Tischgespräch im Juni 2023

Freitagabend. Ich sitze in der Kneipe und trinke etwas mit meinem Nachbarn. Mein Nachbar ist Lehrer und hat immer frei. Den Witz mache ich jedes Mal. Dafür belächelt er meinen Doktortitel. Wir sind also quitt.

„Jetzt haben wir uns tatsächlich drei Wochen nicht gesehen“, sagt mein Nachbar.

„Das ist Rekord“, seufze ich. „Doch ich komme mit der Arbeit nicht hinterher.“

„Hast du nicht Schichtdienst und wirst abgelöst?“

„Das sagt mein Oberarzt auch, wenn er die Neuen beiseitenimmt und ihnen erklärt, dass man im Schichtdienst keine Überstunden macht.“

„Stimmt das denn?“

„Natürlich nicht. Niemand lässt einfach den Stift fallen, wenn der Nachtdienst kommt. Meistens betreut man mehrere Patient:innen gleichzeitig, und bei der Übergabe befindet sich jeder Fall in einem anderen Bearbeitungsstadium. Wenn man das alles dem Nachtdienst überhilft, ist dieser handlungsunfähig, bevor der Dienst überhaupt begonnen hat. Es geht ja auch immer weiter, und gerade nachts sind die Leute oft wirklich krank.“

„Ist das so?“

„Mal so, mal so. Neulich kam jemand, weil noch Licht brannte.“

„Wirklich?“

Ich grinse. „Wirklich. Aber die überwiegende Mehrheit braucht Hilfe, und da lässt man seinen Nachtdienst nicht im Stich. Das läppert sich eben.“

„Klingt nicht gut“, sagt mein Nachbar.

„In Kombination mit der Erwartungshaltung der Vorgesetzten, ständig irgendwelche Zusatzaufgaben zu übernehmen oder jemandes Urlaub oder Krankheit zu vertreten, sogar sehr schlecht.“

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Mein Nachbar prostet mir mitfühlend zu.

Ich nicke: „Augen auf bei der Berufswahl. Das hat mein ehemaliger Oberarzt immer gesagt. So als ob die Ausnutzung ärztlicher Arbeitskraft in Stein gemeißelt wäre. Das System ist von Menschen für Menschen gemacht, und ich frage mich, warum sich ausgerechnet in Heilberufen das hartnäckige Gerücht hält, es sei zielführend, das Personal gesammelt in den Burn-out zu schicken.“

„Womöglich geht es wie überall vor allem ums Geld.“

„Natürlich. Aber in den meisten anderen Branchen hat zumindest irgendjemand irgendwo irgendwann verstanden, dass der Ton die Musik macht und dass, wer respektvoll behandelt wird, oft sogar mehr leistet. Das hieße zum Beispiel, dass ich die Überstunden, die ich mache, zumindest aufschreiben darf.“

Mein Nachbar runzelt die Stirn. „Gibt es nicht genau dafür Tarifverträge?“

„Natürlich gibt es die, und wenn die Überstunde drinsteht, wird sie auch bezahlt. Aber bis dahin ist es ein weiter Weg. Ein Freund von mir muss mit einer Excel-Tabelle persönlich beim Oberarzt vorsprechen, und der sieht sich erst die Begründung an, bevor er die Stunden überträgt. Bis auf meinen Kollegen schreibt daher niemand auch nur eine einzige Überstunde auf, und auch er tut es nur, weil er irgendwann versehentlich entfristet wurde.“

Mein Nachbar lacht.

„Ein Tarifvertrag macht, dass Überstunden dokumentiert werden können, aber dann gibt es eben vorher Druck, und solange in einer Abteilung kolportiert wird, dass, wer länger bleibt, entweder zu dumm oder zu langsam, in jedem Fall aber selbst schuld ist, so lange hilft der Tarifvertrag nur denen, die ohnehin kündigen wollen.“

„Puh“, sagt mein Nachbar wieder.

„Das Schlimme ist das Aufrechnen und der Vorverdacht – ich würde liebend gerne immer pünktlich nach Hause gehen, ohne Zusatzzahlungen, dafür mit der Option auf ein normales Sozialleben. Aber wenn die Arbeit darauf ausgelegt ist, dass man sie nicht schaffen kann, sollte dies honoriert werden, und zwar, indem man die geleisteten Überstunden respektiert. Stattdessen gibt es immer jemanden, der dir erzählt, dass du zu lange für die Anamnese brauchst, zu ausführlich dokumentierst oder zu wenig fokussiert denkst. Doch selbst die schlimmsten eigenen Versäumnisse sind in der Regel nicht einmal die halbe Miete, was schon alleine daran sichtbar wird, dass überall dieselben Geschichten erzählt werden – und dass jetzt wirklich alle ihre Approbation im Lotto gewonnen haben sollen, kann doch niemand ernsthaft glauben.“

„Möchtest du nicht doch endlich Lehrerin werden?“, fragt mein Nachbar grinsend.

„Ist das Bildungssystem nicht auch ein wenig angeknackst?“

Er grinst. „Zumindest kannst du deine Überstunden zu Hause machen.“

„Ich überlege es mir“, sage ich. Und dann zahle ich die nächste Runde.

Von meiner erst gestern heimlich eingetragenen Überstunde.

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