Synthetische Opioide auf dem Vormarsch

Mit Sorge berichtete Joanna M. De Morais, Wissenschaftlerin vom „European Monitoring Centre for Drugs and Drug Addiction“ (EMCDDA) Ende Mai 2024 auf dem 44. Kongress der europäischen Giftzentren und Toxikologen in München von neuen synthetischen Opioiden in Europa. Auch der US-amerikanische Toxikologe, Dr. Dr. Richard C. Dart, Direktor des „Rocky Mountain Poison and Drug Safety “, Denver, warnte vor einer noch stärkeren Ausbreitung von synthetischen Opioiden weltweit.

„Die Mengen an synthetisch hergestellten Drogen, die in Europa beschlagnahmt werden, nimmt zu“, mahnte Joanna De Morais. Im Jahr 2022 seien 30,7 Tonnen an neuen synthetischen Substanzen beschlagnahmt worden, wie die Zahlen aus dem europäischen Drogen-Frühwarnsystem deutlich machten. Zu den neuen psychoaktiven Substanzen gehörten beispielsweise vollständig synthetisch hergestellte und semisynthetische Cannabinoide, Cathinones – ähnliche Wirkung wie Amphetamine und Kokain – und eben auch synthetische Opioide.

Besonders gefährlich seien laut De Morais neue synthetische Opioide aus der Gruppe der 2-Benzylbenzimidazole, auch Nitazene genannt, von denen einige um ein Vielfaches stärker wirkten als Morphin oder sogar Fentanyl. Im Unterschied zu den USA, in denen Fentanyl das bestimmende synthetische Opioid sei, würden in Europa mehr und mehr Nitazene identifiziert: Sechs von sieben synthetischen Opioiden, die 2023 zum ersten Mal an das Europäische Frühwarnsystem gemeldet wurden, waren Nitazen-Abkömmlinge.

Besonders perfide: Drogenmischungen mit Nitazenen

Gefährliche Überdosierungen könnten vor allem dadurch entstehen, dass Nitazen fälschlicherweise als Heroin oder Arzneimittel an Konsumierende verkauft würde, erklärte die Wissenschaftlerin aus Lissabon. Diese wüssten nichts von der weitaus höheren Potenz der Substanz, die sie zu sich nehmen und seien daher gefährdeter, Substanzen falsch zu dosieren bis hin zu lebensbedrohlichen Überdosierungen.

Waren Nitazenbedingte Todesfälle vor 2023 noch auf die baltischen Staaten beschränkt, treten seit einem Jahr auch immer mehr Fälle in anderen Ländern der EU auf, so De Morais weiter. Zu einer Überdosierung ohne Todesfall es beispielsweise im November 2023 in Irland gekommen: 57 Personen mussten allerdings mit akuten Vergiftungserscheinungen in der Notaufnahme vorstellig werden. Anfang dieses Jahres tauchte das synthetische Opioid zudem in zwei irischen Gefängnissen auf.

Die Gefahr durch hochpotente Opioide beschrieb auch Dr. Dr. Richard C. Dart, Direktor des Rocky Mountain Poison and Drug Safety, USA, als zunehmendes Problem in Nordamerika. Hier seien synthetische Opioide mittlerweile für die meisten Drogentoten verantwortlich. Zu Überdosierungen und Todesfällen käme es dort auch immer häufiger, weil synthetische Opioide mit anderen Drogen gemischt, aber nicht als solche ausgezeichnet würden.

Fentanyl oder Nitazen?

In den USA spielen, wie beschrieben, nicht Abkömmlinge der Nitazen-Gruppe, sondern das synthetische Opioid Fentanyl eine führende Rolle, erklärte der amerikanische Toxikologe weiter. Fentanyl sei für bis zu 70.000 Drogentote jährlich verantwortlich. Laut dem Europäischen Drogenbericht 2024 starben in Europa im Jahr 2022 insgesamt 163 Menschen an einer Fentanyl-Überdosierung oder an einer Überdosierung eines Fentanyl-Derivates, in Deutschland waren es 73 Menschen.

Die Opioid-Krise in den USA konnte sich vor allem durch den Missbrauch von Opioid-Verschreibungen entwickeln. Dabei spielten anfangs vor allem die Opioide Hydrocodon und Oxycodon eine große Rolle. Später wurde die entstandene Krise durch große Mengen illegaler Opioide wie zum Beispiel Fentanyl noch verstärkt. Wenn Schmerzpatient:innen keine Rezepte mehr bekamen, beschafften sie sich das Opioid auf dem Schwarzmarkt. Am Ende sei es häufig zu Todesfällen durch Überdosierungen gekommen, so der US-amerikanische Toxikologe zur Abhängigkeitsspirale. Im Unterschied dazu würden heutzutage junge Erwachsene durch synthetische Opioide sterben, weil sie Tabletten mit Opioid-Gemischen auf Partys konsumierten, ohne vorher abhängig gewesen zu sein.

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Synthetische Opioide könnten Opiumlücke schließen

Synthetische Opioide tauchen immer häufiger auf den internationalen Drogenmärkten auf. Grund dafür könnte das Opium-Anbau-Verbot der Taliban-Regierung im April 2022 sein: Da Afghanistan die Hauptquelle des Opiums ist, das in Europa konsumiert wird, könnte das Opiumverbot einen Heroinmangel zur Folge haben. Diese Lücke schließen möglicherweise synthetische Opioide, spekulierte De Morais von der EMCDDA. Da diese sehr viel potenter seien als Morphin, sei auch eine höhere Dosis an Naloxon nötig, um deren Wirkung bei einer Überdosierung zu antagonisieren.

Dart, der in seinem Vortrag einen Überblick über die 25-Jahre währende Opioid-Krise in den USA gab, warnte vor einer großen Drogenwelle, die sich nicht auf Opioide beschränken werde. So habe sich nicht nur die Mortalitätsrate in Zusammenhang mit synthetischen Opioiden in den USA erhöht, zudem würden immer mehr Menschen durch Stimulanzien-, Benzodiazepin- oder Antidepressiva-Überdosierungen sterben. Und allgemein sei die Zahl der Menschen, die Drogen missbrauchten, viel höher als noch vor 24 Jahren.

Da sich das Verhalten der Konsumierenden verändert habe, müssten Präventionsprogramme breiter angelegt werden, um diese Drogenwelle aufzuhalten. Wichtig sei auch, Schäden, die im Zusammenhang mit der Sucht entstünden, durch Maßnahmen wie saubere Nadeln, geschützte Konsumräume, mehr Kapazitäten für psychiatrische Behandlung zu begrenzen. „Vor allem aber müssen wir die Antwort auf die Frage finden, warum so viel mehr Menschen psychedelische Drogen konsumieren. Nur so können wir das Drogenproblem an der Wurzel packen und es lösen“, konstatierte Dart am Ende seines Beitrags.

Alles auf einen Blick

Europäischer Drogenbericht 2024

Laut dem Drogenbericht 2024 des „European Monitoring Centre for Drugs and Drug Addiction“ (EMCDDA), der am 11. Juni 2024 veröffentlicht wurde, stehen Cannabis und Kokain bei den konsumierten Drogen in Europa an erster und zweiter Stelle. Eine Aufstellung der beschlagnahmten Drogen in der EU zwischen 2010 und 2022 zeigt, dass Kokain am meisten – um 376 Prozent – gestiegen ist. Dicht gefolgt von Methamphetaminen mit plus 293 Prozent, pflanzlichem Cannabis mit plus 184 Prozent und Heroin mit einem Anstieg von 91 Prozent.

Unter den Drogen, die ursächlich für tödliche Überdosierungen sind, führen Opioide in Europa: Drei Viertel der tödlich verlaufenden Überdosierungen sind Opioiden zuzuordnen. Im Jahr 2022 starben in der Europäischen Union insgesamt 6.392 Menschen an einer Überdosis Opioide. Die EMCDDA macht darauf aufmerksam, dass diese Zahlen nur eingeschränkt aussage­kräftig sind, da nicht alle Staaten der EU die Anzahl der Drogentoten zum gleichen Zeitpunkt melden und die Meldeverfahren zudem unterschiedlich sind. In Deutschland werden zum Beispiel nur bei der Polizei gemeldete Überdosierungen aktenkundig. Daher geht die EMCDDA von einer viel höheren Anzahl an Drogentoten aus.

Zum BerichtEuropean Drug Report 2024

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