Tischgespräch im Februar 2023

Ich sitze in der Kneipe und trinke etwas mit meinem Nachbarn. Mein Nachbar ist Lehrer und hat immer frei. Den Witz mache ich jedes Mal. Dafür belächelt er meinen Doktortitel. Wir sind also quitt.

„2020 haben alle in Epidemiologie promoviert, 2021 in Impfstoffentwicklung, 2022 in Außenpolitik, und jetzt übernehmen die Hobbyisten aus der Pädiatrie.“

Mein Nachbar lacht. „Ich sehe, du bist auf der Suche nach einem philosophischen Gespräch.“

„Bis vor Kurzem wusste niemand, was ein RS-Virus überhaupt ist, und jetzt schlaumeiert jeder zweite Blog davon, dass Kinder keine kleinen Erwachsenen sind.“

„Niemand weiß das übrigens besser als ein Lehrer.“ Er grinst.

„Ich fand die Welt recht streng mit dem armen Karl. Am Ende hat er sich doch nur von der Bildungspolitik inspirieren lassen. Wir haben seit Jahren keine ausgebildeten Lehrkräfte mehr, nur noch Quereinsteiger:innen, und da dachte er wohl, funktioniert doch super mit den BWLer:innen im Deutsch-Leistungskurs, warum nicht ein paar Urolog:innen in die Kinderklinik. Immerhin haben viele Kinder auch einen Penis.“ „Ist es wirklich so schlimm bei euch?“, frage ich.

„Wir sind so katastrophal unterbesetzt, dass ich Seminare leite, in denen von 30 Leuten nur drei wirklich Lehramt studiert haben. Die müssen dann zuhören, wie ich dem Rest in einem Crashkurs beibringe, dass Nicht-Schlagen nur ein pädagogischer Ansatz unter vielen ist.“

Ich muss lachen.

„Es sind wirklich unterirdische Zustände. Das ist übrigens kein Vorwurf an die meist wirklich motivierten Quereinsteiger:innen. Aber nur weil du über Frösche promoviert hast, bist du noch lange kein guter Biologielehrer.“

„Schwimmlehrer vielleicht?“

„Auch das unterrichtet sich besser, wenn Untertauchen nicht zu deinen Erziehungsmethoden gehört. Die ganze Misere ist ja an den Grundschulen und solchen mit sonderpädagogischem Schwerpunkt noch viel dramatischer, denn da sitzen die Kleinen und Schwachen. Von einer Kollegin weiß ich, dass einer die Kinder regelmäßig hat nachsitzen lassen. An einer Förderschule! Der Mangel ist seit Jahren bekannt. Genauso wie die unterdurchschnittlichen Leistungen der Schüler:innen. Wusstest du, dass in Berlin eine zusätzliche Prüfung erfunden wurde, damit es im deutschlandweiten Vergleich nicht so peinlich wird und ein paar mehr durchs Abitur kommen? Das Prüfungsformat heißt Präsentationsprüfung. Da basteln dir deine Eltern oder irgendein jüngerer Millennial-Cousin eine schicke PowerPoint-Präsentation über die Geschichte des Hip-Hop, und du sahnst Punkte ab.“

„Klingt nach amerikanischer Highschool.“

„Berlin ist eine amerikanische Highschool. Die Lieblingsfächer meiner Schüler:innen sind der Eventkurs und …“

„Germanistik?“

„Nur, wenn es ‚Fack ju Göhte‘ Teil 5 gibt.“

„Der Lehrer dort war ja auch ein Quereinsteiger.“

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Er grinst. „Ganz selten sind die Präsentationen natürlich auch mal gut. Aber ich bin strenger als sonst, weil ich nicht will, dass wieder nur die mit den schlauen Eltern gewinnen.“ „Du nimmst diese Prüfungen ab?“

„Alle machen das. Drei Lehrkräfte pro Prüfling. Dafür fällt dann ein paar Tage der reguläre Unterricht aus.“ Er lacht. „Das war übrigens neulich auch bezeichnend. Ich war auf einer Party in einer reichen Villa in Dahlem eingeladen und habe am Buffet zwei Mütter belauscht, die sich beschwert haben, dass an der Schule ihrer Söhne schon WIEDER drei Tage der Unterricht ausgefallen ist. Die eine so: ‚Was MACHEN die denn den ganzen Tag?‘ Die andere: ‚Willkommen in der Berliner Bildungsmisere.‘ Fast hätte ich sie gefragt, wer die Präsentationsprüfung ihrer Kinder erstellt hat und wer die dann abgenommen hat, an den drei Tagen, an denen schon WIEDER der Unterricht ausgefallen ist. Ich sage dir, jedes einzelne Partygespräch, bei dem Lehrer-Bashing betrieben wird, trägt dazu bei, dass kein junger Mensch mehr diesen Beruf ergreifen will. Außer ein paar Schauspieler:innen vielleicht, aber die müssen dann Mathe unterrichten, weil den Eventkurs ja schon der Wasserkraftingenieur macht.“

Ich grinse. „Müsst ihr eigentlich auch schon triagieren?“

„Du meinst: ‚Sorry, bei dir lohnt es sich nicht‘?“

„So ähnlich.“

Mein Nachbar grinst. „Ich triagiere den ganzen Tag. Aber wir sind vom Thema abgekommen. Ging es nicht um die Misere an den deutschen Kinderkliniken?“ Er macht eine kurze Pause: „Egal, wie laut du Bach hörst, Karl hört Lauterbach.“

Ich pruste los.

„Liegt mir schon die ganze Zeit auf der Zunge, ist aber leider nicht von mir. Früher dachte man dabei an den Schauspieler.“

„Heiner Lauterbach? Was macht der eigentlich so?“ „Wahrscheinlich Quereinstieg. Ich sehe morgen mal in meiner Schule nach.“

„Letzte Runde?“

Wieder nicke ich, und dann gehen wir nach Hause.

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