Wenn das Sozialamt über psychisch kranke Menschen entscheidet

Jahrzehntelang hat der Sozialpsychiatrische Dienst Menschen mit psychischen Erkrankungen bei der Eingliederung begleitet. Nun haben Teilhabefachdienste der Sozialämter diese Aufgabe übernommen. Insider diagnostizieren hier eine Fehlentwicklung.

Verwahrloste Wohnungen hat René de la Chaux schon viele gesehen. Das gehört gewissermaßen zu seiner Jobbeschreibung. Doch nicht so häufig und in dem Ausmaß wie in den vergangenen Jahren, erzählt der Leiter des Sozialpsychiatrischen Dienstes (SpD) Reinickendorf. Dieser Trend ist seiner Ansicht nach ein Spiegelbild dessen, was in der Eingliederungshilfe psychisch kranker Menschen in Berlin schiefläuft. „Wir sehen fehlgeleitete Hilfen, die am Bedarf schwer kranker Klienten völlig vorbeigehen“, sagt der Psychiater.

Das Problem: Seit der Überführung der Eingliederungshilfe in das Sozialgesetzbuch IX (Bundesteilhabegesetz) am 1. Januar 2020 hat der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) bei der Eingliederung psychisch Kranker praktisch nichts mehr mitzureden. Der alte Paragraf 59 des SGB XII, in dem die Zuständigkeit geregelt war, wurde ersatzlos gestrichen. Nach den neuen Ausführungsvorschriften Eingliederungshilfe (AV EH) der Berliner Senatsverwaltung für Arbeit, Soziales, Gleichstellung, Integration, Vielfalt und Antidiskriminierung (SenASGIVA) entscheiden in Berlin jetzt die neu geschaffenen Teilhabefachdienste in den Sozialämtern über die Leistungen für Menschen mit Behinderung und eben auch mit psychiatrischen Diagnosen. Dort sind Verwaltungsangestellte und Sozialarbeiter:innen tätig, keine Ärzt:innen. Die sozialpsychiatrischen Dienste sind nach der AV EH nur noch für die Erstellung eines Gutachtens beim Erstantrag vorgesehen, aber nicht mehr, wenn es um die Verlängerung, das Assessment oder die Beendigung der Hilfen geht.

Wir sehen fehlgeleitete Hilfen, die am Bedarf schwer kranker Klienten völlig vorbeigehen.

René de la Chaux,
Leiter des Sozialpsychiatrischen Dienstes (SpD) Reinickendorf

Operative Handhabung von Bezirk zu Bezirk unterschiedlich

Bernhard Lauter, der seit über 25 Jahren mit der Eingliederung von Menschen mit psychischen Erkrankungen oder geistiger Behinderung befasst ist, berichtet, dass sich im Zuge der Neuregelung vieles verschlechtert hat. Die Verfahren seien bürokratischer und komplizierter geworden, oft dauere es mehr als ein halbes Jahr, bis eine betroffene Person erstmals eine Hilfe erhalte, erzählt der Berufsbetreuer. „Viele geben einfach auf.“ Kritisch sieht er außerdem, dass der SpD erheblich an Einfluss verloren hat. Wenn etwa jemand seit 30 Jahren in der gleichen Einrichtung lebe und „die Sache klar“ sei, gehe es auch ohne Begleitung durch den SpD, meint er. Aber nicht, wenn Eingliederungslösungen für Menschen mit komplexen psychiatrischen Diagnosen gefunden oder angepasst werden müssten. „Da ist die Fachkompetenz des Sozialpsychiatrischen Dienstes unverzichtbar“, sagt Lauter. Heute sei es jedoch „Glücksache“, ob der SpD überhaupt in den Gesamtprozess einbezogen werde. „Das ist von Bezirk zu Bezirk hochgradig unterschiedlich. Das sind dann ganz andere Verfahren.“

Psychiater Dr. med. Jan Podschus vom Sozialpsychia­trischen Dienst Treptow-Köpenick bestätigt das und hat kein Verständnis dafür, dass der SpD oft übergangen wird: „Eingliederung ist eine Gesundheitsleistung.“ Schließlich gehe es hier um sehr kranke Menschen, etwa mit einer Schizophrenie, einer bipolaren Störung oder einer Suchterkrankung. Die zuständige Senatsverwaltung erklärt indes auf Nachfrage, dass die Teilhabefachdienste den Sozialpsychia­trischen Dienst weiterhin in Teilprozessen des Berliner Gesamtplanverfahrens beteiligten, dass deren „Expertise eingebunden“ werde.

Aber selbst wenn die Psychiater:innen gehört werden, am Ende treffen die Teilhabefachdienste die Entscheidungen, wie ein aktuelles Beispiel aus Reinickendorf zeigt: Mutter und Sohn leben im Einfamilienhaus zusammen. Der Sohn, mittlerweile über 50 Jahre alt, leidet an Schizophrenie, die Mutter kümmert sich um alles, bis sie schließlich an Demenz erkrankt. Dem Sohn wird das alles zu viel, er möchte gerne in eine Einrichtung für betreutes Wohnen. Der SpD Reinickendorf befürwortet das auch und sagt, die Mutter müsse eigentlich in ein Pflegeheim. Doch bei einem häuslichen Besuch durch den Teilhabefachdienst wehrt die Mutter jede Hilfe ab, der Sohn wird ambivalent und knickt schließlich vor der Mutter ein. Anders als der SpD sieht der Teilhabefachdienst keinen Handlungsbedarf. Das Verfahren wird eingestellt.

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Früher war der medizinische Blick maßgeblich

René de la Chaux kann darüber nur den Kopf schütteln. „Früher wäre so etwas eher nicht möglich gewesen, da wir uns mit der krankheitstypischen Ambivalenz auskennen und intervenieren konnten, bevor das Verfahren eingestellt worden wäre. Es läuft nicht prinzipiell alles schief, aber es ist sehr personenabhängig geworden.“

Vor 2020 hat der Sozial­psychiatrische Dienst den Teilhabeprozess von psychisch kranken Menschen von Anfang bis Ende begleitet. Einmal im Jahr fand ein interdisziplinäres Fallmanagement statt, bei dem Fallmanager:innen des Sozialamts, Vertreter:innen der Träger, die Klientin oder der Klient und eben der Sozialpsychiatrische Dienst zusammensaßen, um Ziele und Hilfen festzulegen und im Verlauf neu zu bewerten. Die Psychiater:innen erstellten nicht nur die Gutachten mit Diagnosen und Prognosen, sondern empfahlen – gemeinsam mit den Sozialarbeitern des Sozial­psychiatrischen Diensten als integrierte sozialpsychiatrische Fachentscheidung – Maßnahmen, die dann von den Sozialämtern gebilligt und von den Trägern umgesetzt wurden: Klientin A benötigt doppelt so viele Einzelhilfestunden pro Woche, Klient B muss dringend in eine Einrichtung und so weiter. Die psychiatrische Einschätzung hatte Gewicht.

Das habe lange gut funktioniert, bestätigt Karsten Wunderlich, leitender Sozialarbeiter des Sozial­psychiatrische Dienst Reinickendorf. „Heute müssen wir uns von den Sozialämtern anhören, dass Eingliederung nichts mit Medizin zu tun habe, und wir bekommen immer weniger Anfragen.“ Tatsächlich ist seit 2020 in allen Bezirken die Zahl der psychiatrischen Gutachten stark zurückgegangen, in Reinickendorf um 75 Prozent. Wunderlich sagt: „Da läuft etwas in die völlig falsche Richtung.“

Die Sozialpsychiatrischen Dienste beklagen außerdem, dass sie keine Informationen mehr bekommen, ob und welche Hilfen die Teilhabeplaner:innen genehmigen, also auch nicht erfahren, wie es nach einem Gutachten mit ihren Klient:innen weitergeht. Andererseits ist der SpD nach PsychKG dazu verpflichtet, den psychiatrischen Bedarf in den Bezirken festzustellen. „Da wir im wesentlichen Teilhabeprozess nicht mehr auftauchen, wird diese Arbeit enorm erschwert“, kritisiert Kristina Kluge. Die leitende Sozialarbeiterin des Sozial­psychiatrischen Dienstes Steglitz-Zehlendorf weist zudem darauf hin, dass jetzt diejenigen, die über Leistungen entscheiden, gleichzeitig auch die Kostenträger sind. „So etwas ist immer problematisch, gerade in Zeiten des Kostendrucks.“

Nicht nur Wünsche abfragen

Manchmal geht es allerdings auch um Überversorgung. Betreuer Lauter erinnert sich an einen Fall aus dem vergangenen Jahr, in dem die Teilhabeplanerin die Hilfebedarfsgruppe erhöhen wollte, um den Wünschen der Patientin zu entsprechen. Eine Ärztin des Sozial­psychiatrischen Dienstes habe dann ganz genau erklärt, warum dies in diesem Fall genau das Falsche sei; die Dame wäre dadurch nur noch weiter in die Unselbstständigkeit getrieben worden. „Das zeigt, wie unverzichtbar die ärztlich therapeutische Sicht ist“, so Lauter und wundert sich: „Man kann doch nicht einfach nur Wünsche abfragen. Manche unserer Betreuten wünschen sich halt immer das, was sie ins Verderben treibt.“

Einzuschätzen, ob ein nur von Krankheit beeinflusster Wille vorliegt oder ein, wie es Jurist:innen nennen, „freier Wille“, ist eine urärztliche Aufgabe. Psychiater:innen haben dafür ihr Fachwissen und spezielle Beurteilungstechniken. Im Bundesteilhabegesetz wird die Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderungen in den Mittelpunkt gestellt. Sinngemäß müsste danach jeder geäußerte Wille der Betroffenen handlungsleitend sein. Doch würde man auch einen kognitiv beeinträchtigten Menschen im Straßengraben liegen lassen, wenn der sich nicht helfen lassen will? „Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen wurden in dem Gesetz vergessen“, kommentiert Psychiater de la Chaux, da werde der Selbstbestimmungsgedanke „ideologisch“. „Der Staat hat eine Fürsorgepflicht, was auch das Bundesverfassungsgericht in dem Zusammenhang festgestellt hat. Leider sehen wir die an vielen Stellen nicht mehr gegeben.“

Ob der Sozial­psychiatrische Dienst Reinickendorf auch deshalb in den vergangenen Jahren öfter zu Kriseninterventionen gerufen wird? Ein kausaler Zusammenhang mit der Verfahrensänderung lässt sich aufgrund fehlender Datenerfassungsmöglichkeit nicht mit Sicherheit feststellen. Sicher ist nur, dass Prävention immer vor Krisenintervention gehen muss. Nicht zuletzt deshalb fordern die Sozialpsychiatrischen Dienste, dass die Eingliederung psychisch kranker Menschen wieder als medizinische Aufgabe betrachtet wird und dass alle Bezirke auch danach handeln. So wie in den Jahrzehnten zuvor.

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