Erhöht der erste Schneefall das Herzinfarktrisiko?

Manche medizinischen Annahmen halten sich hartnäckig. Selbst manche Ärzt:innen geraten in Erklärungsnöte, wenn sie auf solche „Scheinwahrheiten” angesprochen werden. Unter dem Motto „Stimmt es eigentlich, dass ...?” wollen wir verschiedene Themen untersuchen und prüfen, was Mythos und was Evidenz ist. Diesmal: Erhöht der erste Schneefall das Herzinfarktrisiko? Eine evidenzbasierte Analyse. 

Winter in Berlin

Saisonale Herzinfarktspitzen: Wissenschaftlich gut belegt

Sobald der erste Schnee fällt, beginnt jedes Jahr die Diskussion, ob Herzinfarkte in dieser Zeit häufiger auftreten. Diese Aussage ist vielen aus Medienberichten oder kollegialen Gesprächen bekannt. Doch die Frage lautet: Gibt es dafür eine wissenschaftliche Grundlage? Die aktuelle Datenlage zeigt ein klares Bild, allerdings mit wichtigen Nuancen.

Mehrere große internationale Registerstudien zeigen seit Jahren, dass akute Myokardinfarkte im Winter deutlich häufiger auftreten. Die Inzidenz steigt in den kalten Monaten um etwa 10 bis 20 Prozent. Eine Metaanalyse aus 18 Ländern bestätigt, dass Kälteperioden mit einer signifikant höheren Mortalität bei koronarer Herzkrankheit verbunden sind. Entscheidend ist dabei allerdings die Temperatur, nicht der Schneefall selbst.

Auch rasche Temperaturabfälle spielen eine Rolle. So zeigte eine litauische Fall-Crossover-Studie mit über 16.000 AMI-Fällen, dass jeder zusätzliche Tag mit starkem Temperaturabfall das Infarktrisiko um rund 5 Prozent erhöht. Vergleichbare Ergebnisse liegen aus Kanada, Japan, Deutschland und Skandinavien vor. Besonders gefährdet sind ältere Menschen, Hypertoniker:innen und Patient:innen mit bekannten koronaren Herzerkrankungen.

Warum Kälte das Risiko erhöht

Die physiologischen Mechanismen hinter diesem Zusammenhang sind gut untersucht. Kälte führt zu Vasokonstriktion, Blutdruckanstieg und erhöhter Herzfrequenz. Gleichzeitig steigt die Blutviskosität und gerinnungsfördernde Faktoren werden verstärkt aktiviert. Mehrere Studien zeigen, dass selbst moderate Kälteeinwirkung bei vulnerablen Patient:innen zu einer relevanten Kreislaufbelastung führt.

So demonstrierte beispielsweise eine Untersuchung mit kardial vorerkrankten Männern, dass sich die thrombogenen Marker vWF und D-Dimer bei Belastung bei −15 °C im Vergleich zu +22 °C messbar erhöhen. Diese Effekte verstärken sich, wenn weitere Belastungsfaktoren wie Flüssigkeitsmangel, Infekte oder emotionaler Stress hinzukommen.

Schneefall und Herzinfarktrisiko

Die Frage, ob der erste Schneefall ein unabhängiger Risikofaktor ist, lässt sich klar beantworten: Die Evidenz hierfür ist schwach. Es existiert keine hochwertige Metaanalyse, die Schneefall als eigenständigen Risikofaktor identifiziert. Der Zusammenhang ergibt sich vielmehr indirekt.

Typisch für den ersten Schneefall sind:

  • der erste deutliche Temperaturabfall des Winters,
  • verändertes Verhalten, z. B. Schneeschaufeln oder längere Arbeitswege,
  • Stresssituationen durch Glätte und Verkehrsbehinderungen.

Besonders das Schneeschaufeln ist gut untersucht. Mehrere Studien beschreiben es als klassischen Auslöser für akute koronare Ereignisse. Der „perfekte Sturm“ aus Kälte, intensiver Belastung und Stress betrifft vor allem ältere, überwiegend männliche Personen mit kardialen Vorerkrankungen. Eine Analyse aus Taiwan mit über 300.000 akuten Myokardinfarkt-Fällen zeigte, dass bei Temperaturen unter 15 °C jeder weitere Grad Kälte das Infarktrisiko um rund 1 bis 1,2 Prozent erhöht – in der Gruppe der über 50-Jährigen mit Hypertonie sogar noch mehr.

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Relevanz für Berlin und den klinischen Alltag

Berlin erlebt zwar selten extreme Schneemengen, jedoch regelmäßige Kälteeinbrüche und rasche Temperaturwechsel. Daten aus der Region zeigen ebenfalls saisonale Spitzen kardiovaskulärer Ereignisse im Winter. An den ersten kalten Tagen sind viele Berliner:innen stärker belastet: längere Wege, Glätte, verspätete Verkehrsmittel, Infekte und geringere körperliche Aktivität summieren sich zu einem erhöhten Stressniveau. Für besonders gefährdete Gruppen wie ältere Menschen oder Personen mit Vorerkrankungen können diese Faktoren in Kombination mit Kälte eine erhebliche Belastung darstellen.

Praktische Empfehlungen für die ärztliche Beratung

In der Prävention sollte betont werden, dass nicht der Schnee, sondern die Kälte und die Belastung die entscheidenden Faktoren sind. Sinnvolle Empfehlungen für Patient:innen umfassen:

  • körperliche Schonung an sehr kalten Tagen, besonders bei Vorerkrankungen,
  • Vermeidung von schwerer Arbeit im Freien (z. B. Schneeschaufeln),
  • stabile Blutdruck- und Lipidkontrolle während der Wintermonate,
  • ausreichende Wärmeexposition und Hydration,
  • frühzeitige Abklärung belastungsabhängiger Beschwerden.

Der erste Schneefall ist in diesem Sinne ein guter Anlass für präventive Kommunikation, auch wenn er keine eigenständige epidemiologische Größe darstellt.

Fazit

Der weit verbreitete Satz „Mit dem ersten Schneefall steigt das Herzinfarktrisiko“ ist nur teilweise korrekt. Ja, mit dem Wintereinbruch nimmt das Risiko für akute Myokardinfarkte zu. Und ja, typische Kälteaktivitäten wie Schneeschaufeln fungieren als Trigger. Doch der Schneefall selbst ist nicht ursächlich. Entscheidend sind Kälte, Belastung und Stress. Der erste Schneefall signalisiert lediglich den Beginn der winterlichen Risikoperiode.

Die Quellen- und Literaturhinweise wurden aus Gründen der Lesbarkeit entfernt. Sie können per E-Mail an bei der Redaktion angefordert werden. 

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