Es ist schon ein irritierender Anblick an einem sonnigen Februarvormittag in den DRK Kliniken Berlin Westend. Zumindest nicht gerade das, womit man in einem Krankenhaus rechnet. Auf dem Parkettboden liegt eine Frau. Eine andere sitzt auf ihr, beide Arme zum Halsansatz ihres „Opfers“ hin ausgestreckt, gleich wird sie sie würgen. Hinter ihr steht ein kräftiger, durchtrainierter Mann. Doch anstatt einzugreifen und zu helfen, feuert er die Unterlegene an: „Nicht aufgeben, mach’ zu Ende!“
Der Mann ist Danièl Lautenschlag, Deeskalationstrainer und ehemaliger Kampfsportler. Mit „Mach’ zu Ende!“ meint der 47-Jährige, dass die Frau, die auf dem Boden liegt, nicht aufgeben soll. Sie soll sich weiter wehren, ihre Angreiferin von sich wegstoßen und sich aus der liegenden Position befreien. Das ist eine von vielen Übungen des heutigen Moduls und Teil eines Deeskalationstrainings für den Ernstfall: Wenn nämlich der Würgegriff nicht von der netten Kollegin simuliert wird, sondern ein Patient oder eine Angehörige angreift und man, bevor man noch richtig begreift, was passiert, schon auf dem Rücken liegt.
Das Thema Gewalt gegen medizinisches Personal rückt immer wieder in den Fokus der Öffentlichkeit. Vor allem bei besonders schweren Vorfällen, wie jenem in der Silvesternacht 2023 im Sana Klinikum Lichtenberg. Videoaufnahmen der Überwachungskamera zeigen, wie drei junge Männer auf einen Arzt und einen Pfleger einschlagen. Der Chirurg erleidet eine blutende Platzwunde am Auge, der Pfleger eine Gehirnerschütterung. Dennoch setzen beide Opfer ihren Dienst fort.
Zahl der Übergriffe steigt stetig
In seiner Brutalität ist der Vorfall im Sana Klinikum eher eine Ausnahme. Dennoch gehört das Phänomen der verbalen und körperlichen Gewalt gegen medizinisches Personal mittlerweile zum traurigen Alltag vieler Beschäftigter im Gesundheitswesen. Auch wenn es keine bundesweite oder systematische Erfassung von gewalttätigen Vorfällen innerhalb der deutschen Gesundheitsversorgung gibt, deuten mehrere Untersuchungen darauf hin, dass das Problem in den vergangenen Jahren zugenommen hat. So gaben in einer Umfrage des Deutschen Krankenhausinstitutes (DKI) 73 Prozent der teilnehmenden Kliniken an, dass die Zahl der Übergriffe in ihren Häusern in den vergangenen fünf Jahren mäßig (53 Prozent) oder deutlich (20 Prozent) gestiegen sei. An der repräsentativen Befragung im Frühjahr 2024 nahmen bundesweit 250 Allgemeinkrankenhäuser mit einer Kapazität ab 100 Betten teil.
Ähnlich alarmierende Ergebnisse lieferte eine Befragung von Praxispersonal durch die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) im Sommer 2024. Über 7.500 Beschäftigte der ambulanten Versorgung beteiligten sich, knapp die Hälfte davon waren niedergelassene Ärzt:innen. Der überwiegende Teil, vier von fünf (82 Prozent) der Ärzt:innen, Psychotherapeut: innen und Praxisangestellten, gaben an, schon einmal verbale Gewalt erlebt zu haben. Auch körperliche Gewalt ist längst keine Seltenheit mehr. Rund 40 Prozent der Befragten gaben an, in den vergangenen Jahren selbst schon einmal körperliche Gewalt bei der Ausübung ihrer Tätigkeit erlebt zu haben. Die Fälle reichten von Tritten gegen das Schienbein, Schubsen und Spucken bis hin zu schweren Angriffen.
„Ablenken und nicht aufhören zu kämpfen“
Genau solch einen schweren Angriff üben die zehn Mitarbeitenden mit Lautenschlag und seinem Kollegen Mathias Lemke. Lemke ist Mitarbeiter des Betrieblichen Gesundheitsmanagements bei den DRK Kliniken Berlin und ebenfalls ausgebildeter Deeskalationstrainer. Verbale Trainings und ein ganzheitliches Konzept zum Thema Deeskalation gibt es bei den DRK Kliniken Berlin bereits seit mehreren Jahren. Seit September 2024 bietet der Krankenhausträger als Erweiterung zu diesen Trainings auch Kurse zur körperlichen Deeskalation an. Ziel ist es dabei, körperliche Übergriffe so abzuwehren, dass alle Beteiligten sowohl physisch als auch psychisch möglichst unversehrt bleiben. Für die Gruppe ist es das sechste von insgesamt zwölf Modulen. Damit die Teilnehmenden das Gelernte im Ernstfall direkt abrufen können, ist regelmäßiges Üben wichtig: Ein Jahr lang absolvieren sie jeden Monat ein dreistündiges Training. Die Teilnahme gilt als Arbeitszeit und wird in den Dienstplänen der Beschäftigten berücksichtigt.
Lemke hat selbst viele Jahre als Pfleger in der Akutpsychiatrie gearbeitet. Er weiß also, wovon er spricht, wenn er sagt: „Zunächst geht es darum, die Angst vor dem Boden zu nehmen. Viele denken, dass alles vorbei ist, sobald sie auf dem Rücken liegen.“ Bei den Übungen mit Lemke und Lautenschlag ist die körperliche Anstrengung spürbar. Immer wieder ringen die Frauen im Zweikampf miteinander. Ab und zu hallt ein Lachen durch den Raum.
Der Kern des Trainings betrifft jedoch den Kopf, wie Lautenschlag erklärt: „Wir vermitteln keine konkreten Techniken oder Abläufe. An auswendig Gelerntes kann man sich in Stresssituationen ohnehin nicht erinnern, geschweige denn es abrufen. Vielmehr lernen die Teilnehmenden, ein Gefühl zu entwickeln und dieses dann mit einem Verständnis der Situation zu verknüpfen. Das macht sie handlungsfähig und sie können sich an jede Situation anpassen.“ In Extremsituationen, so Lautenschlag, seien zunächst viele Mittel recht: „Ablenken und nicht aufhören zu kämpfen“ ist das Konzept. Dabei muss immer die konkrete Situation berücksichtigt und die Verhältnismäßigkeit gewahrt werden. Wichtig ist, dass die Teilnehmenden lernen und verinnerlichen, dass sie nicht per se Opfer sind, sondern durchaus eigene Handlungsspielräume haben.
Welche Möglichkeiten habe ich hier realistischerweise? Grundsätzlich rate ich immer dazu, Abstand zu halten und sich in sehr aufgeschaukelten Situationen eher auf Fluchtwege zu fokussieren.
„Die Lösung ist nie körperlich!“
Der Großteil des Personals in den Krankenhäusern ist mittlerweile weiblich. Bei den Pflegekräften sind es sogar 82 Prozent. Die Täter wiederum sind fast ausnahmslos männlich. Die Frauen sind ihnen körperlich meist unterlegen. Sie können diesen Nachteil aber durch Geschick und Wissen ausgleichen. Ein Grund, warum Lautenschlag und Lemke in dem Training immer wieder rufen: „Es darf nicht zum Kräftemessen kommen. Die Lösung ist nie körperlich!“
Genau, vielmehr sollte die Lösung im Gespräch liegen. Dieser Gedanke drängt sich nach Lautenschlags Ausruf unweigerlich auf. „Verbale Deeskalationsstrategien sind Teil des Trainings und wurden bereits in früheren Modulen geübt“, antwortet Lautenschlag. Die Teilnehmenden sollen jedoch lernen, gefährliche Situationen frühzeitig zu erkennen, um somit schon vor einer Eskalation kommunikativ intervenieren zu können. Also bevor eine Deeskalation notwendig wird. Sollte es dann doch dazu kommen, dass deeskaliert werden muss, profitiert man durch das körperliche Training – also durch das eigene Können, weil man ruhiger und souveräner agieren kann. Man weiß, dass man im Ernstfall noch einen Plan B hat und somit nicht der „Gutmütigkeit“ des Gegenübers ausgeliefert ist. Das frühzeitige Erkennen einer Gefahrensituation bietet auch die Möglichkeit, im Vorfeld die nötige Distanz zu gewinnen oder Kolleg:innen hinzuzuziehen.
Schmaler Grat: Deeskalation oder Selbstgefährdung
Egal wie heftig ein Konflikt ist, meist spielt die Kommunikation eine entscheidende Rolle. Diese ist aber im Arbeitsalltag mit Patient:innen oft eingeschränkt. Beispielsweise durch eine Sprachbarriere oder aufgrund einer Intoxikation. Da kann der Grat zwischen Deeskalation und Selbstgefährdung schnell schmal werden. Für Lautenschlag fängt Deeskalation folglich bei der Wahrnehmung an: „Welche Möglichkeiten habe ich hier realistischerweise? Grundsätzlich rate ich immer dazu, Abstand zu halten und sich in sehr aufgeschaukelten Situationen eher auf Fluchtwege zu fokussieren.“ Die ungewohnt brachialen Übungen im aktuellen Modul sind also nicht als Intervention gedacht, sondern als Hilfe, wenn es um echte Notwehr geht. Konkret etwa bei sexuell motivierten Übergriffen. Diese ereignen sich aber eher auf dem Weg zur Arbeit, so Lautenschlag. Der Umgang mit solchen Situationen ist zwar Teil der Ausbildung, müsse aber eigentlich losgelöst vom Klinikalltag betrachtet werden.
Kommt es zu einem schweren Übergriff, kann das Auslösen von Schmerzen die Lösung sein. Neue Übung: eine Art Schwitzkasten. Lemke nimmt die Hand einer Teilnehmerin und legt sie sich aufs Gesicht, um ihr in Zeitlupe zu zeigen, was sie besser machen kann: „Drück mir die Hand auf die Nase, das tut mehr weh, und guck’ mal hier, wenn du sie mir auf die Wange legst, hast du mehr Hebelkraft“. Körperliche Deeskalation ist immer eine Frage der Verhältnismäßigkeit. Je nach Bedrohungslage können und müssen unterschiedliche Maßnahmen ergriffen werden. Aber Anleitungen, um anderen weh zu tun sind ziemlich paradox für Menschen, die ihr Leben einem Beruf widmen, der genau das Gegenteil zum Ziel hat: Schmerzen zu lindern, zu versorgen und zu trösten.
Eindrücke von einem Deeskalationstraining
Die Möglichkeiten kennen
Deshalb waren für Maika Hassan-Beik die körperlichen Übungen im Zweikampf am Anfang gewöhnungsbedürftig. Die 37-Jährige arbeitet als Kunsttherapeutin im Familienhaus Spandau, einer Einrichtung der Kinder- und Jugendpsychiatrie und ist eine von zehn Teilnehmenden des Deeseskalationstrainings. Sie hat im Laufe der Zeit gelernt, dass es vor allem darum geht, handlungsfähig zu sein. Auch in Situationen, die zunächst ausweglos oder sehr gefährlich erscheinen. „Was wir hier lernen, ist, uns nicht in falscher Sicherheit zu wiegen, sondern einfach zu wissen, welche Möglichkeiten es gibt,“ erklärt Hassan-Beik und betont, dass die Techniken und die körperlichen Übungen des Deeskalationstrainings nicht für die Anwendung am Kind gedacht sind.
Als Kunsttherapeutin hatte Hassan-Beik einen solchen Kurs für sich zunächst gar nicht in Erwägung gezogen: „In meinem Arbeitsraum gibt es kaum Eskalationen. Die Kinder kommen gerne, um Kunst zu machen.“ Doch dann passierte etwas. Ein Kind wurde plötzlich aggressiv und warf mit einem Stuhl. „Ich bin eingefroren, weil das für mich so überraschend passierte. Also genau das, was wir hier üben, was nicht passieren sollte.“ Hassan-Beiks Vorgesetzter fragte sie daraufhin, ob sie das Training mit Lautenschlag vielleicht ausprobieren wolle. „Er hat total gut erkannt, dass mich die Angst zu sehr lähmte“, erinnert sie sich.
Alkohol, Drogen und psychiatrische Erkrankungen
Das Problem der verbalen und körperlichen Gewalt gegen Beschäftigte einer Einrichtung findet nicht exklusiv im Gesundheitswesen statt. Das zeigt eine Untersuchung der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung e.V. (DGUV). Dort berichteten Mitarbeitende aus der Verwaltung ähnlich häufig, nämlich mehr als die Hälfte der Befragten, Erfahrungen von verbaler Gewalt. Auffällig ist in dieser Untersuchung jedoch, dass bei körperlicher Gewalt die Beschäftigten im medizinischen Bereich einen deutlichen Abstand zu anderen Berufsfeldern haben und einen einsamen Spitzenplatz belegen: 21 Prozent gaben an, körperliche Übergriffe durch betriebsfremde Personen erlebt zu haben.
Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass sich dies auch im Krankenhaus zeigt. Die Kursteilnehmer:innen kommen aus den unterschiedlichsten Arbeitsfeldern, ein besonderes Augenmerk liegt aber auf den Hochrisikobereichen. Konkret sind das die Rettungsstellen, die Intensiv- und Überwachungsstationen und psychiatrische Einrichtungen.
Dort trifft das medizinische Personal besonders häufig auf Menschen, die beispielsweise aufgrund einer Demenz oder einer psychotischen Erkrankung desorientiert und eher gewaltbereit sind. In die Notaufnahme kommen Menschen, die nicht selten unter starken Schmerzen und Ängsten leiden, verunsichert sind und sich daher in einer emotionalen Ausnahmesituation befinden. Und dann sind da nicht zuletzt die vielfältigen Intoxikationen: sei es durch Medikamente oder Drogen, vor allem aber durch Alkohol. Eine Untersuchung der amerikanischen Emergency Nurses Association (ENA) hat ergeben, dass etwas mehr als die Hälfte der physischen Übergriffe auf Notaufnahmepersonal von Patient:innen unter Alkoholeinfluss verübt wurde. Auch im Fall des Sana Klinikums Lichtenberg war einer der Angreifer stark alkoholisiert, der andere stand unter dem Einfluss von Cannabis.
Lange Wartezeiten, schlechte Kommunikation und Personalmangel
Nichts davon rechtfertigt verbale oder körperliche Übergriffe, aber es begünstigt sie, was die höheren Fallzahlen in der Medizin im Vergleich zu anderen Berufsfeldern erklären dürfte. Auf die Frage, was Auslöser für die Gewalt sein könnte, und warum das Problem zunimmt, geben in den Umfragen sowohl Kliniken als auch Praxispersonal neben naheliegenden Ursachen wie Alkohol eher pauschale Einschätzungen wie „allgemeiner Respektverlust gegenüber dem Krankenhauspersonal“ an.
Aber lässt sich das wirklich bestätigen? Die Kliniken und Praxen zählten in den Umfragen durchaus auch Faktoren innerhalb des Gesundheitssystems auf. In der DKI-Umfrage nannten beispielsweise 40 Prozent der Kliniken lange Wartezeiten als eine der Hauptursachen. Unkoordiniertes Warten, das heißt ohne Zwischenkontakte zum Personal oder ohne konkrete Zeitplanung und Behandlungsperspektive ist beispielsweise nachweislich ein relevanter Risikofaktor für gewalttätige Ausschreitungen. Daher verwundert es nicht, dass sich viele Vorfälle in Wartezimmern ereignen.
Wie sieht es im Ausland aus?
Gewalt gegen medizinisches Personal ist ein weltweites Phänomen. Bemerkenswerterweise scheinen auch die Ursachen identisch zu sein und das sogar unabhängig davon, ob in dem Land Krieg oder Frieden herrscht: Patient:innen, die an einer psychiatrischen Erkrankung leiden oder unter Alkohol- bzw. Drogeneinfluss stehen, lange Wartezeiten ohne ausreichende Kommunikation mit den Wartenden sowie Überlastung des Personals durch Unterbesetzung oder ein zu hohes Patientenaufkommen.
Der 12. März wurde im Jahr 2019 auf Initiative der Spanischen Ärztekammer von der europäischen Vereinigung der Ärztekammern (Conseil Européen des Ordres Médicaux, CEOM) zum Europäischen Aktionstag gegen Gewalt im Gesundheitswesen (European Day against Violence in Healthcare) erklärt und erstmals in Madrid begangen. Dieser Tag soll den nationalen Ärztekammern die Möglichkeit geben, ihre Erfahrungen und Daten vorzustellen und sich auszutauschen, um Strategien zu entwickeln. Die Bundesärztekammer hat den diesjährigen Aktionstag zum Anlass genommen, erneut einen besseren Schutz von Ärztinnen und Ärzten vor Gewalt im Zuge ihrer Berufsausübung zu fordern: „Vor allem aber muss der Staat seinem Schutzauftrag für die Beschäftigten im Gesundheitswesen nachkommen. Angriffe auf Ärzte in Kliniken und Praxen, auf Rettungskräfte und Feuerwehrleute müssen in der Praxis schärfer bestraft werden. Gewaltdelikte müssen konsequent und unmittelbar verfolgt und geahndet werden“, forderte Bundesärztekammer-Präsident Dr. med. Klaus Reinhardt vor dem Aktionstag.
Wie ein Brandbeschleuniger auf das System
Warten mussten Patient:innen aber schon immer. Warum scheinen die Menschen ausgerechnet in den vergangenen Jahren immer weniger Geduld zu haben, und zwar weltweit? Es gibt Hinweise, dass dies mit der COVID-19-Pandemie zusammenhängt. Fast überall auf der Welt hatten Patient:innen in dieser Zeit das Gefühl, Bittsteller:innen zu sein. In Deutschland beispielsweise bei der Vergabe von Impfterminen. Viele bekamen für ihre älteren und kranken Angehörigen keinen zeitnahen Termin und hingen wochenlang in den Warteschleifen der Vergabezentrale.
Nicht nur elektive Operationen wurden über Monate immer wieder verschoben, sondern auch solche, die für die Patient: innen mit enormer Angst und Stress einhergehen, etwa Tumorresektionen. Hinzu kommen der Praxisschwund auf dem Land und die langen Wartezeiten für Kassenpatient:innen auf eine fachärztliche Untersuchung. All das führt zu enormer Frustration. Gleichzeitig hat die COVID-19-Pandemie zu einer noch nie dagewesenen Überlastung des Personals geführt – ohne Aussicht auf eine zeitnahe Erholung. Auf diese Erschöpfung trifft nun der jahrelang aufgestaute Frust, und zwar von beiden Seiten. Nicht selten begegnen Erkrankte in einem Ausnahmezustand Helfenden, die ebenfalls in einer emotionalen Not sind.
Deeskalationstrainer Lautenschlag kennt die Herausforderungen, mit denen Menschen im Gesundheitswesen konfrontiert sind. Er beschreibt eine Dynamik, die oft zu beobachten ist: „Der Umgangston mit den Patient:innen kann aufgrund des anhaltenden Stresses der Klinikangestellten manchmal etwas distanziert sein. In solchen Momenten haben dann manche Patient:innen das Gefühl, dass ihre Ängste nicht ausreichend ernst genommen werden, was die Situation eskalieren lassen kann.“ Die Pandemie hat diese Problematik zusätzlich verstärkt und wirkt wie ein Brandbeschleuniger auf ein System, das sowohl die Beschäftigten als auch die Hilfesuchenden seit Jahren belastet.
Patientenleitsysteme könnten Abhilfe schaffen
Es gibt jedoch Maßnahmen, mit denen sich das Feuer zumindest stellenweise eindämmen ließe. Neben Selbstverständlichkeiten, die von den Beschäftigten schon lange gefordert werden, beispielsweise bessere Personalschlüssel in den Krankenhäusern, ist die sogenannte Patientensteuerung ein Hoffnungsträger. Hinter dem etwas bürokratischen Begriff verbergen sich verschiedene Strukturen, die den Patient: innen wie eine Art Leuchtturm Orientierung geben und ihnen helfen sollen, schnell an der richtigen Stelle zu landen.
Der Wirtschaftswissenschaftler Adrian Schmidt hat im Rahmen seiner Dissertation verschiedene Versorgungsansätze und -strukturen im In- und Ausland untersucht und verglichen. „Was die Organisation und das Management von Patienten angeht, ist in Deutschland enorm viel Luft nach oben“, meint er. Eines der zentralen Probleme sieht Schmidt in dem unkoordinierten Aufsuchen von Notaufnahmen und Fachärzt:innen. In Ländern wie der Schweiz, Dänemark oder den Niederlanden haben sich beispielsweise Modelle bewährt, bei denen sich Patient:innen fest an eine Hausärztin binden, die dann wichtige Ansprechpersonen für alle weiterführenden Behandlungen sind. Die längerfristige Bindung an eine Hausärztin oder einen Hausarzt wird auch mit unmittelbaren Vorteilen für die Patient:innen in Verbindung gebracht: „In den Niederlanden versterben 2,9 Prozent der Patienten in den 30 Tagen nach Einlieferung in ein Krankenhaus wegen eines Herzinfarktes. In Deutschland sind es 8,6 Prozent“, erklärt Schmidt. Ein Grund dafür sei unter anderem, dass in Deutschland ein Teil der Patient:innen keine feste Ansprechperson für die Nachsorge habe, die einen besseren Gesamtüberblick über den jeweiligen Gesundheitszustand hat. Gerade diese Patient:innen landeten viel wahrscheinlicher wieder in der Akutversorgung eines Krankenhauses.
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An Kliniken angedockte KV-Praxen entlasten Notaufnahmen
Das Problem der überlasteten Notaufnahmen ist bekannt und hat in den vergangenen 15 Jahren zugenommen. Ein erheblicher Teil der Patient:innen, die dort vorstellig werden, sind jedoch keine Notfälle. Sie haben einfach keine Alternative gefunden – sei es, weil es Wochenende oder Nacht war, sei es, weil sie nicht wussten, wo sie sonst Hilfe finden könnten. Denn zur Wahrheit gehört auch, dass je nach Befragung zwei Drittel bis die Hälfte der Menschen die Nummer des ärztlichen Bereitschaftsdienstes der KV – 116 117 – nicht kennen. Laut Adrian Schmidt lassen sich Patient:innen nur bedingt „umerziehen“. Sie müssten genau da abgeholt werden, wo sie stehen. Ein Modell dafür könnten KV-betriebene Notdienstpraxen sein, die an Notaufnahmen angedockt sind. In den DRK Kliniken Berlin Westend gibt es eine solche Praxis bereits seit vielen Jahren. Jährlich entlastet sie die Notaufnahme um 10.000 Patient:innen, insgesamt werden dort rund 40.000 Patient:innen pro Jahr behandelt.
Dass viele Patient:innen die Nummer des ärztlichen Bereitschaftsdienstes der KV nicht kennen, ist für Schmidt aber eher Symptom eines größeren und weitreichenderen Problems. „Mehr als die Hälfte der Menschen in Deutschland hat eine geringe Gesundheitskompetenz. Das bedeutet, sie scheitern bereits an Dingen wie dem Verstehen eines Beipackzettels und können erst recht keine Versorgungsoptionen gegeneinander abwägen“, sagt Schmidt. „Sie wissen nicht, was sie wann in Anspruch nehmen können. Das mündet schnell in ein Gefühl des Ausgeliefertseins“, erklärt der Wirtschaftswissenschaftler. Seiner Meinung nach braucht es deutlich mehr Prävention durch gesundheitliche Aufklärung, beispielsweise an Schulen. Ein weiterer sogenannter Quick-Fix ist das Angebot von Informationen in Leichter Sprache für Menschen mit einem niedrigen Bildungsniveau. Diese und Menschen mit Migrationshintergrund weisen in Deutschland Studien zufolge die geringste Gesundheitskompetenz auf. Informationen in den häufigsten Sprachen der Bevölkerung mit Migrationshintergrund wie Türkisch, Russisch und Arabisch sind weitere relativ einfache und kostengünstige Maßnahmen, um die Kommunikation mit Patient:innen zu verbessern und Frustrationen vorzubeugen.
Nicht zuletzt gibt es aber auch beim unvermeidbaren Warten Spielraum. Mittlerweile wird in den meisten Rettungsleitstellen das Manchester Triage System angewendet. Das bedeutet, dass innerhalb weniger Minuten nach der Anmeldung eine Ersteinschätzung durch medizinisches Fachpersonal erfolgt. Die Patient:innen bekommen so das Gefühl, dass ihr Anliegen korrekt erfasst wurde. Darüber hinaus gibt es beispielsweise in der Zentralen Notaufnahme der DRK Kliniken Westend ein System, das über ein Patientenarmband mit einem QR-Code funktioniert. Scannen die Patient:innen diesen ein, können sie sehen, wie viele Patient:innen vor ihnen an der Reihe sind. Wenn Wartende zudem sehen, dass Patient:innen per Rettungswagen eingeliefert werden, erleben sie, dass das Klinikpersonal mit dringlicheren Fällen beschäftigt ist. Manche Orte können in dieser Hinsicht baulich angepasst werden.
Wofür es jedoch keine Evidenz gibt, sind härtere Strafen und Ahndungen bei Vorfällen von Gewalt gegen medizinisches Personal. Dies bedeutet nicht, dass solche Vorfälle nicht zur Anzeige gebracht werden sollten. Im Gegenteil: Das Problem kann erst gesamtgesellschaftlich erfasst werden, wenn Einrichtungen die Vorfälle konsequent an die Polizei übermitteln. In der KBV-Umfrage hat dies jedoch nur ein kleiner Bruchteil von 14 Prozent der Befragten getan, sodass davon auszugehen ist, dass das Problem kriminologisch kaum erfasst ist.
Muss das Strafrecht verschärft werden?
Ärztevertreter:innen fordern seit Jahren eine Verschärfung des Strafrechts. In einer Stellungnahme aus dem August 2024 forderte die Bundesärztekammer (BÄK) ein Maßnahmenbündel, das über eine Strafrechtsverschärfung weit hinausgeht: So bedürfe es eines übergreifenden Meldesystems sowie erweiterter personeller und finanzieller Ressourcen für Ermittlungsbehörden und Gerichte.
Die gescheiterte Ampel-Koalition plante Ende 2024 eine leichte Verschärfung des Strafrechts bei Angriffen auf bestimmtes medizinisches Personal, wie beispielsweise Rettungskräfte und Ärzt:innen. Aufgrund des vorzeitigen Endes der Legislaturperiode ist ein zeitnaher Abschluss des Gesetzgebungsvorhabens jedoch unrealistisch.
Die Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) begrüßte den damaligen Gesetzesvorstoß ausdrücklich und forderte zudem verstärkte Maßnahmen zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die Problematik, präventive Programme sowie ein besseres Nachsorgeangebot für Betroffene. Hierzu bot die KBV eine Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium der Justiz und dem Bundesministerium für Gesundheit an.
Gravierende Folgen für Betroffene
Die Folgen von Übergriffen auf medizinisches Personal sind gravierend. In der DKI-Umfrage wurden merkliche psychische Belastungen der betroffenen Mitarbeitenden, etwa durch Schock, Angstgefühle oder Niedergeschlagenheit mit 73 Prozent beziffert. In jeweils rund zwei Dritteln der Häuser beenden betroffene Mitarbeitende gelegentlich oder häufig den Dienst vorzeitig, begeben sich teilweise in ärztliche oder therapeutische Behandlung oder lassen sich arbeitsunfähig schreiben.
Wichtig ist daher die Nachbereitung: Sicherheitsvorfälle müssen aufgearbeitet und Betroffene unterstützt werden. Dazu haben die DRK Kliniken Berlin auf jedem Desktop einen sogenannten Konfliktmeldebutton installiert. Damit können Mitarbeitende nach einer belastenden Situation mit psychischer oder physischer Gewalt eine Meldung an das Team des Betrieblichen Gesundheitsmanagements senden. Je nach Schweregrad der Meldung wird sofort oder innerhalb von 24 Stunden Kontakt mit der betroffenen Person aufgenommen.
Nachsorge ist wichtig
Lautenschlags Deeskalationstraining bereitet deshalb nicht nur auf den Ernstfall vor, sondern eignet sich auch für die Zeit nach einer belastenden Gewalterfahrung. Therapie ist wichtig, so Lautenschlags Erfahrung. Die Opfer brauchen das Gefühl, nicht hilflos zu sein. „Ich vergleiche das mit jemandem, der fast ertrunken ist. Es reicht nicht, ihm die Angst vor dem Wasser zu nehmen. Die Person muss schwimmen lernen, um handlungsfähig zu sein“, erklärt der Deeskalationstrainer. „Das erreichen wir, indem wir das Geschehene nachstellen und mit neuen Gedanken verknüpfen – zum Beispiel mit ‚Ich kann das.‘“ So weicht das Gefühl der Ohnmacht.
Die Kunsttherapeutin Maika Hassan-Beik kann das bestätigen. Es komme zwar noch vor, dass sie unsicher ist oder Angst vor einzelnen Jugendlichen hat. Trotzdem hat ihr der Kurs sehr geholfen: „Es tut mir gut zu wissen, dass ich solche Ausnahmesituationen üben kann“, sagt sie.
Wo gibt es Hilfe?
Wer physische oder psychische Gewalt am Arbeitsplatz erlebt hat, sollte sich an Personen seines Vertrauens wenden: an Kolleg:innen, an die Personalabteilung oder den Betriebsrat, aber auch an Freunde und Familie im privaten Umfeld. In vielen Einrichtungen gibt es bereits Nachsorgemodelle. Ist eine unmittelbare ärztliche Behandlung notwendig, erfolgt diese bei einer Durchgangsärztin oder einem Durchgangsarzt, da es sich in der Regel um einen Arbeitsunfall handelt. Wenn das Ereignis zu einer dauerhaften psychischen Belastung führt, etwa zu wiederkehrenden Ängsten, kann eine frühzeitige Psychotherapie sinnvoll sein.
Einen ausführlichen Bericht zu Gewalterfahrungen im ambulanten Bereich sowie Informationen zur Gewaltprävention am Arbeitsplatz hat die KV Berlin im KV-Blatt 05/2024 veröffentlicht.