Tischgespräch im Mai 2023

Freitagabend. Ich sitze in der Kneipe und trinke etwas mit meinem Nachbarn. Mein Nachbar ist Lehrer und hat immer frei. Den Witz mache ich jedes Mal. Dafür belächelt er meinen Doktortitel. Wir sind also quitt.

Tischgespräch. Kolumne von Eva Mirasol

„Ich war gestern bei meinem Hausarzt“, berichtet mein Nachbar.

„Wieso denn das?“, frage ich.

„Ich hatte doch neulich erhöhte Triglyzeride im Gesundheitscheck.“

„Hast du meinen Rat befolgt und die Werte im Anschluss an eine Ausnahmesituation kontrollieren lassen?“

„Natürlich! Ich habe extra den Männertag abgewartet, um sagen zu können, dass ich sonst nie Alkohol trinke.“

„Hat es geklappt?“

„Es war gar nicht nötig. Meine Werte waren normal, und der Hausarzt war begeistert. Trotzdem hat er mir einen langen Vortrag darüber gehalten, was hätte passieren ‚können‘, wenn sie erhöht gewesen ‚wären‘. Fast hätte er noch den Kollegen dazu geholt, um sich mit ihm prophylaktisch zu beraten.“

„Ist dein Hausarzt Internist?“

„Woher weißt du das?“

„Internist:innen denken viel, beraten sich, und denken dann wieder viel. In der Klinik läuft das in etwa so: Der Kardiologe fragt die Nephrologin, die holt den Rheumatologen, der die Endokrinologie, und von dort ruft man in der Hämaonko an. Am Ende haben zehn Orchideenfächer irgendeine Spezialmeinung abgegeben, ohne dass etwas dabei rauskommt außer dem Skiurlaub für den Radiologen, der die CTs abrechnet.“

Mein Nachbar lacht: „Und wer den Karren am Ende aus dem Dreck zieht und den Blinddarm einfach rausschneidet, sind die Chirurg:innen.“

„Glaub mir, das Problem zieht auch privat Kreise. Ich wollte mir letztes Jahr einen Tisch kaufen, nicht zu groß, denn die Küche ist klein, aber 1,40 m schien mir zu knapp, 1,50 m hingegen zu groß. Ich habe hin und herüberlegt, mit Freund:innen diskutiert, die Familie befragt, mehrfach gemessen – und schließlich habe ich die Internistenlösung genommen.“

„Was ist die Internistenlösung?“

„1,45 m. Und jedes Mal, wenn Besuch kommt, brauche ich einen Beistelltisch.“

„Was hätte der Chirurg gemacht?“

„Einen eins-achtzig Tisch reingeballert und notfalls die Küche versetzt.“

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Mein Nachbar lacht wieder.

„Das Problem ist die gegenseitige Bestätigung – das ist wie in einer Klinik für Essstörungen, wo man kränker raus- als reingeht, wegen all der Tipps, auf die man alleine gar nicht käme.“

Mein Nachbar runzelt die Stirn: „Wie meinst du das?“

„Stell dir vor, jemand hat eine leichte Nierenschwäche. ‚Hmm‘, sagt da die Neurologie, auch ein nachdenkliches Fach mit eingeschränkter Interventionsmöglichkeit: ‚Fragen wir mal den Nephrologen‘. Der nimmt Blut ab, sammelt Urin, mikroskopiert, nimmt wieder Blut ab, findet nichts, aber es könnte ja was Seltenes sein, also ab in die Rheumatologie. Dort ist auf einmal das Natrium niedrig: zurück zum Nephrologen. Der macht das Gleiche noch mal, findet wieder nichts und übergibt an die Endokrinologie. Dort wird es interessant: Für den einen Wert muss man liegen, für den anderen stehen, und irgendeine Laborentnahme findet ziemlich sicher um Mitternacht statt.“

„Warum denn das?“

„Weil die Produktion vieler Hormone einer tageszeitlichen Rhythmik unterliegt. Kortisol zum Beispiel ist um Mitternacht am niedrigsten, ein hoher Wert fällt daher gut auf. Der Patient stellt also seinen Wecker auf 24 Uhr und gibt eine Speichelprobe ab. Die Endokrinolog:innen werden sich jetzt fragen, was das niedrige Natrium mit einem Speichel um Mitternacht zu tun hat?“

„Ich frage mich das auch!“, ruft mein Nachbar.

„Nichts“, grinse ich. „Aber wenn man schon mal dabei ist … Und wer hat nicht während Corona an Gewicht zugenommen und fragt sich, ob das nicht auch hormonell bedingt sein könnte?“

„Klingt aufregend.“

„Siehst du, das finde ich auch und wer hat schon einen Mitternachtsspeichel im Repertoire? Für medizinische Verhältnisse ist das Romantik pur. Was sagt der Kardiologe? Katheter! Der Lungenarzt? Lungenfunktion! Die Nephrologin? Überraschung – Urinprobe! Die Endokrinologen hingegen …“

„Drüsenärzte“, freut sich mein Nachbar.

„Wie bitte?“

„Ich habe gerade kurz gegoogelt: Wenn du online nach der Berufsbezeichnung suchst, findet sich die geschmeidige Übersetzung: Drüsenarzt. Es lebe die deutsche Sprache! Und dann noch der Mitternachtsspeichel – ich als Germanist plane gedanklich schon eine Märchenadaption.“

Dann zeigt er mir sein Labor.

„Das ist aber schon grenzwertig“, sage ich.

Den Rest des Gesprächs können Sie sich vorstellen.

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