter und Väter über Angebote und Unterstützungsmöglichkeiten rund um die Geburt ihres Kindes. Initiiert wurde das Präventionsprogramm 2012 mit dem Projekt „Babylotse“ der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Die Ärztin und Wissenschaftsjournalistin Heike Grosse hat für uns mit der Koordinatorin des Babylotsen-Programms an der Charité, Dr. med. Christine Klapp, gesprochen. Sie ist seit dem Start des Projektes im Jahr 2012 dabei und betreut es bis heute.

Dr. med. Christiane Klapp
Interview mit
Dr. med. Christine Klapp

Koordinatorin Programm Babylotse Charité

Foto: Thomas Meyer, OSTKREUZ / Ärztekammer Berlin
Babylotsin im Gespräch mit Eltern

Mira Wilkendorf bietet als Babylotsin Eltern, die das möchten, eine individuelle, auf ihren Bedarf ausgerichtete Unterstützung an.

Redaktion: Frau Dr. Klapp, Sie haben das Babylotsen-Projekt der Charité von Anfang an betreut. Was sind typische Situationen, in denen Frauen von den Babylotsinnen betreut werden?

Dr. med. Christine Klapp: Eine Frau meldet sich etwa in der 27. Schwangerschaftswoche in einer Klinik zur Geburt an. Eine Hebamme oder eine Ärztin bzw. ein Arzt erfährt über den sogenannten Anhaltsbogen, dass die Frau alleinerziehend sein wird und Geldsorgen hat, also dass es schwerwiegende Belastungen geben wird. Die Hebamme oder die Ärztin bzw. der Arzt informiert die „Babylotsen“, die dann umgehend Kontakt zu der Schwangeren aufnehmen. Vor dem Einsatz von Babylotsinnen ist der Unterstützungsbedarf von Müttern eher zufällig aufgefallen. Das konnte etwa von einer Wochenbettschwester abhängen, die beispielsweise gesehen hat, dass eine junge Mutter keinen Besuch bekommt und häufig weint. Im besten Fall hatte diese Schwester Zeit nachzufragen und gab eventuell eigene Empfehlungen oder informierte den Sozialdienst. Im Gegensatz dazu erfahren wir heute früh durch die systematischen und gut akzeptierten Fragen des Anhaltsbogens von Belastungen und Sorgen. So können wir – hoffentlich rechtzeitig – Probleme erkennen und Hilfen vermitteln.

Was erfasst der Anhaltsbogen?

Das ist ein Screeningwerkzeug zur Anamnese mit 24 Fragen zur Geburt, zum Kind, zur Situation der Mutter und ihrem Umfeld. Hat die Mutter mehr als drei Score-Punkte, wird sie spätestens auf der Wochenstation von unseren Babylotsinnen besucht, die ihr ein Gespräch und Hilfe anbieten. Mütter und Väter können sich aber auch ohne erkennbaren Anlass einen BabylotsinnenBesuch wünschen.

Was können Babylotsinnen bewirken?

Sie sind als Antwort auf die Frage entstanden, wie und wann man Überlastungen der Eltern rechtzeitig erkennen, abfangen und mildern kann, damit es nicht zu einer Überforderung kommt, die in einer Kindeswohlgefährdung enden kann. Wir gehen von der positiven Annahme aus, dass alle Eltern gute Eltern sein wollen und machen ihnen klar: „Dabei können wir euch helfen.“

Wie wird das Projekt von den Eltern angenommen?

Sehr gut. Das liegt sicher daran, dass wir die Eltern in einer Zeit betreuen, in der sie sehr offen für Hilfen sind. Die Babylotsinnen gehören bei uns zum medizinischen System und sind im Krankenhaus angestellt. Deshalb werden sie als Teil des Geburtshilfeteams wahrgenommen. Sie unterstehen damit natürlich dem Datenschutz der Klinik und können auch „schwierige“ Fragen stellen. Außerdem sind die Hilfen sehr niedrigschwellig. Seit drei Jahren haben die Babylotsinnen etwa die Möglichkeit, „Welcome-Baby-Bags“ für das neugeborene Kind zu verschenken, wenn der Kindsmutter das Geld dafür fehlt – das ist ein Projekt des Ökumenischen Frauenzentrums Evas Arche e. V.

Sie haben das Projekt 2010 an der Charité initiiert und leiten es dort seit 2012, es ist sozusagen Ihr „Baby“. Wie hat alles angefangen?

Unsere interne Arbeitsgruppe aus Elternberatung, Sozialdienst, Seelsorge, Geburtsmedizin, Psychosomatik und Hebammen hat sich schon seit 1995 regelmäßig über sichtbar belastete Familien ausgetauscht. Dabei wurde uns klar, wie wenig wir über das Umfeld der neugeborenen Kinder und ihre Familien wissen – dass also viele Sorgen unerkannt bleiben. Mangels Personal konnten wir uns diesen Sorgen aber nur punktuell widmen.

2010 hörte eine unserer Mitarbeitenden von einem Projekt der Stiftung SeeYou in Hamburg, das unseren Vorstellungen sehr nahekam und wir waren uns sofort einig: „Da fahren wir hin!“ Wir haben uns dann das Hamburger Babylotsen-Programm vor Ort angesehen und dessen Initiator, den Kinderarzt Dr. med. Sönke Siefert, in die Charité eingeladen. Siefert hat das Projekt 2007 im Rahmen der ‚Frühen Hilfen‘ entwickelt. Seine Idee war es, Sozialarbeiter:innen und Hebammen so zu schulen, dass sie Frauen mit neugeborenen Kindern niedrigschwellige Hilfen vermitteln können und so eine Überforderung bei den Frauen und eine eventuell folgende Kindeswohlgefährdung vermeiden.

Wir waren von dem Projekt sofort begeistert – vor allem mussten wir es nicht neu erfinden! Stattdessen haben wir eine enge Kooperation aufgebaut und konnten zwei Jahre später als erstes Berliner Krankenhaus für 30 Wochenstunden eine Babylotsin auf unserer Geburtsstation einsetzen. Den Einsatz konnten wir wissenschaftlich auswerten und die Ergebnisse waren sehr positiv.

Nach und nach haben sich fünf weitere Geburtskliniken angeschlossen, die bereits auf einem ähnlichen Weg waren. Gemeinsam haben wir das Interesse und die Unterstützung der Senatsverwaltung gewonnen. Ende 2018 waren dann alle Berliner Geburtskliniken an Bord und die „Babylotsen“ wurden zum „Landesprogramm“.

Wo steht das Projekt heute?

Mittlerweile haben wir allein an der Charité sieben Babylotsinnen in Teilzeit, drei am Campus Mitte und vier im VirchowKlinikum. Deren Arbeit werten wir weiterhin wissenschaftlich aus. Um die Organisation, Evaluation und Weiterentwicklung des Berliner Babylotsenprogrammes kümmert sich seit fünf Jahren eine Steuerungsgruppe der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesundheit, Pflege und Gleichstellung (Sen WGPG). Dabei hat vor allem Detlef Kolbow, Referent für Kinderschutz des Berliner Senats, sehr viel getan, damit die „Babylotsen“ hoffentlich bald fest im Berliner Haushalt verankert sind. Er kümmert sich seit 2018 federführend um die Finanzierung und hat zudem einen Gesetzentwurf vorbereitet, der dieses Jahr abgestimmt werden soll. Wird der Entwurf abgesegnet, dann wären die „Babylotsen“ Teil der Berliner Regelversorgung und dementsprechend unabhängig von den gewählten Entscheidungsträger:innen im Senat.

Information

Das Projekt

Die Babylots:innen informieren werdende Mütter und Väter über hilfreiche Angebote rund um die Geburt ihres Kindes. Sie stehen den Eltern kurz vor und in der ersten Zeit nach der Geburt mit hilfreichen Hinweisen zur Seite, beraten bei Fragen und vermitteln konkrete Hilfe, wenn sie gebraucht wird. 

Mehr Informationen zum Projekt „Babylotse Berlin“ erhalten Sie über die Website der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesundheit, Pflege und Gleichstellung unter „Babylotse Berlin“.

Sie haben mit diesem Projekt also offene Türen eingerannt?

Die Idee selbst fanden alle prinzipiell gut, allerdings sahen die meisten auch die Mehrarbeit, die mit dem Anhaltsbogen auf sie zukommen würde. Dr. med. Matthias Brockstedt, damaliger Ärztlicher Leiter des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes (KJGD) beim Bezirksamt Mitte meinte etwa: ‚Bloß keinen neuen Dienst.‘ Wir konnten aber schnell zeigen, dass die Babylotsenarbeit das Puzzleteil war, das noch gefehlt hat – als Brücke zwischen vorhandenen Diensten und den Menschen mit bislang unerkanntem Bedarf und Hilfeanspruch. Deshalb hat er sich dann sehr für uns eingesetzt und heute ist der KJGD einer unserer wichtigsten Kooperationspartner. Inzwischen spürt das ganze medizinische Team, wie sehr es durch die Babylotsinnen entlastet wird. Jetzt sagen schon die jüngeren Ärztinnen und Ärzte ganz selbstverständlich: „Da müssen wir mal die Babylotsinnen hinschicken“, wenn sie bei einer Mutter Zeichen der Überforderung wahrnehmen.

Was ist noch ausbaufähig?

Die Screening-Rate, also die Anzahl der Frauen, die wir mit dem Anhaltsbogen befragen, müsste noch höher werden – im Moment liegt sie bei 92 Prozent. Außerdem muss der Kontakt mit gynäkologischen und pädiatrischen Praxen intensiviert werden, um die Familien besser erreichen zu können. Es gibt immer noch Ärzt:innen, die unser Projekt nicht kennen!

Woran liegt das?

Ich glaube, viele Ärzt:innen erkennen die Frühen Hilfen noch nicht als Beitrag zum gesunden Aufwachsen und in der Mitverantwortung der Medizin. Aber für uns sind die ‚Babylotsen‘ Teil des medizinischen Gesundheitssystems und entlasten auch das Personal.

Was könnte helfen, diese Information in die Praxen zu bringen?

In Berlin-Mitte haben wir voriges Jahr ein Pilotprojekt in Kooperation mit dem Bezirksamt gestartet, das genau diese Schnittstelle bedienen soll: die „Familienlotsen Mitte“. Dabei sind wir bis 2025 in drei gynäkologischen und zwei Kinderarztpraxen aktiv und evaluieren Akzeptanz und Wirkung. Wir haben die Medizinischen Fachangestellten (MFA) dieser Praxen geschult, damit sie mit betreffenden Patientinnen einen Anamnesebogen ausfüllen und wenn sich Anhaltspunkte von Überforderung zeigen, sofort zu Institutionen der Frühen Hilfen oder Familienlotsen vermitteln können. Ein ähnliches Projekt gibt es auch in Spandau.

Wenn Sie sich drei Dinge für die „Babylotsen“ wünschen dürften, welche wären das?

Ich würde mir wünschen, dass alle Lotsendienste für Mütter deutschlandweit in die Regelversorgung aufgenommen werden. Dass es also in allen Geburtskliniken Deutschlands ein Team mit sozialpädagogischem Hintergrund gibt, das sich um die Probleme der Mütter kümmert. Dann wäre es toll, wenn mehr Ärztinnen und Ärzte über das Programm Bescheid wüssten und zuletzt, dass wir solche Lotsendienste auch im ambulanten Bereich implementieren können. 

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