„Die Patient:innen, die über die Clearingstelle kommen, fallen in unserer Praxis nicht auf“

Die Clearingstelle hilft Menschen ohne Krankenversicherung. Sie berät und übernimmt die Kosten für dringende medizinische Behandlungen und vermittelt Hilfesuchende an Praxen aus ihrem Netzwerk. Doch es fehlt an ärztlichen Kooperationspartner:innen. Im Interview berichten Dr. med. Ulrich Bohr, Facharzt für Innere Medizin und Gastroenterologie sowie Infektiologie, Dr. med. Miriam Doblhofer, Fachärztin für Augenheilkunde und Louise Zwirner, die Projektleiterin der Berliner Clearingstelle für nicht krankenversicherte Menschen über ihre Zusammenarbeit.

Louise Zwirner
Interview mit
Louise Zwirner

Projektleiterin der Berliner Clearingstelle für nicht krankenversicherte Menschen

Foto: privat
Dr. med. Miriam Doblhofer
Interview mit
Dr. med. Miriam Doblhofer

Fachärztin für Augenheilkunde

Foto: Fräulein Fotograf / Constanze Wenig
Dr. Ulrich Bohr
Interview mit
Dr. med. Ulrich Bohr

Facharzt für Innere Medizin und Gastroenterologie sowie Infektiologie

Foto: privat

Redaktion: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, mit der Clearingstelle zusammenzuarbeiten?

Miriam Doblhofer (MD): Unsere Praxis ist vor etwa vier Jahren von der Berliner Stadtmission angefragt worden. Seitdem sind wir Kooperationspartnerin der Clearingstelle. 

Ulrich Bohr (UB): Wir sind Kooperationspartnerin, seit es die Clearingstelle gibt, also seit etwa fünf Jahren. Bei uns kam der Kontakt über meinen Kollegen, Dr. med. Hanno Klemm, zustande. Er hatte damals eine Doppelfunktion inne. Er war leitender Arzt der damaligen Malteser Flüchtlingsmedizin und hat gleichzeitig an der kassenärztlichen Versorgung teilgenommen. Unsere Praxis hat dann Patient:innen ohne Krankenversicherung mit Infektionskrankheiten und zur suchtmedizinischen Behandlung, also Substitution, über die Clearingstelle übernommen.

Frau Zwirner, wie sind Sie auf die Gemeinschaftspraxis von Dr. med. Doblhofer aufmerksam geworden?

Louise Zwirner (LZ): In unserem Netzwerk gab es keine Fachärzt:innen für Augenheilkunde. Wir haben verschiedene Praxen angeschrieben. Als sich die Gemeinschaftspraxis von Dr. Doblhofer gemeldet hat, waren wir sehr dankbar. 

Zur Zusammenarbeit mit der Praxis von Dr. Bohr möchte ich noch etwas ergänzen, um die Schnittstelle zur niedrigschwelligen Versorgung deutlich zu machen. Sein Mitarbeiter Dr. Klemm war der Leiter der Malteser Medizin für Menschen ohne Krankenversicherung (MMM), eine Anlaufstelle für Menschen ohne Krankenversicherung, die dort anonym behandelt werden. Leider gibt es nicht genug solcher Anlaufstellen. Zudem reichen die medizinischen Möglichkeiten in diesen Parallelsystemen nicht aus. Gerade bei infektiologischen oder komplexeren Erkrankungen ist eine weitergehende Diagnostik notwendig. Zum Beispiel werden Laborleistungen, Medikamente oder andere diagnostische Verfahren, wie Bildgebung benötigt. Diese zusätzlichen und notwendigen Leistungen konnte die MMM nicht abdecken. Sie können nur von einer echten Facharztpraxis und nicht von einer Hilfsarztpraxis erbracht werden. So kam dann der Kontakt zustande. 

Hatten Sie oder Ihr Praxisteam Vorbehalte, mit der Clearingstelle zusammenzuarbeiten?

MD: Wir hatten keine Vorbehalte, wussten aber auch nicht, was uns erwartet. Uns hat der Gedanke gefallen, uns zu engagieren. Die Patientinnen und Patienten, die über die Clearingstelle kommen, fallen in unserer Praxis nicht auf. Unsere Praxis ist bunt und lebendig. Zudem sind die Zahlen überschaubar. Wir behandeln etwa ein bis zwei Betroffene pro Woche, dann wieder ein paar Wochen lang niemanden. Wir benötigen auch keine gesonderten Sprechzeiten. Die Patient:innen terminieren wir während der regulären Sprechzeit.

UB: Unsere Praxis hat schon immer Menschen ohne Krankenversicherung behandelt; wir sind eine der ältesten Schwerpunktpraxen für Suchtmedizin und versorgen Menschen mit HIV. Mein Vorgänger, Dr. med. Jörg Gölz, war Vorreiter der Substitutionsbehandlung in Berlin. Daher sind wir es seit Ende 80er-Jahre gewohnt, Menschen ohne Krankenversicherung zu behandeln. Wir sind dankbar, dass es die Clearingstelle gibt, über die wir Unterstützung erhalten. Unsere Arbeit wird vergütet und die Medikamente werden bezahlt. Unsere Praxis versorgt aktuell 35 Patient:innen, die über die Clearingstelle kommen. 

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Gibt es bürokratische Hürden?

MD: Die Abrechnung ist in der Regel unkompliziert. Die Patient:innen kommen mit einer Art Überweisungsschein von der Clearingstelle, auf dem steht, welche Kosten pro Quartal übernommen werden. Die erbrachten Leistungen rechnen wir nach der Gebührenordnung der Ärzte (GOÄ) zum einfachen Satz ab.

UB: Im Prinzip ist es einfach. Besonders, wenn die Patient:innen von der Clearingstelle kommen und bereits eine Kostenübernahme mitbringen. Nicht krankenversicherte Menschen müssen aber erst den Weg zur Clearingstelle finden. Dazu gehört eine gewisse Kompetenz der Betroffenen. Durch die Abrechnung zum einfachen Satz ist uns klar, worauf wir uns einlassen.

LZ: Ich bin dankbar, wie wohlwollend Sie sich gegenüber der Clearingstelle äußern. Mir ist bewusst, dass es hin und wieder bürokratische Hürden gibt. Es gibt formale Anforderungen und der jeweilige Kostenrahmen muss eingehalten werden, denn das Budget der Clearingstelle ist begrenzt. Jede Behandlung wird im Vorfeld mit einer Kostenobergrenze geplant. Wird diese überschritten, müssen wir vor der Behandlung informiert werden. Bei einer Überweisung zu einem anderen Facharzt müssen die Patient:innen erneut bei uns vorsprechen und sich eine neue Kostenübernahme abholen.

Da uns leider einige Fachrichtungen im Netzwerk fehlen, klappt die Überweisung nicht immer. Dies ist nicht nur für die Patient:innen schrecklich, auch für unsere Ärzt:innen ist es schwer, wenn ihre Patient:innen nicht schnell genug woanders weiterversorgt werden können. Komplexere Behandlungen oder Laborleistungen erfordern zusätzliche Absprachen. Allerdings wissen die Ärzt:innen nicht immer genau, wie hoch die Laborleistungen sein werden, die sie beauftragen. Dies kann problematisch sein. Standardmäßig sind für alle Fachbereiche maximal 150 Euro pro Quartal für Laborleistungen vorgesehen, im infektiologischen Bereich maximal 500 Euro. Das beauftragte Labor muss ebenso Kooperationspartner der Clearingstelle sein –  mittlerweile kooperieren viele Labore mit uns. 

Was sind die größten Herausforderungen in Ihrer Zusammenarbeit?

UB: Manchmal wird es problematisch, wenn das Budget der Clearingstelle knapp wird. Zu uns kommen Substitutionspatient:innen, für die es lebensgefährlich ist, wenn sie ihr Substitut nicht bekommen. Wir machen uns große Sorgen, wenn die Clearingstelle meldet, dass das Budget für das Jahr fast aufgebraucht ist. Deshalb kann ich nur an den Berliner Senat appellieren, die Clearingstelle finanziell abzusichern. Das ist ein wichtiger Beitrag für die Berliner Gesellschaft, dass Patient:innen aus den Randgruppen abgesichert sind.

LZ: Es ist eine große Herausforderung, den Betroffenen einen Krankenversicherungsschutz zu bieten beziehungsweise dessen Fehlen zu kompensieren. Wir sind keine Krankenversicherung. Wir arbeiten mit begrenzten Mitteln.

Wir müssen die Behandlungen im Vorfeld planen und können nur mit Netzwerkpartner:innen abrechnen. Jede schwerwiegendere Erkrankung, bei der verschiedene Fach- oder Leistungsbereiche involviert werden müssen, wie zum Beispiel bei einer stationären Behandlung, wird dadurch erschwert, dass wir jeden Behandlungsschritt planen und budgetieren müssen. Für kooperierende Ärzt:innen kann es zuweilen belastend sein, wenn sie Betroffene mit auffälligem Befund an Kolleg:innen überweisen möchten, wir aber keine kooperierende Praxis für diese Fachrichtung haben. Das ist auch für uns sehr schwierig, wenn diese Menschen vor uns sitzen.

AM: Sucht ist in der Regel nicht monokausal, sondern es gibt verschiedene Begleitthemen, die beachtet werden sollten. Ärzt:innen sollten sich überlegen, ob sie das alleine hinbekommen oder weitere Akteure brauchen. Wir sind in Berlin mit Suchtberatungsstellen und anderen unterstützenden Akteuren, etwa der Familienhilfe, gut aufgestellt. In der Regel können Ärzt:innen eine Suchterkrankung allein nicht vollumfänglich gut behandeln, oftmals kommen andere Erkrankungen hinzu und vor allem weitere Themen wie beispielsweise Wohnungslosigkeit, laufende Strafverfahren, familiäre Belange oder auch das Fehlen einer Krankenversicherung dazu. In allen Bereichen eines Substanzmissbrauchs oder einer Abhängigkeitserkrankung gilt es, diese Faktoren ebenfalls zu berücksichtigen und interdisziplinär zu behandeln. Das funktioniert in beide Richtungen: Wir von der Suchtberatung holen die Medizin mit an Bord und die Medizin nimmt uns mit.

Welche Fachgebiete fehlen in Ihrem Netzwerk?

LZ: Das variiert immer wieder. Im Moment fehlen die Bereiche Orthopädie, Gynäkologie, Gastroenterologie, Kardiologie, Urologie, Nephrologie, Pulmologie sowie Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie. Wir hatten einen Patienten mit einer Kieferfraktur, den wir nirgendwo unterbringen konnten. Aktuell haben wir Patient:innen die dringend, orthopädisch versorgt werden müssen, aber es gibt keine Termine für sie. 

Die Bedürfnisse der nicht versicherten Patient:innen unterscheiden sich nicht sehr von denen der Versicherten. Allerdings sind diese Patient:innen häufig wesentlich kränker und haben schwerwiegendere Erkrankungen, weil sie sehr spät ärztliche Hilfe bekommen. Im Grunde werden alle Fachbereiche gebraucht. 

Welche Menschen kommen über die Clearingstelle in Ihre Praxis?

UB: Das Spektrum von nicht versicherten Menschen in unserer Praxis ist sehr breit. Während der Corona-Pandemie kamen beispielsweise Künstler:innen zu uns, die ihre Beiträge zur Künstlersozialkasse nicht bezahlen konnten. Es kommen aber auch Selbstständige, die die Prämien ihrer privaten Krankenversicherung (PKV) nicht aufbringen können, Obdachlose oder Drogenabhängige.

Vielleicht ist es wichtig zu sagen, dass die Clearingstelle zuerst prüft, ob sie die Betroffenen wieder in ihre Krankenversicherung bringen kann. Manchmal schaffen es die Menschen nicht, direkt mit ihrer Krankenversicherung zu verhandeln. Dann baut die Clearingstelle eine Brücke und sorgt dafür, dass diese Menschen in den Notlagentarif ihrer PKV kommen. Das ist sehr hilfreich, weil eine Praxis das organisatorisch nicht leisten kann. Unversicherte Personen schicken wir dann erstmal zur Clearingstelle. 

LZ: Unser Anspruch ist es, immer zu klären, ob es eine Krankenversicherung oder einen anderen Kostenträger gibt. Deshalb können wir erst dann Kostenübernahmen ausstellen, wenn die Menschen bei uns vorstellig geworden sind und wir ihre finanzielle Situation besprochen haben und geprüft haben, ob sie nicht doch noch eine Versicherung haben, denn auch bei Beitragsschulden in der gesetzlichen Versicherung müssen notwendige Behandlungen von der Versicherung übernommen werden. Das wissen die Betroffenen oft gar nicht.

MD: In unsere Praxis kommen hauptsächlich Patient:innen, die kaum oder nur schlecht Deutsch sprechen und die aus verschiedensten Gründen in Berlin gelandet sind. Meist sind es Erwachsene mit akuten oder langwierigen Erkrankungen.

Gibt es einen Fall, der Sie besonders berührt hat?

MD: Mich bewegen die einzelnen Schicksale. Wenn zum Beispiel Menschen mit Augenverletzungen kommen, die sie im Krieg oder auf der Flucht erlitten haben. Sie kommen voller Hoffnung und wir können nichts mehr für sie tun. Manchmal können wir helfen, ein Patient konnte nach einer Katarakt-Operation nach Jahren wieder richtig sehen und ist viel selbstständiger geworden.

UB: Ich würde gerne darüber berichten, was passieren würde, wenn es die Clearingstelle nicht gäbe. Ich behandle einen HIV-positiven Patienten aus Schottland, der durch den Brexit seine Krankenversicherung verloren hat. Nachdem er seine Krankenversicherung verloren hatte, kam er nicht mehr in unsere Praxis. Seine Medikamente setzte er für ein halbes Jahr ab. Sein Immunsystem war so geschwächt, dass er mit einer cerebralen Toxoplasmose, mit schwerstem neurokognitivem Defizit stationär auf die Infektiologie aufgenommen wurde. Heute, ein Jahr später, hat er immer noch mit diesen Defiziten zu kämpfen. Und das nur, weil er ein halbes Jahr lang nicht krankenversichert war und keine Tabletten genommen hat. Mittlerweile ist er wieder versichert.

An diesem Patienten kann man sehen, was passieren kann, wenn Menschen keinen Zugang zum medizinischen Versorgungssystem haben. Nicht nur, dass es ihm gesundheitlich sehr schlecht ging, auch die Folgekosten, die dadurch entstanden sind, waren um ein Vielfaches höher als die Kosten für seine damaligen Medikamente. Hier merkt man deutlich, wie wichtig die Arbeit der Clearingstelle ist.

LZ: Dem kann ich nur zustimmen. Wir fragen uns, wie es den Betroffenen geht, die durch das Raster fallen oder den Hilfesuchenden, die in Bundesländern leben, in denen es keine Clearingstelle gibt. In Berlin haben wir zumindest ein Konstrukt, um unversicherten Menschen den Zugang zu medizinischer Behandlung zu ermöglichen, auch wenn das bei Weitem nicht die bestmögliche Lösung ist. Andere Bundesländer haben das nicht. Wir sollten aber noch einen Schritt weiter gehen und auf Bundesebene strukturelle Zugangsmöglichkeiten für alle Menschen zu einer regulären Krankenversicherung für alle schaffen.

Welche Empfehlungen haben Sie für Kolleg:innen, die mit der Clearingstelle kooperieren wollen?

UB: Melden Sie sich bei der Clearingstelle! Mit der Clearingstelle kann man gut reden. Die Zusammenarbeit lohnt sich. Man wird als Kooperationspartner nicht mit Patient:innen überschwemmt, sondern immer erst von der Clearingstelle angefragt. Es gibt auch die Möglichkeit, diese Art der Versorgung zu begrenzen.

MD: Haben Sie keine Hemmungen! Die Zusammenarbeit ist unkompliziert und funktioniert. Sie können etwas Gutes tun. Es kommen keine Massen von Patient:innen, alles ist überschaubar.

Alles auf einen Blick

Clearingstelle für nicht krankenversicherte Menschen

In Berlin leben schätzungsweise etwa 60.000 Menschen, die keinen Zugang zur gesundheitlichen Versorgung haben.

Die Clearingstelle für nicht krankenversicherte Menschen berät seit 2018 alle Menschen, die ohne (ausreichenden) Krankenversicherungsschutz sind. Sie vermittelt Ratsuchende in eine Krankenversicherung oder prüft andere Möglichkeiten, um Betroffene in die Regelversorgung aufzunehmen. Seit fünf Jahren kann die Clearingstelle auch die Kosten für notwendige medizinische Behandlungen übernehmen. Trägerin der Clearingstelle ist der Verein für Berliner Stadtmission.

Kontakt
Verein für Berliner Stadtmission
Clearingstelle für nicht krankenversicherte Menschen
Lehrter Straße 68
10557 Berlin

T +49 30 690 33 59 71

 

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