Tischgespräch im April 2023

Freitagabend. Ich sitze in der Kneipe und trinke etwas mit meinem Nachbarn. Mein Nachbar ist Lehrer und hat immer frei. Den Witz mache ich jedes Mal. Dafür belächelt er meinen Doktortitel. Wir sind also quitt.

Ich zeige meinem Nachbarn ein Foto auf meinem Handy. Aus Versehen blättere ich ein wenig zu weit.

„Oh mein Gott“, sagt er. „Seit wann fotografierst du in deiner Freizeit Gefängnisse?“

„Das ist das ärztliche Dienstzimmer“, sage ich.

„Da ist ja die Kneipentoilette gemütlicher.“

Ich nicke. „Es scheint eine unausgesprochene architektonische Übereinkunft zu geben, das Zimmer möglichst aufenthaltsfeindlich zu gestalten.“

Mein Nachbar zoomt das Bild heran.

„Hilfreich sind hohe Decken bei schmaler Bodenfläche“, sage ich. „Das verstärkt das Gefühl, in einem Schacht gefangen zu sein. Dazu gelb-grünliche Wände und ein Computer mit Lüftungsproblem, sozusagen als akustisches Wohlfühlhindernis.“ Mein Nachbar schüttelt mitfühlend den Kopf. „Ein selten inspirationsloser Ort.“

„Jedoch der einzige, an dem die Krankenhauslogistik funktioniert. Ich weiß nicht warum, vielleicht haben die Reinigungskräfte Mitleid, aber das Bett ist immer frisch bezogen, und das, obwohl man oft keine zehn Minuten drin liegt.“

„Nicht mal im Bereitschaftsdienst?"

„Du stellst wie immer die richtigen Fragen.“

„Aber ihr habt doch eine Interessenvertretung.“ Ich nicke. „Die wird auch immer besser, aber im Alltag ist Bereitschaft eben doch nicht immer Bereitschaft.“ „Wahrscheinlich lesen die Patient:innen eure Tarifverträge nicht.“

Ich grinse. „Dafür lesen sie ihre Arztbriefe sehr genau. Neulich hat sich eine Patientin beschwert, wir hätten lauter Lügen in ihre Anamnese geschrieben, sie sei nicht Buchhalterin, sondern Finanzbuchhalterin, ihre tägliche Trinkmenge betrage 1,7 Liter und nicht 1,5, und sie schwitze schon seit drei Jahren, nicht erst seit zwei. Ob wir das bitte ändern würden, unsere unprofessionelle Dokumentation trüge sonst rechtliche Konsequenzen.“

Mein Nachbar schüttelt den Kopf. „Das sind ja Zustände wie an meiner Schule. Mich wollen auch dauernd Eltern wegen einer Eins minus verklagen.“ Er zoomt das Foto wieder ran. „Wo ist denn überhaupt das Bett?“

„Hier“, sage ich. „Im Schrank.“

„Sexy.“

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„Neulich hätte ich mir beim Ausklappen fast das Schienbein gebrochen. Leider nur fast, ich war schon so weit, die restliche Nacht bevorzugt im Gipsraum verbringen zu wollen, als noch einmal angerufen zu werden.“

Er lacht. „Der romantische Eindruck, den man als Laie von der Medizin hat, stimmt nicht mit dem überein, was du erzählst.“

„Bist du wie der Lehrer aus Fack ju Göhte?“ „Muskulös, attraktiv und ehemaliger Gefängnisinsasse?“ Er lacht wieder. „Morgen ist Tag der offenen Tür, komm doch vorbei, dann zeige ich dir das Lehrerzimmer.“

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Am nächsten Tag führt er mich durch seine Schule. Das Lehrerzimmer ist riesig, hell und licht, und auf jedem der unzähligen Tische liegen zu kreativen Formationen zusammengeschobene Papierstapel. Es riecht nach Kaffee, in einer Ecke steht eine Gitarre, und an der Wand hängt „Les Demoiselles d’Avignon“, Picassos weltberühmtes kubistisches Gemälde. „Ja, ich weiß, bisschen Standard“, entschuldigt sich mein Nachbar.

„Du musst dich nicht entschuldigen. In Klinikfluren ist das Maximum der Gefühle die „Caféterrasse am Abend “ von Vincent van Gogh, dicht gefolgt von Monets Seerosen. Alles andere wäre zu subversiv.“ Ich seufze. „Das Zimmer ist wunderschön.“

„Ich mag es auch. Das Einzige, was wir uns von euch abschauen könnten, ist dieses Schild an der Tür.“

„Du meinst: AvD schläft?“

„Genau das. Du sagtest zwar, das sei überwiegend für die Reinigungskräfte gedacht, damit die nicht das Bett beziehen, während ihr noch drin liegt, aber wie genial wäre das? Lehrer vom Dienst schläft.“ Er grinst bis über beide Ohren.

„Aber ich schlafe ja nie!“ „Denkst du, hier spielt jemand Gitarre? Das Instrument wurde konfisziert, weil ein Schüler darin Gras geschmuggelt hat.“

„Und der Musiklehrer?“

„Ein Quereinsteiger. Kann nur Blockflöte.“

„Augen auf bei der Berufswahl.“ „Das sagt die Richtige.“ Er grinst. „Kaffee?“

„Gerne.“

Überraschend schmeckt dieser schlechter als auf Station, und fast ein wenig versöhnt fahre ich schließlich nach Hause.

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