Die unsichtbare Gefahr
Ob unbekannte Pillen geschluckt, Putzmittel getrunken oder gar das Nervengift Nowitschok berührt – die meisten der 130 Beratungen pro Tag drehen sich um dieselbe Frage: Ist die Situation lebensgefährlich oder nicht? Als der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny im August 2020 mit lebensgefährlichen Vergiftungssymptomen in Berlin landete, konnte sein Leben vor allem durch die Zusammenarbeit zwischen Intensivmedizin und Toxikologie gerettet werden.
Mit einem toxikologischen Blick war klar, dass die Symptome durch ein Nervengift hervorgerufen wurden. So war es damals möglich, lange vor dem Labornachweis die richtige Therapie zu beginnen und den Patienten vor dem Tod zu bewahren. Die erfolgreiche Netzwerkarbeit legte zudem den Grundstein für weitere Hospitationen, die seit September 2021 regelmäßig zwischen der Intensivmedizin und dem Giftnotruf stattfinden.
Kleines Giftnotrufzentrum mit großer Wirkung
Obwohl der Berliner Giftnotruf gemessen an seinem Einzugsgebiet zu den kleinsten Giftinformationszentren Deutschlands gehört – in Berlin und Brandenburg leben ungefähr sechs Millionen Menschen – ist die Einrichtung im Hinblick auf die Zahl der Beratungen das gefragteste deutschlandweit: Bis zu 45.000 Mal im Jahr gehen Fragestellungen zu möglichen Vergiftungen ein. Dabei stammen 50 Prozent der Hilfegesuche von Laien, die andere Hälfte von Ärzt:innen aus Krankenhäusern, Praxen oder Rettungswagen sowie von der Feuerwehr, Rettungsleitstellen oder Polizist:innen. Das zeigt eine aktuelle Auswertung der Zahlen aus dem Jahr 2023, die das Giftnotruf-Team erstellt hat.
Auch Behörden und Einrichtungen wie Pflegeheime, Schulen oder Kindergärten wenden sich regelmäßig mit toxikologischen Notfällen oder allgemeinen Fragen an die Expert:innen vom Giftnotruf.
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Zahlreiche Anfragen wegen Kleinkindern und Säuglingen
Am häufigsten stehen Kinder und Jugendliche unter Vergiftungsverdacht – das machen die Zahlen aus dem Jahr 2023 ebenfalls deutlich. In dieser Gruppe waren es wiederum meist Kleinkinder und Säuglinge, die etwas potenziell Giftiges gegessen oder berührt hatten. In den meisten Fällen konnten die Eltern, Großeltern, Lehrer:innen oder Erzieher:innen von den Krankenpfleger:innen, Ärzt:innen oder der Apothekerin, die zum Team des Giftnotrufes gehören, beruhigt werden. Denn oft ist nach der Befragung zur Einnahmesituation, also zur möglichen Art und Dosis des Giftstoffes klar: Die Kinder müssen nicht im Krankenhaus vorgestellt werden. In 80 Prozent der Fälle, in denen giftige Substanzen von Kindern und Jugendlichen geschluckt, gegessen oder berührt wurden, können die Kinder zu Hause bleiben.
Durch die telefonische Beratung sorgen die Giftprofis – gerade in Zeiten voller Rettungsstellen – dafür, dass sich weniger Patient:innen unnötig an den Rettungsdienst wenden oder in Krankenhausnotaufnahmen vorstellig werden.
Fakten über Gifte sammeln, bündeln, weitergeben
Außer am Telefon zu beraten, analysieren die Mitarbeitenden des Giftnotrufs kontinuierlich, welche Giftstoffe zu Vergiftungsfällen geführt haben und identifizieren so neue Risiken. Damit leisten sie einen großen Beitrag zur Prävention von Vergiftungen. Anhand von Einzelfällen lassen sich allgemeine Aussagen darüber treffen, wie giftig einzelne Substanzen und wie erfolgreich verschiedene Behandlungen sind. In Planung ist zudem, mithilfe der gewonnenen Erkenntnisse entsprechende Informationskampagnen in den sozialen Medien zu gestalten, etwa auf Instagram oder TikTok, um so einen größeren Teil der Bevölkerung zu erreichen und vor Vergiftungen zu warnen.
Weiterbildung zum Thema Vergiftungen
Um Wissen über Gifte und Vergiftungen auch unter Expert:innen in der Klinik zu thematisieren, bieten die Mitarbeitenden des Giftnotrufes zwei Weiterbildungen an: die zweieinhalbjährige Weiterbildung zur oder zum klinischen Toxikolog:in sowie einen Zwei-Tages-Kurs für die Vergiftungen mit Chemikalien im Rahmen des Kurses „Advanced Hazmat Life Support“ (AHLS). In diesen Kursen wird toxikologisches Wissen vermittelt, das nicht in den Weiterbildungscurricula der notfallmedizinischen Fächer enthalten ist. Der zweitägige AHLS-Kurs greift vor allem Vergiftungen mit Chemikalien auf. Er ist angelehnt an das Standardformat der Buchstaben-Kurse für Reanimation und Kinderversorgung und offen für alle Berufsgruppen, die mit Vergiftungen zu tun haben. Da sich Akutmaßnahmen zur Lebensrettung bei Vergiftungen nicht von den üblichen Maßnahmen unterscheiden, geht es hier vor allem um Ausnahmefälle, bei denen die Patient:innen durch die Vergiftung mit Chemikalien anders versorgt werden müssen.
Im Gegensatz zu dem kurzen AHLS-Kurs dauert die Weiterbildung zur oder zum klinischen Toxikolog:in mindestens zweieinhalb Jahre und ist verbunden mit einer Tätigkeit beim Giftnotruf. Voraussetzung zur Prüfungszulassung ist, dass Prüflinge in der Weiterbildungszeit mindestens ein halbes Jahr in der Intensivmedizin gearbeitet und viele verschiedene Vergiftungsbilder gesehen haben. Ein weiteres Kursformat ist zudem in Planung: Künftig wollen die Expert:innen des Giftnotrufes ihr Wissen in einem Vier-Tages-Kurs als Kompendium der klinischen Toxikologie anbieten. Bis es so weit ist, können toxikologisch interessierte Ärzt:innen schon für ein oder zwei Tage beim Giftnotruf hospitieren und sich dabei von Steindls Begeisterung für diesen anstecken lassen.