Tischgespräch im März 2023

Freitagabend. Ich sitze in der Kneipe und trinke etwas mit meinem Nachbarn. Mein Nachbar ist Lehrer und hat immer frei. Den Witz mache ich jedes Mal. Dafür belächelt er meinen Doktortitel. Wir sind also quitt.

„Heute kann ich nicht lange bleiben“, sage ich.

„Hast du morgen nicht Urlaub?“, fragt mein Nachbar.

„Doch, aber erst nach dem Nachtdienst.“

„Gehst du dann um Mitternacht?“

„Schön wär‘s. Ich hoffe nur, dass nichts Unangenehmes passiert. Oft schleppt man etwas mit in den Urlaub, und die letzten Dienste waren angenehm unspektakulär.“
„Ich drücke dir die Daumen“, sagt er, und dann muss ich los.

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Zu Dienstbeginn übernehme ich eine Patientin mit einer Herzfrequenz von 30/min. Sie ist 93 Jahre alt, diskret geschminkt, elegant frisiert, teure Bluse – wären da nicht die Überwachungskabel, man wähnte sie am Set eines Rosamunde-Pilcher-Films.

„Sind Sie sich sicher?“, fragt die Oberärztin.

„Ja“, sagt die Frau freundlich. „Mein Ticket ist längst gelöst. Ich möchte nicht reanimiert werden.“

„Wenn wir schnell handeln, wird das nicht nötig sein. Sie bekommen einen Schrittmacher und gehen wieder nach Hause.“

Die Frau schüttelt den Kopf. „Womit muss ich rechnen?“

Die Oberärztin seufzt: „Das Reizleitungssystem ihres Herzens ist unterbrochen, ihre Herzkammern schlagen in einem Ersatzrhythmus mit niedriger Frequenz. Auf Dauer reicht das nicht aus, außerdem besteht ein hohes Risiko für Kammerflimmern.“

„Ist das die tödliche Herzrhythmusstörung, von der Sie sprachen?“, fragt die Patientin.

„Ja. Wenn wir Sie dann nicht wiederbeleben, werden Sie bewusstlos. Ein Schrittmacher kann das verhindern.“

Die Frau lächelt freundlich. „Vielen Dank für das Angebot, aber ich möchte das nicht.“

Vor der Zimmertür nimmt mich die Oberärztin beiseite. „Ich weiß, es fällt schwer, aber wir müssen es akzeptieren.“

Ich nicke.

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Der Dienst ist hektisch, doch der Monitor der alten Dame bleibt ruhig. Bis kurz vor Dienstende. Als ich in das Zimmer stürze, sind ihre Augen nach oben verdreht, ihr schmaler Hals zuckt, ihr Mund schnappt – es ist das Luftholen des Körpers im Herzkreislaufstillstand. Ich zwinge meine Hände in meine Kitteltasche. Sie wollen sie reanimieren, sie drücken, sich bewegen, etwas tun.

Ihre  Augenlider flattern, der Mund ist still, ich setze mich an ihr Bett und halte ihre Hand. Die Schwester steht neben mir. Auf dem Monitor flimmert es, der Blutdruck fällt, die Sättigung sinkt, wir sehen ihr beim Sterben zu. Auf einmal ist das Flimmern weg, die Linie zappelt auf null, ein Schlag, dann wieder nichts. Dann noch ein Schlag, dann lange nichts. Ich halte die Hand der alten Frau. Furchen, Flecken – es sind schöne alte Hände, Blutgefäße, papierne Haut. Die Linie bleibt auf null. Mir steigt ein Kribbeln in die Nase. Ich lasse los. Es ist vorbei.

Da. Ein Ton. Eine Zacke auf dem Monitor. Manchmal geht es doch noch eine Weile.

Aber plötzlich: Die Augenlider flattern. Ich springe auf. Drei Zacken, vier, der Monitor piept. Ein Blutdruck. Ein Zittern. Ich greife ihre Hand.

„Können Sie mich hören?“, rufe ich.

Sie stöhnt. Der Hals atmet. Der Mund auch.

Vielleicht kann sie uns hören. Wir sehen ihr beim Leben zu, und es bleibt dabei: ein regelmäßiger Rhythmus, dreißig Schläge, als wäre nichts gewesen. Die Frau bewegt ihren Kopf, sie lebt.

Als der Frühdienst kommt, sitze ich immernoch an ihrem Bett. Kein Wort aus ihrem Mund. Kein Wort aus meinem, obwohl es mich drängt. Hat sie ein Licht gesehen? Hat sie etwas gehört? Was war mit dem Ticket?

„Sie ist wiedergekommen“, sage ich zur Oberärztin. Meine Stimme krächzt.

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Als ich nach Hause komme, begegne ich meinem Nachbarn.

„Du siehst übel aus“, sagt er.

Wieder das Kribbeln, dann kommen mir Tränen, wer hält schon Leben und Tod dieselbe Hand?

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In meinem Urlaub denke ich oft an die alte Dame, und zweimal träume ich von einem Kabel, an dessen Ende ein weißes Herz baumelt. Als ich wiederkomme, frage ich nach ihr. Die Oberärztin lacht. „Sie ist nicht gestorben. Sie hat ihre Meinung geändert und einem Schrittmacher zugestimmt. Einen Tag später wurde sie entlassen.“

Mein Nachbar freut sich mit mir. „Wie kann das sein?“

„Vielleicht trug ihr Ticket das falsche Datum.“

Er lächelt. „Würdest du gerne wissen, welches Datum deines trägt?“

Ich überlege kurz.

Er auch.

„Nein“, sagen wir beide gleichzeitig.

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