Abhängig von Medikamenten: Vom Umgang mit einem Tabu

Die 4. Aktionswoche der „Initiative gegen Medikamentenmissbrauch“ findet in diesem Jahr vom 16. bis 22. September 2023 statt. Sie rückt die verbreitete, aber kaum beachtete Problematik erneut in den Fokus.

Medikamentenschrank mit vielen Medikamentenpackungen

Symbolbild: Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen geht davon aus, dass etwa 1,5 bis 1,9 Millionen Menschen in Deutschland von einem Medikament abhängig sind.

Ich nehme Tavor seit 8 Jahren ein und nie war das ein Problem.

so die Patientin Sophie S., 72 Jahre alt, bei ihrer Verlegung auf eine Entzugsstation.

Sophie S. war zuvor wegen eines Infektes internistisch behandelt worden, entwickelte im weiteren Verlauf jedoch ein Delir. Später stellte sich heraus, dass eine unterbrochene Lorazepam-Medikation die Ursache des Delirs war. Das Medikament wurde acht Jahre zuvor wegen aufkommender Panikattacken verordnet. Die indizierte Psychotherapie ist bis heute nicht beantragt worden. Sophie S. gehört zu den wenigen Menschen, die überhaupt wegen einer Medikamentenabhängigkeit qualifizierte Hilfe annehmen. Nicht selten führt erst eine wie oben geschilderte Komplikation in die Behandlung oder Beratung.

Bereits im Jahr 2005 wurde in der Fachzeitschrift „Der Nervenarzt“ ein Artikel mit dem Titel „Wo verstecken sich 1,9 Millionen Medikamentenabhängige?“ veröffentlicht. Die Autor:innen fassten damals zusammen, dass die Anzahl der Medikamentenabhängigen in Deutschland auf bis zu 1,9 Millionen geschätzt wird. Nur wenige Patient:innen seien dabei aber in Behandlung, sodass von einem erheblichen Missverhältnis zwischen Häufigkeit und Behandlungspräferenz auszugehen ist. Denn sowohl in der stationären als auch in der ambulanten Suchtkrankenhilfe machten sie 2005 nur jeweils 0,7 Prozent der Behandlungsfälle aus.

Die Situation heute

Das DHS Jahrbuch Sucht 2022 der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen konstatiert faktisch unveränderte Zahlen. Weiterhin wird davon ausgegangen, dass etwa 1,5 bis 1,9 Millionen Menschen in Deutschland von einem Medikament abhängig sind. Bei einem Großteil der Fälle besteht dabei eine Abhängigkeit von Benzodiazepinen. Auffällig ist auch die zunehmende Bedeutung der Opioide und von Schmerzmitteln in Selbstmedikation. Die Medikamentenabhängigkeit ist damit nach der Nikotinabhängigkeit mit der Alkoholabhängigkeit (ca. 1,6 Millionen abhängige Menschen) die bedeutendste Abhängigkeitserkrankung in Deutschland.

Zur Einordnung hilft unter anderem eine Statistik der Deutschen Rentenversicherung Bund: Diese bewilligte im Jahr 2020 insgesamt 9.754 Entwöhnungsbehandlungen bei Alkoholabhängigkeit, 5.543 bei einer Drogenabhängigkeit und nur 214 bei Medikamentenabhängigkeit. Auch der Jahresbericht der Deutschen Suchthilfestatistik aus demselben Jahr gibt keinen Anlass zur Hoffnung auf Besserung der Situation. Unverändert macht die Medikamentenabhängigkeit jeweils über 1 Prozent der Behandlungsfälle in der stationären und ambulanten Suchtkrankenhilfe aus. Offenbar nehmen nur wenige Medikamentenabhängige weiterführende Hilfen in Anspruch: In den vergangenen 15 Jahren hat sich keine Veränderung des Erreichungsgrades bei Medikamentenabhängigkeit erzielen lassen.

Die „stille Sucht“

Nach wie vor scheint es sich bei der Medikamentenabhängigkeit um eine Art unsichtbares Phänomen zu handeln. Dies ist nachvollziehbar, da diese im Vergleich zu den Auswirkungen vom Alkohol- und Drogenkonsum sehr unauffällig ist und auch von Fachkräften nicht rasch erfasst werden kann. Bei einem Großteil der Medikamentenabhängigkeit handelt es sich um die Abhängigkeit von Sedativa. Soweit diese nicht in toxischer Dosis eingenommen werden, wirken die Konsument:innen im Alltagsleben unauffällig und bleiben funktional. So ist es durchaus denkbar, dass Betroffene Unfälle erleiden oder verursachen, aber eine Atemluftkontrolle auf Alkohol unauffällig ist und so die zugrunde liegende Medikamentenabhängigkeit verborgen bleibt.

Zudem verspüren Menschen mit einer reinen Medikamentenabhängigkeit kaum Gemeinsamkeiten mit denjenigen, die eine Alkohol- oder Drogenabhängigkeit aufweisen. Medikamente bleiben „Arzneimittel“ mit einem vergleichsweise „sauberen Image“ und konsumierende Personen unterschätzen gegebenenfalls den Handlungsbedarf hinsichtlich des immensen Abhängigkeitspotenzials der Inhaltsstoffe oder anderer gesundheitlicher Komplikationen.

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Die Rolle der behandelnden Ärzt:innen

Ein großer Teil der Konsument:innen bewegt sich im legalen Rahmen der ärztlichen Verordnung. Hierbei spielen iatrogen erzeugte Abhängigkeitserkrankungen eine Rolle, bei denen sich Patient:innen auf der „sicheren Seite“ fühlen dürfen, da ihnen die Ärzt:innen das Medikament bei bedachter Indikationsstellung auch aus gutem Grund verordnet haben. Fällt den behandelnden Ärzt:innen im Verlauf die Abhängigkeit oder die nicht mehr passende Indikationsstellung auf und reagieren sie darauf adäquat, kann es freilich passieren, dass Patient:innen die Praxis wechseln, um unbequemen Gesprächen aus dem Weg zu gehen und „ihr“ Medikament weiterhin von anderer Stelle verordnet zu bekommen. Eine andere Möglichkeit ist es, sich aus dem „legalen“ Bereich der Abhängigkeit zu entfernen und sich das Medikament beziehungsweise Suchtmittel über illegale Kanäle zu beschaffen.

Gleichwohl fällt die Ansprache von Abhängigkeitserkrankungen auch den Behandelnden vielfach sehr schwer, weil diese nach wie vor einem Stigma unterliegen und tabuisiert werden. So wies Georg Schomerus bereits im Jahr 2005 mit seiner Arbeitsgruppe an der Universität Greifswald hohe Ablehnungsquoten beispielsweise gegenüber der Alkoholkonsumstörung nach. Diese Quoten blieben auch in aktuelleren Untersuchungen stabil.

Wie kann diesem Phänomen begegnet werden?

Bereits seit 2011 gibt es in Berlin unter Federführung der Fachstelle für Suchtprävention die „Initiative gegen Medikamentenmissbrauch“. Deren Mitstreiter:innen einigten sich früh auf einen gemeinsamen Forderungskatalog, in dem unter anderem konstatiert wurde, dass die bestehenden Hilfen Menschen mit einem problematischen Medikamentenkonsum nicht bedarfsgerecht erreichen. Daran hat sich bislang leider nichts geändert. Eine Konzeptdiskussion ist weiterhin vonnöten. Der Katalog enthält beispielsweise die Forderung nach einem Warnhinweis zum Suchtpotenzial auf den Verpackungen von Schlaf- und Beruhigungs- sowie von abhängigkeitserzeugenden Schmerzmitteln. Es wird auch angeregt, dass Krankenkassen regelhaft Ärzt:innen anschreiben, deren Indikationsstellung und/oder Dosierungsverhalten in Bezug auf die Verordnung von Medikamenten mit Abhängigkeitspotenzial nicht plausibel ist. 

Eine ihrer Hauptaufgaben sieht die Initiative darin, die Netzwerkarbeit zu stärken und das Phänomen der „stillen Sucht“ wahrnehmbarer zu machen – in der Bevölkerung und auch in der Fachwelt. 

Die wichtigsten Akteure der Initiative sind:

  • Fachstelle für Suchtprävention als Koordinatorin und mit Expertise der universellen, selektiven und indizierten Prävention,
  •  Ärztekammer Berlin,
  • Apothekerkammer Berlin,
  • das System der Berliner Suchtberatungsstellen und der Selbsthilfeverbände, die niedrigschwellig hoch qualifizierte Beratungen für Betroffene, Angehörige, aber auch für das medizinische pharmazeutische Netzwerk anbieten,
  • Vertreter:innen der Berliner Bezirke und der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesundheit, Pflege und Gleichstellung,
  • die Berliner Krankenhausstruktur, mit den Möglichkeiten einer Entzugsbehandlung,
  • die Berliner und Brandenburger Entwöhnungskliniken mit den Möglichkeiten einer Langzeittherapie bei Medikamentenabhängigkeit

Ärzt:innen haben eine sensible und einflussreiche Position gegenüber ihren Patient:innen. Die Initiative baut nun auf ihre Aufmerksamkeit für das Thema, damit wir in 15 Jahren nicht erneut unveränderte Ergebnisse dokumentieren müssen.

Suchtprävention

Weitere Informationen

Mehr konkrete Vorschläge für eine besserer Erreichbarkeit von Menschen mit Medikamentenabhängigkeit finden Sie aus der Website der Fachstelle für Suchtprävention im Land Berlin.

Als zentrale Kompetenzstelle entwickeln und koordinieren sie suchtpräventive Angebote in Berlin:

Unabhängig bleiben! Fachstelle für Suchtprävention in Berlin

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