Seit Monaten versuchen die Niedergelassenen auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Doch Öffentlichkeit und Politik tun sich schwer, die Dynamik der Entwicklung zu erfassen. Der oft geäußerte Vorwurf, es gehe vor allem um mehr Geld für Ärzt:innen, verkennt die Wirkung der Faktoren, die schon länger bestehen und die Praxen strukturell belasten. Dazu gehören zum Beispiel die Budgetierung und die damit verbundene Regressgefahr, aber auch der Zwang zur Digitalisierung.
Steigende Kosten werden nicht ausgeglichen
Die Ampelregierung einigte sich in ihrem Koalitionsvertrag zwar darauf, das Budget für Hausarztpraxen abzuschaffen, doch konkret wurde sie damit bisher noch nicht. Lediglich bei vielen Kinderarztleistungen ist die Budgetierung inzwischen aufgehoben. Allerdings hat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) Anfang 2023 eine Regelung gestrichen, die sowohl für Patient:innen als auch für Arztpraxen von Vorteil war: die Neupatientenregelung. Sie honorierte den Mehraufwand, der durch neu aufgenommene Patient:innen in Praxen entsteht. Das hat viele Ärzt:innen sehr verärgert. Das Vertrauen in die Politik hat nicht zuletzt deshalb sehr gelitten.
Besonders seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie, des Ukraine-Kriegs und infolge der hohen Inflation sind Praxen durch stark steigende Betriebskosten enorm belastet. Diese Kosten werden jedoch nicht von den Honoraren der gesetzlichen Krankenkassen ausgeglichen. Vielmehr steigen diese seit Jahren zu wenig und lagen zuletzt stets unterhalb der Inflationsrate. Ein realer Einkommensverlust ist die Folge.
So einigten sich Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) und der Verband der gesetzlichen Krankenkassen (GKV-Spitzenverband) für das Jahr 2024 auf eine Honorarerhöhung um 3,85 Prozent. Das ist verglichen mit den Ergebnissen der Finanzierungsverhandlungen aus früheren Jahren ein Plus, aber dennoch zu wenig, um steigende Energie-, Personal- und Investitionskosten auszugleichen. Der Virchowbund hält eine Honorarsteigerung von 15 Prozent für notwendig. Dazu kommt, dass für viele Leistungen, die die Krankenkassen nicht bezahlen, aktuelle Honorarrichtlinien fehlen.
Honorare
Die Gebührenordnung (GOÄ) legt Honorare für Leistungen fest, die keine Satzungsleistungen der Gesetzliche Krankenkassen sind. Die gültige GOÄ stammt im Wesentlichen aus dem Jahr 1982 und wurde zuletzt 1996 in Teilen erneuert. Viele moderne medizinische Leistungen bildet die veraltete GOÄ nicht ab, was häufig zu Streitigkeiten führt. Die Bundesärztekammer fordert eine grundlegende Reform der Gebührenordnung.
In der Folge fehlt den Praxen Geld, um das Personal angemessen zu bezahlen. Viele Praxen können offene Stellen kaum besetzen, weil Medizinische Fachangestellte (MFA) auch von Krankenhäusern beschäftigt werden – und dort häufig mehr verdienen. Außerdem gibt es trotz der Beliebtheit des Berufes unter Schulabgänger:innen nicht genügend nachrückende MFA. Die Abbrecherquote unter den Auszubildenden ist zudem vergleichsweise hoch.
Das wird auch den schlechten Arbeitsbedingungen in vielen Praxen zugeschrieben. Zeitdruck bei zu vielen Aufgaben – überbordende Bürokratie, Probleme mit der Digitalisierung – und zu wenig eigenverantwortliches Arbeiten befördern die Unzufriedenheit. Zudem beklagen die MFA zunehmend die fehlende Wertschätzung für ihren Beruf. Trotz wiederholter Forderungen, auch von Ärzteverbänden, konnte sich die Politik etwa nicht zu einem Bonus für den Einsatz der MFA während der Pandemie durchringen. Gleichzeitig nehmen die Berichte über respektloses Verhalten und sogar Gewalt von Patient:innen gegenüber Praxismitarbeiter:innen zu. Viele MFA fühlen sich überlastet und verlieren die Freude an ihrem Beruf.
Ich bin seit über 25 Jahren MFA. Seit circa einem halben Jahr denke ich täglich darüber nach, den Job hinzuschmeißen und so geht es vielen, sehr vielen.
Fehlende Wertschätzung, zu hohe Risiken
Auch die Unzufriedenheit von Praxisinhaber:innen nimmt spürbar zu. Eine repräsentative Umfrage der Stiftung Gesundheit unter 781 Ärzt:innen kam Anfang Oktober 2023 zu einem ernüchternden Ergebnis: Die Stimmung ist so schlecht wie noch nie, seit das Stimmungsbarometer im Jahr 2006 startete. Vor allem Fachärzt:innen beklagen die Lage und haben negative Zukunftserwartungen. Bei Psychotherapeut:innen und Hausärzt:innen sank die Stimmung zwar ebenfalls, allerdings weniger stark.
Hauptursache für den Pessimismus ist nicht die finanzielle Situation – diese belegt Platz 3 –, sondern sind Entscheidungen und Vorgaben aus der Politik und der Selbstverwaltung sowie die Folgen der Digitalisierung. Auch der Forschungsleiter des Stimmungsbarometers ist besorgt.
Wenn die niedergelassene Ärzteschaft so einhellig die Ausübung ihres Berufs zum fünften Mal in Folge als zutiefst belastend und unbefriedigend wahrnimmt, dann sind nachhaltige Konsequenzen zu befürchten.
Immer mehr Praxisinhaber:innen denken darüber nach, ihren Praxissitz früher als ursprünglich geplant ganz oder teilweise zu verkaufen. Junge Ärzt:innen entscheiden sich hingegen immer öfter gegen die Niederlassung in einer Einzelpraxis und arbeiten angestellt. Fast die Hälfte aller ambulant tätigen Ärzt:innen und Psychotherapeut:innen waren 2022 in kooperativen Strukturen tätig – in einigen Facharztgruppen liegt der Anteil bei über 90 Prozent, bei Psychotherapeut:innen beträgt er hingegen nur elf Prozent.
Besonders für Fachärzt:innen ist die Einzelpraxis zum Auslaufmodell geworden, doch auch Hausärztinnen entscheiden sich zunehmend dagegen. Die Hauptgründe: zu hohe Investitionskosten, zu hohe Arbeitsbelastung, zu schlechte Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
Ungleichgewicht bei Betriebsarten
Einzelarztpraxen stehen als Betriebsform aber nicht nur in einem Wettbewerb mit Praxisgemeinschaften oder Gemeinschaftspraxen, sondern auch mit Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) und ärztlich geführten Großpraxen. Besonders MVZ in Trägerschaft von Krankenhäusern werden von niedergelassenen Ärzt:innen und berufsständischen Vertretungen kritisiert, vor allem, wenn Kapital aus Private Equity Gesellschaften im Spiel ist. Oft lautet der Vorwurf, dass in diesen MVZ das Patientenwohl hinter wirtschaftlichen Interessen zurücksteht und dass die Politik zu wenig dagegen vorgeht.
Nach den Plänen der Bundesregierung soll es künftig weitere Betriebsformen im ambulanten Bereich geben, die nicht zwingend ärztlich geleitet werden müssen: So zum Beispiel Gesundheitskioske vor allem in Bezirken mit sozialen Problemlagen, primärärztliche Versorgungszentren, in denen unterschiedliche Berufsgruppen interdisziplinär integrierte Versorgung leisten sollen, kommunal organisierte Versorgungsstrukturen sowie Gesundheitsregionen, in denen unterschiedliche Betriebsformen in Netzwerkstrukturen zusammenarbeiten.
Wie in diesem Potpourri an Betriebsformen und Zuständigkeiten das Ziel verwirklicht werden kann, ambulante und stationäre Versorgung zu verbinden, ist derzeit unklar. Zwar hat sich das Bundesgesundheitsministerium vorgenommen, die Ambulantisierung voranzutreiben und zum Beispiel mehr Operationen, die bisher in Krankenhäusern stattfinden, von niedergelassenen Ärzt:innen durchführen zu lassen. Doch um die dazu notwendigen Umstrukturierungen bei der Honorierung gibt es Streit, Stichwort Hybrid-DRG. Die Niedergelassenen befürchten, dass die Krankenkassen dadurch Kosten einsparen wollen und fordern, dass Operationen immer gleich vergütet werden – egal ob sie ambulant oder stationär erfolgen.
Forderungen der Niedergelassenen
Seit Sommer 2023 fanden zahlreiche Proteste und Aktionstage statt, um auf die Situation der ambulanten Medizin aufmerksam zu machen, auch von Seiten der MFA. Auf der Website Praxis in Not listet der Virchowbund Maßnahmen auf, die Praxen ergreifen können, um weiter auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Darunter sind auch solche, die zu Leistungseinschränkungen führen, wie zum Beispiel eine 4-Tage-Woche oder stundenweise Praxisschließungen.
Es gilt das bewährte System zu sichern und zu erhalten, statt es kaputt zu sparen, wie es aktuell erfolgt. Der Gesetzgeber muss dafür sorgen, dass die Akteure im Gesundheitswesen vernünftig bezahlt und die Rahmenbedingungen optimiert werden. Der ambulante Sektor darf nicht vernachlässigt werden. Einen Zusammenbruch kann sich die Gesellschaft nicht leisten.
Nach einer Krisensitzung im August hat die Kassenärztliche Bundesvereinigung dem Bundesgesundheitsminister einen Forderungskatalog inklusive Lösungsvorschlägen übergeben. Nach langem Schweigen hat der Minister Anfang November zugesagt, sich um einige der Forderungen zu kümmern. Dazu zählen die Entbürokratisierung in den Praxen, die hausärztliche Entbudgetierung, eine bessere Digitalisierung und die Abwehr der Regressgefahr.
7 Forderungen an die Politik
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Tragfähige Finanzierung durch Beendigung der Minusrunden bei Honorarverhandlungen mit den Krankenkassen
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Abschaffung der Budgetierung
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Gleiche Spielregeln für Krankenhäuser und Praxen bei der Ambulantisierung
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Sinnvolle Umsetzung der Digitalisierung ohne Sanktionen und mit freier Hand für die datengestützte Patientensteuerung
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Stärkung der ärztlichen Weiterbildung
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Weniger Bürokratie
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Abschaffung von Regressen