Ein historischer Glücksfall
„Wir wollen städtisch bleiben“ stand in großen Buchstaben auf den Plakaten, die 1994 überall am Eingang des Krankenhauses Havelhöhe hingen. Das waren meine ersten Eindrücke, als ich gerade als Medizinstudent nach Berlin gezogen war und voller Spannung den Neurologie-Untersuchungskurs erwartete, für den ich an den fernen südwestlichen Rand der Hauptstadt reisen musste. Offensichtlich war hier eine Krankenanstalt im radikalen Umstellungsprozess.
Die tollkühnen Ärzte Roland Bersdorf, Matthias Girke und Harald Matthes waren die Gründerpaten der Reformklinik und sind auch die Autoren des Buches „Der Weg zum Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe“. Sie berichten von einem historischen Glücksfall. Wie liest sich dieses Buch und lohnt die Lektüre? Ganz objektiv ist mein Urteil nicht, immerhin arbeite ich – mit Unterbrechungen – seit 1999 im Haus und habe viel von den drei Ärzten gelernt. Andererseits qualifiziert es mich vielleicht für eine Rezension. Aber würde ich in der Rückschau noch etwas Neues erfahren?
Toleranz im Umgang
Wie begründet sich dieser historische Glücksfall? Inmitten historischer Umbrüche kam eine große Zahl von Sympathisant:innen zusammen: engagierte Gründungsmitglieder, eine unterstützende Ärztekammer und ein wohlwollender Senat. Sie alle wollten eine Klinik in neuer Trägerschaft in Berlin. Nur die Belegschaften der dafür auserkorenen Standorte waren dagegen. Besonders die Ostberliner Chefärzt:innen äußerten ihre Sorge: „Wir haben nach 40 Jahren eine Ideologie abgelegt und wollen uns keine neue überstülpen lassen.“ Noch polemischer wurde der Protest im westlichen Spandau. Hier reagierten Ärzt:innen und Pflegende „… so abweisend, als ob sie es mit einer Hundertschaft von Scharlatanen und Spinnern zu tun bekommen würden.“ Und das trotz vieler öffentlicher Debatten in der Stadt.
Schon bald nach dem Mauerfall hatten die Initiatoren klargestellt: „Anthroposophische Medizin versteht sich nicht als Ersatz, sondern als Erweiterung der modernen naturwissenschaftlichen Medizin. Die Mitarbeit im Krankenhaus ist von keiner weltanschaulichen oder konfessionellen Bindung abhängig; Toleranz im Umgang miteinander ist wesentliches Leitbild der Trägerschaft.“ Mit der Wiedervereinigung war in Berlin plötzlich nichts mehr wie vorher. Die Krankenhaussektoren in beiden Stadthälften waren von fundamentalen Veränderungen betroffen – und von entsprechenden Entscheidungen.
West-Berlin war aufgrund seiner Insellage und Ost-Berlin als Hauptstadt der DDR überdurchschnittlich mit 113 Krankenhäusern, 43.000 Betten und über 57.000 Mitarbeitenden ausgestattet. Mit mehr als zwölf Klinikbetten pro 1.000 Einwohnern gab es die mit Abstand höchste Versorgungsdichte in der Bundesrepublik. Im nächsten Jahrzehnt musste die Zahl der Betten fast halbiert und die Krankenhausbeschäftigten um über 10.000 reduziert werden. Als Konsequenz blieben nur neue Trägerschaften oder Klinikschließungen.
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Medizin unter Einbezug der gesellschaftlichen Mitwelt
Ellis Huber, einer der aktivsten und medizinkritischsten Präsidenten einer Landesärztekammer, kommt im Buch ausführlich zu Wort. Er verkörpert den damaligen Zeitgeist exemplarisch: „Wenn humanitäre Werte statt Geld das Krankenhausmanagement leiten, wird die Ökonomie des Gesundheitswesens besser.“ Und bezogen auf die Reformklinik erklärt er: „Berlin als Brennpunkt der sozialen Risiken für die Gesundheit der Menschen braucht auch ein Gemeinschaftskrankenhaus, das menschliche Medizin unter Einbezug der gesellschaftlichen Mitwelt realisiert.“ Auch einflussreiche Frauen waren beteiligt, etwa Ingrid Strahmer als Gesundheitssenatorin. Und so wechselte das Krankenhaus tatsächlich am 1. Januar 1995 die Trägerschaft.
„Herzlichen Glückwunsch, Sie sind das beliebteste Krankenhaus Deutschlands!“ So lautete die Mitteilung bei einem frühmorgendlichen Anruf auf der Intensivstation im Juli 2007. Da ich auf solche Telefonate nicht vorbereitet war, dachte ich, es handele sich um einen Spaßvogel, der sich wohl verwählt hatte. Später stellte sich heraus, dass es stimmte; die Presse war nur früher informiert als der übernächtigte Nachtschichtarzt. Die Techniker Krankenkasse hatte bundesweit über 100.000 Versicherte zu ihren Erfahrungen im Krankenhaus befragt. Mit 89 Prozent Behandlungszufriedenheit – der Bundesdurchschnitt lag bei 78 Prozent – kam das Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe auf Platz 1. Ein gutes Jahrzehnt nach seiner Übernahme war das vielleicht nicht die schlechteste Referenz für ein neues Krankenhaus.
Die Empfehlung
Aber wem empfehle ich dieses fast 280 Seiten umfassende Buch? Allen, die sich für die jüngere medizinische Stadtgeschichte interessieren, die die enormen historischen, politischen und medizinischen Paradigmenwechsel besser verstehen möchten, und natürlich auch allen, die wissen wollen, warum es dieses Gemeinschaftskrankenhaus überhaupt gibt. Vor allem aber sei die Lektüre all jenen ans Herz gelegt, die erfahren möchten, wie engagierte Menschen ein Reformkrankenhauskonzept in die Tat umsetzen. Bersdorf sagt dazu: „Ohne initiative Menschen, keine Initiative. Und ohne Unterstützung durch Menschen, die im gesellschaftlichen Kontext Verantwortung innehaben, kommt eine Initiative auch nicht zu einer Verwirklichung ihres Anliegens.“
Das Buch
Roland Bersdorf / Matthias Girke / Harald Matthes
Der Weg zum Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe
Von der Initiativbildung bis zur Gründung
Ita Wegman Institut (Verlag), 2024
ISBN: 978-3-906947-90-7
279 Seiten
28 Euro
Link zum Buch: Der Weg zum Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe