Tischgespräch im Juli 2023

Freitagabend. Ich sitze in der Kneipe und trinke etwas mit meinem Nachbarn. Mein Nachbar ist Lehrer und hat immer frei. Den Witz mache ich jedes Mal. Dafür belächelt er meinen Doktortitel. Wir sind also quitt.

„Du siehst schon wieder fürchterlich aus“, sagt mein Nachbar.

„Danke“, sage ich. „Das ist ein schönes Kompliment an einem Freitagabend.“

„Ich glaube, es liegt an den eingefallenen Wangen. Isst du nichts auf der Arbeit?“

„Nein. Wann denn?“

„Na mal so zwischendrin?“

„Keine Chance. Um sieben komme ich an, dann ist Übergabe. Um acht bringt die Feuerwehr das Heim von nebenan in die Rettungsstelle. Ab Mittag melden sich die ersten Studierenden mit Bauchschmerzen, ab 16 Uhr geht es mit den Betrunkenen weiter. Und schon ist wieder ein Tag vergangen, an dem ich theoretisch zu jedem Zeitpunkt spontan operiert werden könnte, so nüchtern bin ich.“

Mein Nachbar lacht. „Kein Frühstück, kein Mittagessen, und Abendessen erst nach Einbruch der Dämmerung – das klingt wie Ramadan. Oder ist Trinken erlaubt?“

„Theoretisch ja, praktisch nein.“

„Wie machen das die anderen?“

„Unterschiedlich. Einer trinkt die Babynahrung seines Kindes, ein anderer die Kaloriendrinks für Krebspatient:innen. Und der Oberarzt hat eine Frau, die ihm jeden Morgen drei Spiegeleier brät.“

„Der Oberarzt müsste man sein.“

„Möchte man meinen, aber der Oberarzt ist vegan. Seine Frau und er lassen sich scheiden, und sie ärgert ihn.“

Er lacht. „Und, was machst du?“

„Seit eine Kollegin ein Pferd besitzt, bringen alle ihr altes Brot in die Rettungsstelle mit. Das wird in einer großen Tüte im Schwesternzimmer gesammelt, und wer will, darf sich bedienen.

„Und, das reicht dir?“

„Ich hoffe auch ein wenig auf die Spiegeleier vom Oberarzt.“

Mein Nachbar grinst.

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Der nächste Dienst ist wieder einer, in dem an Essen nicht zu denken ist, und die Diagnoseliste meiner nächsten Patientin ist länger als so manche medizinische Dissertation. Neben ihrer Trage auf dem Flur stehen Schwester Susanne und ein Angehöriger. Der Mann beugt sich über die Patientin und lächelt sie liebevoll an. Die dreht den Kopf weg und sagt: „Mein Mann sieht anders aus. Ich kenne diesen Menschen nicht.“

Alle lächeln milde. Es ist nicht leicht mit Demenz, für keinen der Beteiligten.

Der Mann tätschelt ihr beruhigend die Wange: „Aber Schatz, was soll das, wir wachen doch jeden Tag gemeinsam auf.“

Die Frau schüttelt den Kopf. Fast ein wenig gerührt beobachte ich, wie der Mann sie liebevoll in die Arme nimmt, und komme nicht umhin, die Patientin, die sich heftig wehrt, ein wenig undankbar zu finden. Aber es gelingt ihm, ihr einen Kuss auf den Mund zu drücken, und die Frau sinkt zurück auf ihr Kissen.

„Hier ist die Versichertenkarte“, sagt Schwester Susanne. „Stecken Sie sie lieber ein, bevor sie verloren geht.“

Der Mann nimmt die Karte, wirft einen Blick darauf und sagt: „Aber das ist nicht meine Frau.“

„Jetzt fangen Sie nicht auch noch an.“

„Aber meine Frau heißt anders.“

„Sie haben sich doch aber gerade umarmt.“

Der Mann scheint verwirrt: „Aber wir heißen anders. Ich dachte mir schon, dass sie irgendwie verändert aussieht. Aber gleich einen neuen Namen?“ Er wird lauter: „Vielleicht sollten Sie in Zukunft Ihre Leute besser markieren!“

„Ich muss doch sehr bitten“, sagt Schwester Susanne, und ich denke nach.

Habe ich diesen Mann nicht schon mal gesehen? Am Ende hat er gar keine Frau und geht bei uns auf Partnersuche? Womöglich gibt es eine Dating-App, die die Anzahl der Singles in den Rettungsstellen anzeigt – Blinddaten auf emergency-love.com, inklusive Extra-Adrenalinfaktor für den Fall, dass man per Krankenkassenkarte überführt wird. Oder analoges Tindern: rechtes Bett ja, linkes nein. Ich sehe schon die Werbung von Lilly Pharma: Tindern mit Demenz: Nur noch erste Male!

Doch dann: Eine leise Stimme ruft vom anderen Ende des Flurs: „Schatz, was machst du bei der anderen Frau?“

Wir drehen uns um. Der Mann wird rot, ich werde rot, Susanne wird rot.

Nur die Frau, von der alle dachten, sie sei dement, richtet sich auf und sagt laut und deutlich: „Kann jetzt bitte jemand herausfinden, an welchem Bett mein Mann gerade steht?“

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