Ärzt:innen und Elternschaft

Über Schichtdienste, Prüfungsstress oder Schlafmangel sprechen Ärzt:innen offen und häufig – über Elternschaft hingegen selten. Dabei betrifft das Thema fast alle, die sich in der Weiterbildung befinden. Viele wünschen sich Kinder, manche haben bereits welche, doch über die Realität zwischen Klinikdienst, Krippe und Karriere wird selten gesprochen. Auch für dieses Interview gestaltete es sich schwierig, Stimmen zu finden.

Elternschaft und Beruf

Die Vereinbarkeit von Elternschaft und Beruf gleicht oft einem Balanceakt.

Weiterbildung, Care-Arbeit und faire Dienstpläne

Die Sorge, als unzuverlässig zu gelten oder bei Vorgesetzten auf Unverständnis zu stoßen, ist zu groß. Andere sind schlicht zu erschöpft, um überhaupt darüber zu reden. „Ich würde so gern, aber zwischen Dienst, Kind und Haushalt finde ich keine Stunde Ruhe“, schrieb eine junge Ärztin, als sie für diesen Artikel kontaktiert wurde. Sie ist kein Einzelfall.

Elternschaft in der ärztlichen Weiterbildung und die damit verbundene Überforderung sind längst keine Ausnahme mehr, sondern Alltag – oft still und mit schlechtem Gewissen. Zwischen Stationsdienst, Facharztprüfung und Kinderbetreuung bleibt kaum Raum für Austausch, obwohl dieser dringend nötig wäre. Vier Ärzt:innen erzählen offen und ehrlich, wie sie Klinik, Kind und Karriere miteinander vereinbaren, welche Strukturen ihnen helfen, wo sie an Grenzen stoßen und warum sie trotzdem überzeugt sind, dass Elternschaft und ärztliche Weiterbildung zusammengehören.

Zwischen Stationsalltag und Kinderbett

Für viele junge Ärzt:innen ist die Elternschaft während der Facharztweiterbildung eine doppelte, oft kaum tragbare Herausforderung: Sie müssen Verantwortung für Patient:innen und Familie übernehmen, Schichtdienst und Schlafmangel bewältigen, Prüfungsdruck standhalten und sich um die Kita- und Alltagsorganisation kümmern. Was auf dem Papier nach Work-Life-Balance klingt, ist in der Realität oft ein Balanceakt auf dünnem Eis.

Der Frauenanteil unter den Ärzt:innen in Weiterbildung in Deutschland liegt bei über 50 Prozent. Und meist sind es die Ärztinnen, die in den ersten Jahren nach der Geburt zu Hause bleiben. Doch immer mehr Männer nehmen Elternzeit oder reduzieren ihre Arbeitszeit. 70 Prozent der Ärztinnen nehmen mindestens sechs Monate Elternzeit.

Allgemein arbeiten 27 Prozent aller Ärzt:innen in Teilzeit. Während 40 Prozent der Ärztinnen in Teilzeit arbeiten, sind es bei den männlichen Kollegen nur 6,5 Prozent. Doch strukturell hinkt das System hinterher: Nur etwa 20 Prozent der Krankenhäuser verfügen über eigene Kitas oder Belegplätze. Viele dieser Kitas schließen zu früh, um mit den Dienstzeiten in den Kliniken vereinbar zu sein. In Berlin öffnet nur etwa ein Drittel der Kitas vor 7 Uhr.

Eine Befragung des Marburger Bundes aus dem Jahr 2023 zeigt: Über 70 Prozent der Ärzt:innen wünschen sich flexiblere Arbeitszeiten und fast 40 % haben aufgrund familiärer Belastungen bereits über einen Fachrichtungswechsel oder einen vorzeitigen Ausstieg nachgedacht.

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Alltag zwischen Engagement und Erschöpfung

Vanessa Zschocke ist Assistenzärztin im vierten Weiterbildungsjahr zur Allgemeinmedizinerin. Sie beschreibt den Perspektivwechsel, den die Elternschaft mit sich bringt: „Früher habe ich meine Arbeit über alles gestellt, habe Überstunden gemacht und immer die Extrameile gelaufen. Heute dreht sich alles um meine Familie – und darum, die Weiterbildung zu beenden, um wieder mehr Ruhe zu haben.“ Der berufliche Ehrgeiz ist nach wie vor vorhanden, doch die innere Haltung hat sich verändert. „Ich bin empathischer geworden“, sagt sie. „Ich verstehe jetzt, warum Eltern Termine absagen – es ist oft schlicht organisatorisch unmöglich.“

Auch Anaïs Doll ist Assistenzärztin im fünften Jahr in der Dermatologie. Sie hat gelernt, dass Planbarkeit wertvoller ist als Perfektion. Nach der Geburt ihrer Tochter suchte sie gezielt eine Weiterbildungsstelle in der Ambulanz mit geregelten Arbeitszeiten: „Ich habe meine Arbeitsstunden auf 95 % reduziert, damit ich pünktlich gehen und meine Tochter rechtzeitig abholen kann. Der Arbeitsaufwand wurde jedoch nicht weniger, denn weniger Arbeitszeit heißt nicht automatisch weniger Patient:innen.“

Wenn sie abends länger bleibt, dann liegt das selten an mangelnder Organisation, sondern daran, dass sie ihre Patient:innen gut versorgen möchte. Gleichzeitig erlebt sie das Muttersein als Bereicherung: „Viele Kinder gehören zu unserem Patientinnenklientel. Ich kann die Sorgen der Eltern jetzt besser nachvollziehen. Therapieempfehlungen formuliere ich heute gezielt alltagstauglicher.“

„Mir fehlt schlicht die Energie“

Philipp Then, Arzt im vierten Weiterbildungsjahr, schildert ebenfalls, wie sich seine ärztliche Weiterbildung in der Anästhesie durch die Elternschaft verändert hat: „Die Elternschaft wird meine Weiterbildung in die Länge ziehen, insbesondere durch die Elternzeit.“ Gleichzeitig spürt er die Grenzen seiner Belastbarkeit: „Nach der Arbeit kümmert man sich primär um die Kinder. Wenn die dann im Bett sind, hat man kaum noch Zeit für die Weiterbildung, denn es gibt ja auch noch so etwas wie eine Partnerschaft.“ Wissenschaftliche Arbeit oder Zusatzaufgaben sind aktuell kaum möglich: „Mir fehlt schlicht die Energie. Im direkten Vergleich verliert man als Vater gegen den Single-Nicht-Vater – nicht, weil man weniger kann oder will, sondern weil der Tag einfach zu kurz ist.“

Philipp Then, Vater und Arzt im vierten Weiterbildungsjahr.

Philipp Then, Vater und Arzt im vierten Weiterbildungsjahr.

Philipp betont, dass der Klinikdienst mit kleinen Kindern schwer planbar ist: „Heute mache ich dieses, morgen jenes – Planbarkeit ist Fehlanzeige. Positiv ist immerhin, dass ich relativ pünktlich nach Hause komme und so die Termine mit meiner Familie wahrnehmen kann.“ Verständnis für sein Lebensmodell erhält er nicht immer, auch nicht von Kolleg:innen, denn: „Wer erfährt, dass meine Frau und ich alsbald drei kleine Kinder haben, hält uns für völlig meschugge. Da fällt dann schon mal der Satz: ‚Als Arzt? Was ist los mit dem Paar – ist bei denen der Fernseher kaputt?‘“ Er empfindet: „In der Anästhesie gilt Elternschaft oft als selbst gewähltes Leid – ergo: Komm damit klar.“

Wenn Kinder, dann früh

Trotzdem überwiegt für ihn die menschliche Bereicherung: „Meine Sicherheit in der Beurteilung des kritisch kranken Kindes ist gestiegen, und ich kann mich besser in die Rolle der Eltern hineinversetzen.“ Sein Rat an jüngere Kolleg:innen ist pragmatisch: „Wenn Kinder, dann früh – solange man noch die Energie hat, das alles zu wuppen. Im Hinblick auf eine große ärztliche Karriere kann man von Kindern im Arztberuf leider nur abraten.“ Der Gedanke hat für ihn auch eine biografische Dimension: „Mein Vater, ebenfalls Arzt, hat genau deshalb vor 20 Jahren den Facharzt aufgegeben – und wurde nie wieder glücklich in seinem Beruf. Ich will, dass es bei mir anders ausgeht.“

Zwischen Familie, Klinik und eigener Gesundheit

Finja Then, die Ehefrau von Philipp Then, ist ebenfalls Ärztin und befindet sich im zweiten Weiterbildungsjahr zur Internistin. Sie erzählt, wie sie nach der Probezeit schwanger wurde: „Ich habe es so lange wie möglich geheim gehalten, um noch Dienste zu machen, damit meine Kolleg:innen nicht mehr Dienste für mich übernehmen mussten.“

Während ihrer Schwangerschaft arbeitete sie bis zum Mutterschutz, teilweise ohne Patientenkontakt, da zu dieser Zeit strenge Corona-Vorgaben galten. Nach der Geburt ihres Kindes nahm Then ein Jahr Elternzeit, kehrte anschließend zurück und wurde erneut schwanger. Ihr Chef reagierte verständnisvoll und das Team zeigte sich unterstützend. Dennoch bleiben Schuldgefühle: „Ich habe das Gefühl, keine vollwertige Arbeitskraft zu sein, weil ich ständig abwesend bin. Aber ich weiß, dass es richtig ist, so wie wir es machen.“

Finja Then, Mutter und Ärztin im zweiten Weiterbildungsjahr zur Internistin.

Sie beschreibt die Monate dazwischen als kräftezehrend: „Meine Tochter war fast zehn Stunden täglich in der Kita. Sie hat das super gemacht, aber mein Mama-Herz hat dabei geblutet.“ Durch die Doppelbelastung kommen sie und ihr Ehemann nicht selten an ihre Grenzen. „Wenn wir beide Dienste haben, bleibt keine gemeinsame Zeit als Familie. Das ist kein Dauerzustand. Mein Arbeitsalltag muss zu meinen Kindern passen, nicht umgekehrt.“ Philipp fasst es nüchtern zusammen: „Man kann nicht gleichzeitig Spitzenmedizin machen und Supervater sein, aber man kann beide Dinge gut machen, wenn man ehrlich zu sich selbst ist.“

Rechte kennen – und selbstbewusst einfordern

Im Interview betont Vanessa Zschocke, wie wichtig es ist, die eigenen Rechte zu kennen: „Viele Kolleg:innen wissen gar nicht, dass sie Anspruch auf eine bezahlte Freistellung für Arzttermine haben. Es gibt auch Rechte auf Anpassungen des Arbeitsplatzes.“

Eine Grundeinstellung möchte sie werdenden Eltern mitgeben: „Man bittet den Arbeitgeber nicht um Erlaubnis, sondern teilt ihm die Elternzeit oder das Beschäftigungsverbot mit.“ Sie kritisiert, dass einige Kliniken und Arbeitgeber:innen diese Informationen nicht zuverlässig kommunizieren. Daher sei es wichtig, sich beraten zu lassen, beispielsweise durch die jeweilige Ärztekammer oder den Marburger Bund. Ihr Rat für einen reibungslosen Übergang nach der Elternzeit lautet: „Plant die Elternzeit lieber länger. Früher zurückzukehren ist häufig weniger ein Problem. Es ist leichter, sie zu verkürzen, als zu verlängern.“

Doch in einem Punkt sind sich alle Ärzt:innen einig: Die Kommunikation mit den Arbeitgeber:innen und den Kolleg:innen ist entscheidend. Frühzeitige Gespräche mit der Chefärztin bzw. dem Chefarzt und der Personalabteilung helfen, Rotationen, Stationswechsel und den Wiedereinstieg planbar zu gestalten.

Elternschaft als Ressource

Elternschaft verändert. Sie schärft den Blick für das Wesentliche. Man lernt, bewusster mit Energie, Zeit und Mitgefühl umzugehen. Die Elternschaft lehrt, Grenzen zu ziehen. Geduld, Empathie und Belastbarkeit sind Kompetenzen, die Eltern im Alltag täglich üben und die auch im ärztlichen Beruf über Qualität und den Umgang mit Patient:innen entscheiden. Anaïs sagt: „Ich bin ruhiger geworden – nicht langsamer, sondern bewusster.“ Finja ergänzt: „Ich bin eine bessere Ärztin, weil ich Mutter bin.“

All diese Fähigkeiten lassen sich nicht in Seminaren lehren, sondern entstehen im Alltag mit der Familie. Ganz klar ist: Der ärztliche Beruf darf nicht im Widerspruch zur Familie stehen. Er sollte sie ermöglichen und fördern, denn Familie bedeutet Stabilität – und Stabilität ist eine Voraussetzung für gute Arbeitsbedingungen und gute Medizin. Elternschaft in der Assistenzzeit erfordert Mut, Organisation und Gelassenheit, aber sie eröffnet Perspektiven. Wer auf den „richtigen Zeitpunkt“ wartet, wird ihn vielleicht nie finden. Als Fachärzt:in wird es nicht automatisch leichter, denn die Verantwortung wächst und die Anforderungen bleiben bestehen.

Ärzt:innen zeigen jedoch, dass Elternschaft keinen Bruch in der Karriere bedeuten muss, sondern eine Erweiterung der ärztlichen Identität. Eltern zu sein, bringt das Menschliche zurück in die Medizin – und das ist vielleicht das Wertvollste, was man in dieser Profession lernen kann. Wie kann ein Gesundheitssystem aussehen, das diese Erkenntnis endlich in seine Strukturen übersetzt?

Ausblick – Chancen, Herausforderungen und Visionen

In Berlin und darüber hinaus entstehen zunehmend Pilotprojekte und Modellversuche, die über klassische familienfreundliche Angebote hinausgehen. So investiert die Charité – Universitätsmedizin Berlin gemeinsam mit der Fröbel Bildung und Erziehung gGmbH beispielsweise in betriebsnahe Kitas mit erweiterten Öffnungszeiten, Eltern-Kind-Zimmern, Still- und Ruheräumen sowie in das Notfallbetreuungsangebot „KidsMobil“.

Vivantes arbeitet etwa an innerklinischen Konzepten zur Entlastung von Mitarbeitenden mit Kindern und das Helios Klinikum Berlin-Buch betreibt sogenannte Babylotsen. Diese bieten werdenden Eltern frühzeitig unterstützende Netzwerke und Beratung, beispielsweise zu den Themen Vereinbarkeit, Behördengänge und Arbeitsteilung.

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