„Wir von der Suchtberatung holen die Medizin mit an Bord und die Medizin nimmt uns mit“

Bereits zwei Milligramm des synthetischen Opioids Fentanyl reichen für eine tödliche Überdosis. In den Vereinigten Staaten ist das starke Schmerzmittel Auslöser einer Drogenkrise. Noch ist Fentanyl eine Randerscheinung in Berlin. Doch Suchtexpert:innen befürchten, dass das nicht mehr lange so bleibt. 

Ulrike Schönfeld
Interview mit
Ulrike Schönfeld

Fachärztin für Allgemeinmedizin

Foto: privat
Norbert E. Lyonn
Interview mit
Norbert E. Lyonn

Facharzt für Allgemeinmedizin

Foto: privat
Antje Matthiesen
Interview mit
Antje Matthiesen

Notdienst für Suchtmittelgefährdete und -abhängige in Berlin e. V.

Foto: privat

Der Facharzt für Allgemeinmedizin Norbert E. Lyonn kümmert sich in seiner Spandauer Suchtmedizinischen Schwerpunktpraxis um die Bedürfnisse von Menschen mit Substanzkonsum und Suchterfahrungen. Antje Matthiesen hilft beim Notdienst für Suchtmittelgefährdete und -abhängige in Berlin e. V.  Menschen mit Suchterkrankung. Ulrike Schönfeld ist Fachärztin für Allgemeinmedizin und engagiert sich als Mitglied im Arbeitskreis Drogen und Sucht der Ärztekammer Berlin. 

Im Interview berichten sie über die Opioidkrise und ihre gemeinsame Arbeit. 

Redaktion: Über die Opioidkrise wurde in den vergangenen Wochen viel berichtet. Schwappt sie bereits nach Deutschland und Berlin über?

Norbert E. Lyonn (NL): Ich würde das deutlich bejahen. Vielleicht noch nicht in dem Ausmaß, in dem wir das in einigen Hochburgen in den Vereinigten Staaten von Amerika sehen. In unsere Praxis kommen zunehmend Patient:innen, die zusätzlich zur Substitution Fentanyl konsumieren. Das wird in Deutschland derzeit überwiegend über Fentanylpflaster konsumiert.

Mich besorgt, dass das Fentanyl bald flüssig und direkt injizierbar nach Deutschland kommen wird. Das ist dann von der Wirkung bis zu 100-mal so stark wie Heroin – bei gleicher Dosierung. Eine weitere Substanz, die in der Potenz noch wesentlich stärker ist, ist Carfentanyl. Carfentanyl kann bereits in geringster Dosis tödlich sein. Da kommt sicherlich eine große Krise auf uns zu.

Antje Matthiesen (AM): Die Deutsche Aidshilfe hat vor kurzem im Rahmen des Bundesmodellprojektes „Rapid Fentanyl Tests in Drogenkonsumräumen“ (RaFT) in Drogenkonsumräumen Schnelltests auf Beimengungen von Fentanyl angeboten und diese analysiert. Von 1.401 Tests fielen rund 3,6 Prozent positiv aus. Das deutet darauf hin, dass es in der Szene noch nicht im großen Stil aufgetaucht ist. Allerdings ist das in den einzelnen Städten sehr unterschiedlich. Wir beobachten, dass dieser Markt ein wachsender, aber auch ein dynamischer ist – und Fentanyl ist keine grundsätzlich neue Substanz. Insofern finde ich es schwierig zu sagen, dass es gerade eine Krise von dieser oder jeder Substanz gibt, weil der Markt wechselhaft ist.

In den USA sind besonders junge Menschen zwischen 19 und 49 Jahren stark von der Fentanylsucht betroffen. Ist das in Deutschland und Berlin ähnlich?

NL: Fentanylsucht sehe ich eher bei Patient:innen, die schon substituiert werden. Aber ich habe natürlich das Bias, da dies überwiegend meine Klientel ist. Das sind die mittleren Altersgruppen. Den Konsum von anderen Opioiden wie Oxycodon, Tilidin, Hydrocodon oder von Schmerzmedikamenten wie Tramal sehe ich eher bei jungen Menschen ab 17 oder 18 Jahren, die häufig den Zugang über ihre Eltern oder andere Familienmitglieder und Bekannte haben, da diese in Deutschland als Schmerzmedikation zur Verfügung und in Tablettenform eingenommen werden.

AM: Natürlich gibt es Substanzen, die eher von Jüngeren und andere Substanzen, die eher von Älteren konsumiert werden. Aber jede Substanz wirkt auf eine besondere Art und Weise und dies macht die jeweiligen Substanzen für verschiedene Zielgruppen unterschiedlich attraktiv.

Im Zusammenhang mit Drogen und Sucht tauchen immer wieder Benzodiazepine auf. Diese werden etwa bei Angststörungen eingesetzt. Wie problematisch sind Benzodiazepine?

Ulrike Schönfeld (US): Benzodiazepine sind für viele Patient:innen ein Problem – und das nicht nur für Opiatabhängige. Zu mir kommen immer mehr Menschen, die benzodiazepinabhängig sind und entgiften oder davon wegkommen möchten. Vorstellig werden beispielsweise Patient:innen mit einer Alkoholabhängigkeit, aber darunter findet sich dann noch eine versteckte Benzodiazepinabhängigkeit. Problematisch ist hier, dass es eine hohe Dunkelziffer gibt, was daran liegt, dass diese Sucht nicht offen wahrgenommen wird. Der Grund dafür ist, dass Benzodiapzepine von unterschiedlichen Ärzt:innen verordnet werden können.

NL: Man muss unterscheiden zwischen dem Benzodiazepin-Konsum, den wir bei unseren substituierten Patient:innen erleben, meist im Rahmen einer Polytoxikomanie und der Low-Dose-Abhängigkeit, die Frau Schönfeld bereits angesprochen hat. Bei einem Hochdosiskonsum kann es vorkommen, dass Patient:innen bis zu 100 mg am Tag konsumieren.

Zum Verständnis: Wenn Ihnen ein Schicksalsschlag widerfahren wäre und Sie sich Benzodiazepine verschreiben lassen würden, um zur Ruhe zu kommen, würde Ihnen Ihre Ärztin oder Ihr Arzt für eine kurze Zeit eine Dosis von etwa fünf mg pro Tag verordnen. Von einer Low-Dose-Abhängigkeit sind wiederum Menschen betroffen, die sich eigentlich nicht als suchterkrankt beschreiben. Wenn man diesen Menschen sagen würde, dass sie abhängig sind, würden sie antworten: „Wieso, ich bin doch gar nicht süchtig.“ Sie nehmen über Jahrzehnte niedrige Dosen, meist eines von den angstlösenden Medikamenten wie Lorazepam. Wollen sie dann damit aufhören, merken sie, dass sie das gar nicht können, weil sich massive Angst- oder andere Entzugssymptome entwickeln. Wir werden zunehmend von Menschen aufgesucht, die von dieser Low-Dose-Abhängigkeit wegkommen wollen. Ihnen bieten wir ambulante Entzüge an, die teilweise über ein Jahr dauern.

AM: Die Dauer der Entzugsbehandlung sehe ich als Problem, vor allem bei uns im Substitutionsbereich. Die Patient:innen werden in den Kliniken schnell abdosiert und entlassen. Dabei wird nicht berücksichtigt, wie lange allein die körperliche Entzugsbehandlung von Benzodiazepinen dauert. In der Suchthilfe beobachte ich, dass Ärzt:innen mehr und mehr dazu übergehen, die Entgiftung im ambulanten Setting durchzuführen, eben weil diese Menschen nicht so lange in der Klinik bleiben können.

Immer auf dem Laufenden bleiben. Melden Sie sich hier für unseren Newsletter an.

Wie lange müssen Patient:innen in etwa warten, bevor sie einen ambulanten Entzug in der Praxis beginnen können?

NL: Bei den meisten Suchtmediziner:innen muss man nicht lange warten. Das kann sich in den nächsten Jahren jedoch ändern, weil ich den Eindruck habe, dass es immer mehr Menschen mit dieser Problematik gibt, möglicherweise auch als „Post Corona Effekt“. Zudem werden sich in den nächsten Jahren sehr viele Suchtmediziner:innen zur Ruhe setzen. Vor allem in ländlichen Gegenden werden wir ein enormes Nachwuchsproblem haben. Wenn wir einen ambulanten Entzug in unserer Praxis machen, beziehen wir außerdem die Suchtberatungsstellen mit ein. In meiner Praxis ist es Bedingung, dass Suchterkrankte gleichzeitig eine Suchtberatungsstelle besuchen.

Wie sollten sich Ihre Kolleg:innen verhalten, wenn sich Patient:innen mit einer Low-Dose-Abhängigkeit vorstellen und Hilfe suchen?

US: Eigentlich dürfen Ärzt:innen Benzodiazepine nicht jahrelang verschreiben. Es gibt natürlich Patient:innen, die sich diese Medikamente von verschiedenen Ärzt:innen verordnen lassen. Diese Menschen wissen eigentlich, dass sie ein Problem haben. Angenommen, eine Betroffene wendet sich an eine Hausärztin, dann kann diese sie an Ärzt:innen vermitteln, die die Zusatzbezeichnung Suchtmedizinische Grundversorgung haben. Wer diese Zusatzbezeichnung führt, kann man bei der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin erfragen. Außerdem können Betroffene auch an das Beratungssystem der Sozialarbeiter:innen (Drogen- und Medikamentenabhängigkeiten) vermittelt werden. Viele Ärzt:innen machen das bereits.

NL: Wichtig ist, dass Ärzt:innen, die merken, dass die Patientin oder der Patient eine Benzodiazepanabhängigkeit hat, weil sie über ein halbes Jahr zum Beispiel Lorazepam verschrieben haben, das nicht von heute auf morgen einstellen. Das Schlimmste, das Ärzt:innen tun können, ist, gar nichts mehr zu verordnen. Denn dann wandern Patient:innen von einer Arztpraxis zur nächsten, um sich das Medikament zu besorgen. Oder sie besorgen es sich illegal. Deshalb ist es wichtig, die Patient:innen aufzuklären. Auch Nicht-Sucht-Spezialist:innen können Entzüge begleiten. Dazu müssen sie die Dosis behutsam über einen längeren Zeitraum reduzieren. Wenn man sich das nicht zutraut, ist es sinnvoller, die Patientin oder den Patienten zu einer Suchtmedizinerin oder einem Suchtmediziner zu überweisen.

AM: Sucht ist in der Regel nicht monokausal, sondern es gibt verschiedene Begleitthemen, die beachtet werden sollten. Ärzt:innen sollten sich überlegen, ob sie das alleine hinbekommen oder weitere Akteure brauchen. Wir sind in Berlin mit Suchtberatungsstellen und anderen unterstützenden Akteuren, etwa der Familienhilfe, gut aufgestellt. In der Regel können Ärzt:innen eine Suchterkrankung allein nicht vollumfänglich gut behandeln, oftmals kommen andere Erkrankungen hinzu und vor allem weitere Themen wie beispielsweise Wohnungslosigkeit, laufende Strafverfahren, familiäre Belange oder auch das Fehlen einer Krankenversicherung dazu. In allen Bereichen eines Substanzmissbrauchs oder einer Abhängigkeitserkrankung gilt es, diese Faktoren ebenfalls zu berücksichtigen und interdisziplinär zu behandeln. Das funktioniert in beide Richtungen: Wir von der Suchtberatung holen die Medizin mit an Bord und die Medizin nimmt uns mit.

NL: Das ist wichtig zu betonen, da es unter den Ärzt:innen noch die Tendenz gibt, alles allein bewältigen zu müssen. Das funktioniert vor allem bei der Sucht nicht. Daher ist es mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass es Suchtberatungsstellen gibt, die hoch qualifiziert arbeiten und mit einbezogen werden sollten. 

Wie können sich Ärzt:innen engagieren?

NL: In Deutschland gibt es einen massiven Mangel an Ärzt:innen, die sich mit Sucht auskennen und substituieren. In Berlin sind wir gut aufgestellt, hier gibt es rund 120 Suchtmediziner:innen, aber in den Flächenländern ist es teilweise katastrophal. Besonders schlimm ist es in den neuen Bundesländern. Hinzu kommt, dass viele Substitutionsmediziner:innen sich bald zur Ruhe setzen und keine Nachfolger:innen finden.

US: Das größte Engagement wäre es, wenn Ärzt:innen sich weiterbilden und die Fachkunde „Suchtmedizinische Grundversorgung“ machen.

NL: Ebenso ist es möglich, konsiliarisch bis zu zehn Patient:innen zu betreuen und mit Suchtmediziner:innen zusammenarbeiten. Die Patient:innen gehen dann einmal im Quartal zur Suchtmedizinerin oder zum Suchtmediziner. Ich denke, dass ich für uns alle sagen kann, dass wir gerne beraten, wenn sich Kolleg:innen dazu entscheiden.

US: Allerdings ist das nur für opiatabhängige Patient:innen geregelt, und zwar im Rahmen einer Konsiliarbehandlung, die bei der Kassenärztlichen Vereinigung beantragt werden kann.

Was nehmen Sie Positives aus Ihrer Arbeit mit?

US: Viele Patient:innen sind dankbar, dass man ihnen Wertschätzung entgegenbringt. Das Verhältnis zu diesen Menschen ist ein besonderes.

NL: Dass es so viele Suchtmediziner:innen gibt, die das so viele Jahre machen und teilweise über ihre Pensionierung hinaus arbeiten, hat damit zu tun, dass es eine spannende Herausforderung ist und ein direktes und kreatives Arbeiten erfordert.

AM: Die Menschen, die wir behandeln, sind auch sehr spannende Menschen und es ist eine sehr wirkungsvolle Arbeit.

Alles auf einen Blick

Weiterführende Informationen zu Suchtmedizin und Suchtberatung

Hat Ihnen dieser Artikel gefallen?

Wir freuen uns über Ihr Feedback!

Ja
Nein

Vielen Dank!

Zur Ärztekammer Berlin