Tischgespräch im Oktober 2023

Freitagabend. Perspektivwechsel: Ich sitze in der Kneipe und trinke etwas mit meiner Nachbarin. Meine Nachbarin ist Ärztin und hat ihren Doktor im Lotto gewonnen. Den Witz mache ich jedes Mal. Dafür belächelt sie meinen Stundenplan. Wir sind also quitt.

Tischgespräch. Kolumne von Eva Mirasol

Heute ist sie zu spät. Aber wer als Ärztin zu spät kommt, ist exkulpiert, denn alle denken, man käme von einem Notfall oder einem wichtigen Gespräch.

Vielleicht sind deshalb so viele unzufrieden mit der medizinischen Behandlung, weil man als Patient ständig den Vergleich mit Krankenhausserien zieht. Ich gestehe, auch ich habe geschluckt, als sich nach meiner Hoden-OP weder ein schöner Arzt noch eine attraktive Ärztin empathisch an mein Bett gesetzt und mich nach meiner Familiengeschichte gefragt hat – auch ich hatte George Clooney unter Arztkontaktt bgespeichert und nicht damit gerechnet, dass da eine Visite von der Größe einer Fußballmannschaft und mit der Laune der Brasilianer nach dem 1:7 an mir vorbei defiliert und die Ersatzbank mit 30 Studierenden auch noch einmal meinen Hoden anfassen würde.

„So fühlt sich eine postoperative Hydrozele an. Darf der Nachwuchs mal tasten?“

„Natürlich.“

Da kann der Chef noch so oft betonen, das Ganze sei freiwillig, kein Mensch bei klarem Verstand schlägt dem Operateur einen Gefallen ab.

Mein Vater lag neulich im Krankenhaus, die Vorstufe eines Schlaganfalls, eine Art Ermahnung, bevor der Tadel kommt. Im Süden Deutschlands sagt man zu Tadel „Verweis“, und als mich mein Seminarlehrer darauf hinwies, war ich ob der Geschmeidigkeit der deutschen Sprache geradezu gerührt – ich muss sagen, ich liebe meinen Beruf. Bei meiner Nachbarin ist es komplexer, sie liebt und hadert zugleich, wer kann es ihr verdenken? Lieferengpässe, Fachkräftemangel, Überlastung des Notfallsektors, ambulante Termindramen …

Und die Politik agiert dabei überraschend selbstbewusst, ähnlich wie die Medizin, aber das muss wohl so sein, ich will als Patient ja auch nicht das Gefühl haben, dass die Großen am Ende ihres Lateins sind. So habe ich mir Ärzte früher immer vorgestellt, damals noch rein maskulin, mit kleinem Latinum und Krawatte. Bis ich selbst das große Latinum hatte und das Graecum. Da verraten sich die Unwissenden, denn es gibt nur ein Graecum, und wer nachfragt, ob das kleine oder das große, hat verloren, das ist wie die Frage „Welches denn?“, wenn der neue Flirt von seiner Liebe zu Beethovens Violinkonzert erzählt, und man nicht weiß, dass der nur eines geschrieben hat. Ist aber auch antiintuitiv, tausend Symphonien und nur ein Violinkonzert – vielleicht hatte Beethoven Humor? Ich schweife ab.

Immer auf dem Laufenden bleiben. Melden Sie sich hier für unseren Newsletter an.

Vielleicht sind es die Momente, in denen ärztliches Wissen an seine Grenzen gelangt. Momente, in denen besser jemand Regie führt, der um das menschliche Bedürfnis nach freundlicher Kommunikation weiß und der in der Soap den Hauptdarsteller:innen die Rehaugen rauskitzelt. Mein Vater jedenfalls lag neulich ein paar Tage auf der Neurologie und war irritiert, dass ständig jemand reinkam und immer wieder dieselben Untersuchungen durchführte. Mitten in der Nacht baten sie ihn, sich an die Nase zu fassen und eine virtuelle Glühbirne einzuschrauben. Dabei aber immer freundlich „Entschuldigen Sie die späte Störung …“

„Das wurde schon gemacht“, wehrte er sich anfänglich noch, aber keine Chance: „Ich weiß“, sagten sie, „aber noch nicht heute Nacht.“

Vielleicht waren es auch Studierende, die üben wollten, aber die dürfen laut meiner Nachbarin zu Hause schlafen. Nur so gewährleistet man überhaupt die Sicherstellung der Studienabschlüsse. Keine Ahnung, warum das nicht durchdringt, aber meine Nachbarin behauptet, sie hätte nicht gewusst, dass es 24-Stunden-Dienste gibt, die als Bereitschaft bezahlt werden, obwohl man die Nacht durcharbeitet und auch nicht, dass viele Chefärzte unverändert glauben, Mobbing fördere die Resilienz der ihnen anvertrauten Assistent:innen.

Sie vermutet, Kafka habe ihre Klinik gebaut: Echoanforderung per Fax, Röntgen per Mail, CT per SAP, Lungenfunktion per Anruf, EKG mit Rohrpost und PET-CT nur nach persönlicher Vorsprache. Was sie eigentlich den ganzen Tag mache, wurde sie wohl einmal von einem ungehaltenen Patienten gefragt, denn Visite bei ihm könne es ja nicht sein.

„Ich sitze im Arztzimmer und telefoniere“, hatte sie geantwortet.

„Immerhin lackieren Sie sich nicht Ihre Fingernägel, das war mein Verdacht.“

„I wo“, hatte sie gekontert. „Das macht das Rea-Team.“

Ich mag ihren Hang zur Dramatik. Ach, da kommt sie ja. Mal sehen, wie der letzte Dienst war.

Hat Ihnen dieser Artikel gefallen?

Wir freuen uns über Ihr Feedback!

Ja
Nein

Vielen Dank!

Zur Ärztekammer Berlin